abgefakt: Die Chemnitz-Fresse 
abgefakt: Die Chemnitz-Fresse 

abgefakt: Die Chemnitz-Fresse 

Wenn man in einer Stadt mit mehr als 100 Einwohnern lebt, kann es passieren, dass man auf offener Straße manchmal anderen Menschen begegnet. In Chemnitz ist man mit solchen Situationen meistens direkt überfordert. Dann wird gemeckert, gehupt, ge“oaaaaar“t und sich beschwert. Dann zeigt sie sich von ihrer grimmigsten Seite: Die Chemnitz-Fresse, das schlecht gelaunteste Gesicht, seitdem es das Marx-Monument gibt. Wir haben sie für euch portraitiert und dabei gleich ganz schlechte Laune bekommen.

Das war: Der Mythos von der Arbeiterstadt, die Chemnitzer als pragmatische Macher und wortkarge Workaholics, die erst nach etwa drei Jahren Bekanntschaft ganz langsam auftauen. Aber weil Arbeit nervt, haben sich tiefe Furchen in die Chemnitzer Gesichter gegraben: Die Chemnitzer kommen an jede Supermarktkasse und machen Stress ohne Grund, sind ständig gelaunt, genervt und etwa so verschlossen wie der eiserne Vorhang, aufgeschlossene Ausnahmen sind entweder aus dem Westen zugezogen oder einfach ungewöhnlich jung (2-32 Jahre). Auch 150 Jahre nach der Industrialisierung hat Chemnitz immer noch den Biorhythmus einer alten Arbeiterin: Die Stadt ist zeitig wach, geht früh zu Bett und will dabei auf gar keinen Fall gestört werden. Es ist eben ihr Spirit, dieser Schlummer-Modus: Berlin hat Techno, Schlager und Kokstaxis, Leipzig hat die Sachsenbrücke, München den Weißwurst-Äquator, Chemnitz schläft einfach gern gut.


Das ist: Im Prinzip alles gar nicht so schlimm in Chemnitz. Klar, die Nazis nerven, der CFC ist peinlich, die Fernverkehrsanbindung schlecht und manchmal fühlt man sich in der Stadt wie in einer besseren Postillon-Meldung. Aber seit Januar haben mindestens drei neue instagrammable Locations eröffnet, in der Innenstadt sprießen reihenweise Bars mit unglaublich urbanen Namen wie „Bexstage“, „Ponytail“ und „Hangover“ aus dem Betonboden, man kann den „Bar Bachelor“ absolvieren und sich mit nur 16 Drinks zum Professor saufen, ja selbst für den Brühl gibt es wieder Hoffnung. Das Viadukt ist gerettet, der Lulatsch leuchtet, es gibt Kultur, Kinos und internationale Küchen und die Mieten sind immer noch so günstig wie nirgendwo. Trotzdem scheinen selbst die Menschen in Nordkorea bessere Laune zu haben als viele Chemnitzer, die sich wie menschgewordene Wütend-Emojis durch die Stadt bewegen. Beim schwierigen Balance-Akt zwischen chronischer Introversion und spontanem Wutausbruch entsteht die so genannte Chemnitz-Fresse, die einem täglich mehrfach auf der Straße, im Bus, beim Bäcker, manchmal auch im Spiegel begegnet.

Die Chemnitz-Fresse: Kleidet ihre schlechte Laune gern in Beige-Töne oder pragmatische Outdoor-Textilien und ist generell grundgereizt. Sitzt hinterm Steuer, biegt am liebsten rechts ab  (klar!) und gibt dabei extra nochmal Gas, wenn gerade Fußgänger auf der Straße sind. Sie sitzt besoffen und betroffen beim menschenüberfüllten Weinfest und sagt es wäre nichts los in der Stadt, gibt „den Flüchtlingen“ die Schuld am Schließen des FloPos und rastet einfach leidenschaftlich gerne aus. In anderen Städten feiern, in Chemnitz pöbeln die Menschen, beides hat was mit Exzess zu tun. Wenn im Bus jemand kurz im Weg steht, wenn irgendwas mal bisschen länger dauert, wenn der Lieblingsparkplatz schon besetzt ist, wenn Jugendliche jugendlich sind, wenn zu viel Schnee vor der Apotheke liegt, wenn der Fahrradfahrer zu weit drüben und das Auto vor einem bei Grün nicht sofort los fährt, wenn’s ein Problem an der Supermarkt-Kasse gibt, wenn die MRB nicht kommt, wenn der Ringbus ausfällt, wenn der Hund vom Nachbarn dumm guckt, wenn jemand ungefragt einfach so Spaß hat, dann verfinstert sich die Chemnitz-Fresse, dann wird gestöhnt, gepöbelt, geschimpft. Dann hat man Blutdruck in Chemnitz und Hals sowieso, nämlich `nen dicken. Vielleicht ist die Chemnitz-Fresse alt und verbittert, überarbeitet und unterbezahlt, hat schlecht geschlafen oder ein genetisch besonders dünnes Nervensystem, vielleicht kann sie gar nichts für ihre graue Laune. Vielleicht sie aber auch einfach nur Jammer-Ossi.

Der Jammer-Ossi: hatte ja nüscht, und denkt das immer noch, obwohl er dabei vorm Fuffzsch-Zoll Flatscreen sitzt. Der Jammer-Ossi ist von Sozialneid zerfressen, hat die postsozialistische Verbitterung oder Enttäuschung, oder was auch immer das ist, auch 30 Jahre nach der Wende noch nicht überwunden, fühlt sich als Opfer und solidarisiert sich ausschließlich mit sich selbst. Dabei geht es Sachsen wirtschaftlich prächtig, die Arbeitslosenquote liegt bei mickrigen 5,6 Prozent (6,8 % in Chemnitz), und die Stadt Chemnitz hat mehr Kohle als die RWE.

Was eine Stadt mit dem Gehirn macht: Letztes Jahr gab es im Tagesspiegel einen Artikel darüber, wie Berlin das Gehirn verändert. Nämlich nicht unbedingt immer positiv, höhö. Kurze Zusammenfassung für alle Lesefaulen: Berliner Hirne sind permanent reizüberflutet und großstadtgestresst und deshalb in ständiger Alarmbereitschaft. Doch während sich Großstädte immer schneller verändern, ist das menschliche Hirn quasi noch auf dem Steinzeitstand und kann das beschleunigte Metropolen-Leben eigentlich gar nicht handeln. Durch den Stress ist außerdem die Amygdala übererregt, genauso wie bei Menschen mit Depressionen und Angststörungen. Und weil wir alle noch Steinzeit-Hirnis sind, reagiert der Großstädter auf den Großstadtstress mit aggressivem Verhalten, sozusagen ein abgewandelter Fluchtreflex. Die für uns natürlich wenig überraschende Erkenntnis: Berlin lässt das Hirn schrumpfen. Berlin kann abstumpfen und misstrauisch machen, und während die Kölner in der U-Bahn auch mal mit völlig Fremden plaudern, schweigen die Berliner lieber individuell vor sich hin. In anderen Großstädten geht es noch um das Kollektiv, in Berlin um den Einzelnen, was mitunter zu einer Isolation führen kann, die auf Dauer krank macht. Als „Eigenlogik der Städte“ beschreibt das eine Soziologin: Städte prägen das Verhalten ihrer Einwohner, und zwar langfristig, manchmal sogar über Jahrhunderte hinweg.

Die Eigenlogik von Chemnitz: Aggressives Verhalten und eigenbrötlerisches Schweigen in den Öffis kann Chemnitz fast noch besser als Berlin, obwohl Chemnitz von Reizüberflutung ungefähr so weit weg ist wie der CFC vom FC Barzelona. Eigentlich müssten die Chemnitzer tiefenentspannt am Fluss flanieren, sonnigen Gemütes am Schlossi wandeln, strahlend im Stadthallenpark saufen, mit wohlerholten Hirnen und munteren Mundwinkeln. Auch das Berlin-Problem „einsam unter vielen Menschen“ kennt Chemnitz nicht – im Gegenteil, hier ist man eher „gemeinsam unter wenig Menschen“, ein geheimer Vorteil der Stadt. Vielleicht ist die Chemnitzer Fresse nur eine Überkompensation der fehlenden Reizüberflutung, und das Chemnitz-Hirn ist von der bedrohlichen Ruhe so gestresst, dass es ein ähnliches Verhalten wie das Berlin-Hirn entwickelt hat. Damit wäre Chemnitz endlich wie Berlin, nur eben ohne. Vielleicht sind es aber auch nur langweilige sozio-historische Gründe, siehe Arbeiterstadt, siehe Jammer-Ossi.

Was Chemnitz mit dem Gehirn macht: Irgendwann wird man selbst ein bisschen zur Chemnitz-Fresse. Man hasst instinktiv alle Menschen, die mehr Spaß haben als man selbst, man schüttelt den Kopf über Kackmusik aus Handylautsprechern, man zuckt zusammen, wenn Leute laut lachen und man erschrickt, wenn man auf freundliche, aufgeschlossene Chemnitzer trifft (die es durchaus gibt). Man wird nervös, wenn man den gesamten Gehweg nicht für sich alleine hat, hält die grimmige Marx-Mine für ein freundliches Lächeln, pöbelt gegen Autofahrer und setzt öfter mal innerlich zu einem genervten „Oooaaaar“ an. Man schreibt einen Blog-Artikel, in dem man sich darüber aufregt, dass sich der Chemnitzer ständig aufregt und hat das Next-Level an Chemnitzness erreicht. Dann muss man sich schnell wieder fangen und zur Abwechslung mal was Konstruktives schreiben.

Das könnte sein: 
Chemnitz bekommt seine Work-Life-Balance in den Griff, überlässt das Grimmigsein Grimmigschau und wird zum Köln des Ostens, von der Fascho- zur Faschingshochburg. Während einer sechsmonatigen, von Miko Runkel initiierten Karnevalssaison, spielt sich das Leben auf den Chemnitzer Straßen ab: Überall wird laut gelacht, getanzt und gesoffen, und zwar gemeinsam. Menschen haben unkontrolliert Spaß in der Innenstadt, Luftschlangen, Konfetti und unangemessene Witze fliegen durch die Luft, schließlich sind wir immer noch in Sachsen. Im Sommer muss sich die Stadt dann ein bisschen von sich selbst erholen, aber im Sommer ist es hier ohnehin viel erträglicher.

Das wird leider nichts mehr:
Chemnitz bekommt seine Work-Life-Balance in den Griff, überlässt das Grimmigsein Grimmigschau und wird zum Italien des Ostens. Das Leben verlagert sich nach draußen, man macht mittags drei Stunden Pause, trifft sich in lauen Sommernächten zum Plaudern und Schnapstrinken an der Zenti und früh auf einen Exspresso in einer der vielen kleinen Bars, bis Olivenbäume im Stadthallenpark wachsen und Mikocchini Runkello ein Aperol-Verbot in der Innenstadt verhängt. Der generelle Lautstärkepegel der Stadt steigt um 60 Prozent, das soziale Leben verschiebt sich in die Nacht und alle gewöhnen sich daran.

Ein Kommentar

  1. Eine Stadt mit mehr als 100 Einwohner? Kinnorschs, wir haben viel mehr. Schon ganz alleine die hier schlafenden Beamten könnten das Stadion ein halbes Dutzend mal füllen. Nicht das in Reichenhain. Das ist noch kaputt. Wir hätten ja noch ein niegelnagel neues Stadion an der Gellertwiese, historisch betrachtet, jetzt aber namenlos. Da haben wir nun aber das Problem das dort Nazitrauerfeiern abgehalten werden. Es ist klar. Der Chef-Nazi ist an Krebs gestorben. Tut einem Leid. Wirklich. Erst wurde die Huldigung abgesegnet und später wollte man davon nichts mehr wissen. Der Rechtsstaat wäre gefordert gewesen. Aber der ist auf dem rechten Auge schon immer blind und hangelt sich von Kommission zu Kommission und verkündet dann die Ergebnisse: Es wurde noch keine Lösung gefunden. Auf jeden Fall fällt die Gellertwiese da nun auch schon mal weg. Die Idee wäre ja: Ein neues Stadion? Klar doch. Da wäre dann noch das logistische Problem zu klären. Wie soll man die schlafenden Beamten ungestört zum zählen ins noch nicht erbaute neue Stadion bringen? Die Chemnitz-Fresse verzieht sich weiter und denkt sich so seinen Teil.
    Aber wir haben Hoffnung. Jawohl: Hoffnung. Die Politik hat reagiert. Schnell, korrekt und zuverlässig. Ca. ein dreiviertel Jahr später. Aber immerhin. Die Ankündigung das wir in Chemnitz nun mindestens drei Trinkwasserbrunnen bekommen um den großen Durst aus dem vergangenen und langanhaltenden Sommer endlich stillen zu können, geht da schon fast unter als die Stadtoberen verkündeten: Stadtfest fällt ins Wasser. Nicht in das von den noch nicht aufgestellten Trinkwasserbrunnen oder unseren schönen und historischen und immer noch auf Reperatur wartenden Klapperbrunnen am noch bestehenden historischen Busbahnhof . . . Nee. Alles falsch gedacht. Die Stadt hat nach einem dreiviertel Jahr intensiven Nachdenkens den Schluß gezogen: Wegen des abscheulichen Mordes auserhalb des Stadtfestes 2018 und dem Platz machen für AfD und Co. kann man es nun nicht mehr verantworten überhaupt noch ein Stadtfest durchzuführen. Toll. Soll mal einer sagen unsere Orgelpfeifen mit fürstlichem Steuergeldergehalt denken nicht mit. Das ist Chemnitz. Chemnitz-Fresse hin, Chemnitz-Fresse her. Jetzt wird nach Berlin geguckt. Da hatten sie zum Weihnachtsmarkt einen Terroranschlag. Nicht nebenan. Nicht außerhalb. Nicht außerhalb der Öffnungszeiten. Nee, mitten drinnen. Die Scheiße hat durchs Land ein Ruck gehen lassen das selbst im Rheinland Chemnitz-Fressen zu sehen waren. Aber sie haben reagiert. Sie haben gesagt das sie Terroristen keine Chance geben die Oberhand zu gewinnen und der Weihnachtmarkt lief weiter. Trotzdem. Und genau deswegen. Mut. Mut für alle welche den Mut nicht aufbringen konnten. Die Chemnitz-Fresse verabschiedet sich nun vom immer kleiner werdenden Stadtfest, da wo die Standmieten so hoch geworden sind das der Mitteldeutsche Schaustellerverband jedes Jahr aufs neue sehr harte Verhandlungen mit der Stadt führen mußte und immer mehr Schausteller und Co. unserem Stadtfest fernblieben. Sponsoren sowieso. Wäre das Stadtfest noch fünf oder sechs Jahre weiter gegangen, wir hätten es als Familienfest missbrauchen können. Da hätten dann aber welche eine Fresse gezogen.
    Es wird alles besser werden. Wir haben dieses Jahr Wahlen in der Stadt und im Freistaat. Die Wahlprogramme sind unverändert. Nur die Jahreszahlen der letzten 30 Jahre wurden verändert. Die AfD soll 25 Prozent stemmen und alle werden auf die Fratzen mit dem Finger zeigen und jeder weiß das der andere dran Schuld ist. Zur Trauerfeier des Ex-Nazi-Chef wurde die Botschaft offen und klar vermittelt: Wir haben alles im Griff. Und das waren keine Chemnitz-Fressen.
    Unser Chemnitz ist schön. Wir haben eine kleine City mit viel freien Flächen, leeren Läden und Attraktionen die keiner findet. Die Innenstadtarchitektur ist so verblüffend das man es seinen Besuchern versucht vorzuenthalten. So wie die Alten es nun auch die Jungen schon tun. Was? Na unser Wahrzeichen spazieren tragen. Welches? Na unsere wunderschöne Gämnitzor-Fresse. Wir haben es uns verdient oder aufgebrummt bekommen? Ach was. Wen interessiert es heute noch?

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