Brühl gegen Zietenaugustusburger: Das Duell der Szenestraßen
Brühl gegen Zietenaugustusburger: Das Duell der Szenestraßen

Brühl gegen Zietenaugustusburger: Das Duell der Szenestraßen

Wenn in Artikeln angesehener Zeitungen und in feinfühlig recherchierten Radioreportagen über Chemnitz als kommende Kulturhypestadt fantasiert wird, spielt sich das zart angedeutete neue Großstadtglück meistens nur an zwei Orten ab: Auf dem Brühl oder auf der Zietenaugustusburgerstraße. Bevor Chemnitz also von der Boomer- zur Boomtown wird, sollte man sich noch schnell günstige Immobilien auf beiden Szenestraßen sichern, doch leider kann sich das nicht jeder leisten. Eventuell muss man sich also für einen der beiden Kieze entscheiden, und das ist nicht ganz einfach: Die eine Straße ist so steil und anstrengend wie das hohe Niveau ihrer Subkulturprojekte, die andere ist so flach und niedrigschwellig wie ihre freundlichen Feste für die ganze Familie, und auf beiden Szenestraßen kann man sich sehr gut betrinken. Um euch die Entscheidung zu erleichtern und um mal wieder ein bisschen Beef zu schüren, haben wir als kritische Kriterien-Prüfer beide Hype-Hotspots auf wichtige Chemnitzfaktoren wie Vorherrschaft, Akteursdichte, dichte Akteure und Maskottchen gecheckt.

Vorherrschaft: Beide Szenestraßen sind in der Hand von berüchtigten Chemnitz-Clans. Die Zietenaugustusburgerstraße wird offiziell von Sonnenbergkönig Lars XIV. und seinem ihm treu ergebenen Hofstaat regiert. Hier knickst man noch höflich, wenn Lars XIV. bei der höfischen „Hang zur Kultur“-Parade Richtung Späti stolziert, hier erhielt er bei der OB-Wahl 100 % aller Wählerstimmen, hier weht eine Aura der Autorität durch seine fürstliche Frisur.
Auf dem Brühl hingegen traut sich niemand so richtig, öffentlich über die brutale Brühl-Vorherrschaft zu reden – aus Angst, nachts die Fassade gestaltet zu bekommen. Es sind die Streetart-Revoluzzer von „Rebel Art“, die den Brühl seit Jahren fest im Ästhetik-Griff haben. In stiller Allianz mit den bunten Straßenkreide- und Treppeninterventionen der Buntmacher*innen versuchen sie, gnadenlose Fröhlichkeit und Farbe über unsere traditionell melancholisch-graue Stadt zu bringen. 
Fazit: Die Rebel-Art-Fassaden werden auch nach dem zehnten Spumoni nicht schöner, die sächsische Sehnsucht zurück in die glanzvollen Zeiten einer strengen Monarchie hingegen wird mit jedem Versagen von Kretsche größer. Dieser Punkt geht also an die Zietenaugustusburgerstraße. 

Akteursdichte: Während der Brühl im Prinzip nur eine verkehrsberuhigte Einkaufszone ist, die sich für einen Boulevard hält, glänzt die prächtige Zietenaugustusburgerstraße als eine Art Champs-Élysées der Subkultur. Einem uralten Urban Myth zufolge wurde hier 2016 die Kulturhauptstadt gezeugt. Auf der Zietenaugustusburgerstraße passiert alles, was subversiv, intellektuell anspruchsvoll, gegen die Stadt und doch von ihr gefördert ist und nicht mehr als 30 Leute interessiert, am Brühl wird eher Lifestyle konsumiert. Hier haben sich vor allem KRACH-Akteure niedergelassen, aber das ist ja von der städtischen Wirtschaftsförderung und deshalb nicht so fies benachteiligt wie das Wirken der Subkultur-Märtyrer vom Sonnenberg.
Fazit: Niemand kann so gut gegen die Stadtverwaltung stänkern wie die Sonnenbergakteure. Auch dieser Punkt geht, wir können es nicht glauben, an die Zietenaugustusburgerstraße, die aktuell 2:0 vorne liegt. 

Straßenfeste: Mit rauschenden Festen locken beide Szene-Straßen jedes Jahr Menschenströme aus entlegeneren Stadtteilen wie dem Kaßberg oder Bernsdorf an, wo man derartige Feste nur vom Lärmbeschwerden-Einreichen kennt. Auf der Zietenaugustusburgerstraßer finden regelmäßig Wahlkampfveranstaltungen von Lars XIV. statt, zuletzt der „Hang zur Kultur“. Außerdem gibt es ständig Dialogfelder-Vernissagen, Späti-Eröffnungen, Performances, Lesungen und das Sommerfest der Stars vom Kreativen Chemnitz. Allerdings wird sich hier nicht einfach so betrunken, sondern immer auch ein bisschen zu narrativ ins Glas geschaut und nebenbei die „posturbane Position von performativer Kunst im spätkapitalistischen Kontext des öffentlichen Raumes“ diskutiert, Thomas Bernhard zitiert oder bei wilder Experimental-Musik der Sinn des Lebens reflektiert. Auf dem Brühl ist von April bis Oktober gefühlt jedes zweite Wochenende Musik-, Kulturhauptstadt- oder einfach nur Betrinkmeile, aber eher so gutbürgerlich mit Hüpfburgen und Waffeln, mit Luftballons und Lärmbeschwerden, ein entspanntes, niedrigschwelliges Sehen- und Gesehenwerden.
Fazit: Sehen lassen muss man sich auf beiden Szenestraßen, aber auf dem Brühl reicht es  dabei einfach nur gut auszusehen. Das ist zwar auch anstrengend, aber nicht so anstrengend wie die intellektuelle Subkultur-Pose auf dem Sonnenberg, deshalb geht dieser Punkt an den Brühl.

Maskottchen: Der Brühl hat den Brühl-Bro, einen Basketball spielenden, Goldketten behängten Braunbär, der die Sprache der Jugend spricht, sich aber mal ein bisschen intensiver mit kultureller Aneignung auseinandersetzen könnte. Die Zietenaugustusburgerstraße hat Steini, das unscheinbare Maskottchen der Steinhaus-Passage, wobei deren wahres Maskottchen — wir wissen es alle – der übergriffige GGG-Penis ist, der in toxisch-maskulinem Giftgrün hellgrell über der Zietenaugustusburgerstraße strahlt.
Fazit: Der Brühl-Bro ist zwar cringe af, hat aber wenigstens keinen aufdringlichen Phallus-Komplex und somit als MVP (Most Valuable Plüschfigur) des Brühls gerade einen extrem wichtigen Punkt für seine Hood gescored, es steht 2:2. 

Gentrifizierungsgrad: Auf der Zietenaugustusburgerstraße lebt man in lässig sanierten Wohnungen mit unverputzten Wänden und Kachelöfen und zelebriert eine gewisse heruntergekommene Ost-Romantik, alles fühlt sich wild und frei an wie in den Neunzigern kurz nach der Wende, inklusive der Nazis, die am Tesla vorbei fahren und „Scheiß Zecken“ brüllen. Der Brühl ist mittlerweile eine Art Kaßberg für Leute, die lieber im flachen Zentrum wohnen wollen, weil sie der mühsame Kaßbergaufstieg zu sehr anstrengt: Chemnitz’ einziger Boulevard ist fast vollkommen durchsaniert, selbst der legendär abgeranzte Edeka wurde schick vom Dosen- zum Craftbier-Kiosk gentrifiziert, der Freiraum ist wenig und der Wohnraum ziemlich teuer geworden. Das kann der Zietenaugustusburgerstraße früher oder später natürlich auch passieren, trotzdem geht dieser Punkt auf den Sonnenberg, es steht 3:2.  

Belebung: In den fiebrigen Großstadtfantasien ihrer Einwohner:innen und in den Erzählungen mancher Zeitungsartikel sind beide Szenestraßen mindestens das neue Berlin-Mitte, auf jeden Fall aber fast wie in einer richtigen Stadt. Doch die möglicherweise etwas schmerzhafte Wahrheit ist: Auch der Brühl und die Zietenaugustusburgerstraße sind am Ende nur ganz normal belebte Straßen in Chemnitz, so leer und lärmbeschwert wie alle anderen auch. Außer an warmen Sommerabenden; dann pulsiert die Ecke hinten am Brühl und auch die Lokomov-Tesla-Achse lebt zumindest bei Veranstaltungen ihr bestes Life. Trotzdem erkennen wir einen leichten Vorteil für den Brühl, der durch Geschäfte wie den Schnürsenkelshop einfach mehr Laufkundschaft hat, es steht 3:3. 

Kneipen-Kultur: Beide Szenestraßen gelten nach der Zenti-Uhr und dem Stadthallenparkbrunnenals als zwei der wichtigsten, vielleicht sogar einzigen Corner-Paradise in ganz Chemnitz. In einem coronafreien Leben betrinkt man sich auf der Zietenaugustusburgerstraße zunächst langsam im Lokomov, gönnt sich dann den einen oder anderen Mexikaner im Tesla, verschwindet für zwei bis fünf Stunden im Zietentreff und landet irgendwann wieder im Tesla. Auf dem Brühl setzt man sich einfach ins Balboa und versackt dort, lästert ein bisschen über die CAB und fragt sich, in welche Richtung ein Abend in der Einbahnstraße wohl führen würde.
Fazit: Punkt für beide, weil wir Kultur, Bars und das Nachtleben vermissen, 4:4.  

Food: Die Zietenaugustusburgerstraße hat das Augusto, das ist das langsamste Lokal in ganz Chemnitz, ein koreanisches Restaurant, das nie eröffnet hat, und im Projekthaus Jay-Z entsteht gerade ein Generationencafé namens „Diner Mutter“, aber der Name ist leider grenzwertig. Falls man gar nichts zu essen findet, kann man frische Zucchini im Zietenaugust ernten oder sich im naheliegenden Netto eine Packung Kippen holen. Der Brühl hat das Dreamers, dort gibt es „Wholefood“, das auch ein bisschen „Holefood“ ist, weil man danach ein Loch im Geldbeutel hat. Der Fleischladen sieht sehr schön aus, aber auch hier zahlt man für Chemnitz untypische Edel-Preise, über die man sogar in München den Geldschein runzeln und den Schickeria-Vorwurf zücken würde. Doch zum Glück gibt es noch „Georgische Bistro“, das bietet bestes „Half-Food“: günstig, geil, ungesund und sehr, sehr fettig. Dieser Punkt geht an den Brühl, 5:4.

Streetcred: Spätestens seitdem der Brühl-Bro dort hingezogen ist, steht es um die Streetcred des Brühls nicht mehr gut, auch wenn der Brühl-Bro selbst natürlich das Gegenteil behaupten würde. Der Brühl ist sauber und familienfreundlich, im Frühling tummeln sich hier tausende Travelgrammer:innen unter den hübschen Kirschbaumblüten und das Einzige, das hier noch Rebellion schreit, ist das „Rebel“ im  Name von Rebel Art. Die Zietenaugustusburgerstraße lebt vom Problemviertel-Mythos des Sonnenbergs, vom Dreckigen, Gefährlichen, von den Geschichten, die man erzählt – über die lauten Knalle, die man hört, wenn es wieder frisches Meth gibt, zum Beispiel. Die Grenzen zwischen Myth und Meth sind hier schmal, und das ist eigentlich ziemlich traurig. Dieser Punkt kann trotzdem nicht an den Brühl gehen, es steht also 5:5

Symbolische Statussymbole: Auf beiden Szenestraßen gilt: Ohne eigenes Projekt oder Projekthaus ist man hier nichts. Wenn man das geregelt hat, zählen auf der Zietenstraße vor allem die Anzahl der internationalen Akteure, die man bei der Dialogfelder-Eröffnung herumführen kann, die Anzahl der im Zietentreff durchzechten Nächte und die Anzahl der Doppelten, die man braucht, um einen eleganten Totalabsturz auf dem Tesla-Parkett hinzulegen. Auch die Brühl-Prestige will gepflegt werden; hier zählen die Anzahl der gut abgehangenen Dry-aged Steaks, die man sich im Fleischladen leisten und die Anzahl der Rebel-Art-Kunstwerke, die man an seiner Hausfassade vorweisen kann, sowie das Ansehen der Leute, die man vorm Balboa kennt. Fazit: Statussymbole nerven nach wie vor, deshalb bekommen beide Straßen keinen Punkt, es steht 5:5, Endstand.

Endstand: Ihr ahnt es schon: beide Szenestraßen sind völlig langweilig und total überbewertet. Die richtig coolen Leute sichern sich jetzt ein Loft im Wirkbau und trinken ihren Kaffee beim „Bohnenmeister“: Dort wird Englisch gesprochen, dort kostet der Kaffee doppelt so viel wie im Dreamers, dort ist das echte Berlin Mitte, das wahre Leipzig West, das neue Chemnitz 2025.

2 Kommentare

  1. Kay

    Ist der Vergleich beider Stadtteile überhaupt einen Blog wert? Das eine ist die Bronx von Chemnitz wo es vom Steinhaus bis zum Überflieger müffig riecht und man seine Kinder lieber nicht spielen lassen möchte… Und das andere ist das „zu Hause“ wo letzendlich doch keiner wohnen will, weil es doch „nur“ der Brühl ist… Trotzdem 1:0 für´n Brühl, weil dort einige Häuser den Kraftklub Mitgliedern gehören, während auf dem Sonnenberg fast alles vom Amt bezahlt wird… Interessanter wäre ein Vergleich zwischen Reitbahnstraße und Leipziger-/Ecke Hartmannstraße… Subkultur entsteht in besetzten/selbstverwaltenden Häusern und nicht in heruntergekommenen Hartz4-Schimmelbuden mit ner 30iger Zone, bzw. Reko-Hütten, die da stehen wo doch keiner lang läuft…
    Noch nichtmal das Tesla hat es (vor Corona) geschafft, als richtiger Club wahrgenommen zu werden… Die Lassallestraße ist, trotz 15 jähriger Abstinenz immer noch mehr Clubszene als die Zietenstr. 2a

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