Blinded by the traffic lights: Laut, lauter, Gehörsturz, Fußgängerampeln.
Blinded by the traffic lights: Laut, lauter, Gehörsturz, Fußgängerampeln.

Blinded by the traffic lights: Laut, lauter, Gehörsturz, Fußgängerampeln.

Dass man das Leben im „Tor zum Erzgebirge“ mit großstädtischer Kleingeistigkeit anstatt mit weltoffenen Armen empfängt, dürfte mittlerweile weit über die Stadtgrenzen von Chemnitz hinaus bekannt sein. Nicht nur das Atomino wurde von Lautstärke-Klagen einmal quer durchs Dorf gejagt, auch das Weltecho sieht sich mit ähnlichen Problemen konfrontiert, ja sogar Kraftklub, der Chemnitzer Export-Schlager schlechthin, drohte erst kürzlich den absoluten Super-GAU an: den Wegzug aus Chemnitz. Grund für die zusehend schwindenden Zukunftsperspektiven: die Stadt ist zu leise. Doch als wenn das alles noch nicht genug wäre, hat das urbane Biedermeiertum nun ein bisher nicht für möglich (oder doch?) gehaltenes Niveau erreicht. Denn jetzt ist ein neues Opfer in den Fokus des seit Jahren laufenden städtischen Lautstärke-Sanierungsplans gerückt: Fußgängerampeln.

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Wir müssen draußen bleiben: Ampeln sind die jüngsten Opfer der gnadenlosen Chemnitzer Lärm-Sanierungs-Politik.


Es sind die akustischen Ampelsignale für Blinde, die Anwohnern „nachts“ schlichtweg zu laut sind – deshalb hat die Stadt entschieden, das Signal von 21 bis 5 Uhr einfach mal abzuschalten. Natürlich tendiert die Chance, dass ein Blinder nachts in Chemnitz überfahren wird, mangels Verkehrsaufkommen gegen null, trotzdem hätte man den Chemnitzer Blindenverband von diesem Vorgehen ruhig auch mal in Kenntnis setzen können. Klingt wie ein Artikel des Postillons?  Ist aber eine tod- oder besser: schlafernste Angelegenheit.

Schlaf scheint in unserer Stadt eine wirklich unfassbar große Rolle zu spielen. Dieser „Zustand der äußeren Ruhe“ (Wikipedia) der per Definition dem Tod näher ist, als dem Leben, ist in Chemnitzer Bürgern offensichtlich eher verankert, als jedes Zeichen von Lebendigkeit. Die Hintergründe sind einleuchtend: Chemnitz war und ist eine Arbeiterstadt. Das erfüllt natürlich besonders das Rathaus mit mächtig Stolz. Wirtschaft ist schließlich das Nonplusultra der ersten Welt und wer hart und viel arbeitet, muss gut und viel schlafen. Jede Unterbrechung des Schlafs mindert die Produktivität – und die beginnt in Chemnitz, laut den neuen Ampel-Ruhezeiten, um fünf Uhr früh. Wer kommt schon auf die Idee, um diese Uhrzeit noch zu schlafen? Sonnenaufgang heißt Arbeitsbeginn, Sonnenuntergang heißt Schicht im Schacht. Auch für Ampeln.

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Ampeln am Abgrund.

Diesem „Chemnitzer Modell“ der Lebensplanung nach dem Prinzip Arbeiten und Sterben ist es geschuldet, dass sich die Stadt über Jahrzehnte hinweg eine erdrückende kulturelle (Fast-) Gesichtslosigkeit im wahrsten Sinne des Wortes erarbeitet hat. Um dem Trend entgegen zu wirken, versucht das Rathaus den Bürgern mit einem Überangebot an Einheitsbrei-Einkaufstempeln und Parkhäusern powered by Stadtinvestor und Kahle-Fassaden-Liebhaber Kellnberger tatsächlich so etwas wie Freizeitmöglichkeiten zu suggerieren.
Mal ehrlich. Was erwartet die Stadt Chemnitz von ihren Bürgen, betrachtet man ihre Taten? Wir sollen arbeiten, das eigens erwirtschaftete Geld in einen der „Hier kauft Sachsen“-Paläste pumpen, vorher unseren über Monate finanzierten Toyota Yaris in einem der hässlichen Parkmonster abstellen und nach 75 arbeitssamen und möglichst geräuschfreien „Lebens“jahren möglichst geräuschfrei abtreten. Da bleibt kein Platz für Abweichungen in der Arbeitsnorm, da fehlt der Ort für dieses unwirtschaftliche Ding, das sich Kultur, das sich Leben, meinetwegen auch spröde, weil auf Arbeit bezogen, FREIzeit schimpft und das dazu auch noch nach 21Uhr Lautstärke produziert. Und da ist erst recht kein Platz für nachts klickende Fußgängerampeln.

 

1378 – Chemnitz ohne Ampeln Damals war die Welt noch in Ordnung. Wie die Menschen bei dem Lärm der Pferdehufe auf Kopfsteinpflaster schlafen konnten, bleibt ein Rätsel.

Das Problem ist immer das Gleiche. Ob Atomino, Weltecho oder Fußgängerampel: die verquere Meinung Einzelner wird scheinbar nahezu bedingungslos vom Rathaus getragen und durchgesetzt. Am längeren Hebel sitzt natürlich derjenige, der Druck ausüben kann. Druck ausüben heißt, sich einen Anwalt leisten zu können und den für den gesunden Menschenverstand von vornherein abschreckenden Akt einer Klage auf sich zu nehmen. Wegziehen zum Wohle vieler kommt (siehe Weltecho) nicht in Frage. Lieber nimmt man einen monate- vielleicht sogar jahrelangen Rechtsstreit in Kauf. Hier spielt der übliche Kleinstadt-Lobbyismus genauso eine Rolle, wie die randerzgebirgische Sturheit, seine Meinung nicht zu ändern, eingetretene Wege ja nie zu verlassen. „Ich war ja zuerst hier“, hört und liest man immer wieder. Das ist ein Standpunkt, das ist Stolz, das ist die Chemnitzer Mentalität. Die Mentalität einer Stadt, die in weniger als 20 Jahren den höchsten Altersdurchschnitt in ganz Europa haben wird. Ignoranz und bürokratischer Unterstützung sei Dank. Wenn die Fußgängerampeln jetzt zwar leise, aber dann vielleicht zu hell zum Schlafen sind, dann werden – da bin ich mir sicher – ganze Kreuzungen verlegt.

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Bei Rot musst du Stehen, bei Grün darfst du Gehen.
Bei Signalton dich im Bett umdrehen.

Die Frage nach der Zukunft einer Stadt, die momentan in solch kleingeistiger, spießbürgerlicher Ignoranz erstickt, schwebt über allen Köpfen. Wie sieht Chemnitz in 20, 30 Jahren aus? Was passiert mit dieser Stadt, deren Einwohner Geld sammeln, um für Kindergärten Bobby-Cars mit Flüsterreifen zu kaufen, in der es aber selbst namhaften Kulturstätten wie dem Tietz an finanziellen Mitteln fehlt? Was kommt nach der Stilllegung der Innenstadt, wo bei jedem Volksfest Punkt 22:00 die ersten Lärmbeschwerden eingehen? Was passiert nach dem Abwandern der Kulturschaffenden, die unermüdlich versuchen Chemnitz auf kreative und leidenschaftliche Art und Weise Leben einzuhauchen und permanent gegen Mauern rennen? Wenn Schlaf der naheste Verwandte des Todes ist, dann sollte Chemnitz endlich aufwachen.

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3 Kommentare

  1. ë

    :'( nackt und eingerollt.
    (aber irgendwann müssen doch alle alten menschen (mit sonderbar guten ohren) ausgestorben sein, oder? und dann kann c vielleicht doch noch gerettet werden? – wir müssen einfach die herrschaft über c an uns reißen, die wichtigen stellen im stadtrat besetzen oder die wichtigen wohnungen neben dem weltecho oder atomino. oder wir richten einfach einen stadtteil ohne ampeln ein, mit schrebergaärten nebenan! und da können die dann alle hinziehen und früh um 5 aufstehen und abends um 8 ins bett gehen. und da verlagern wir dann auch die volksfeste hin (sowas wie das stadtfest mein ich damit) und edekas mit hoher kassenbesetzungsdichte und noch früheren öffnungszeiten! – und in der innenstadt, die dann eh viel zu weit weg ist, um sie zu infiltrieren und den gehörkapseln gespitzten auslauf zu geben, da falten wir dann unsere bunten ideen auf, die schon in unseren köpfen und in unzähligen ecken warten. und dann werden wir einfach das chemnitz, das wir sein könnten und alles wird ein bisschen gut.) #

  2. thiloleibelt

    tatzeit: 11:50, tatort: fußgängerampel am begin der reichenhainer str.
    drei generationen chemnitzerinnen (schulferien) müssen an besagtem objekt warten. nach kurzem moment des erkennens und gebetsmühlenartigen kopfschüttelns wird oben gezeigter hinweistext in blinder zerstörungswut einfach entfernt und auf die straße geworfen. erbitte umgehende neuinstallation.

  3. Das ist zu traurig, was man über Chemnitz so aus der Ferne liest.
    Ich weiß, warum ich als Exilchemnitzer die Stadt verlassen habe und selten zu Besuch komme. Die kompromisslose Einstellung mancher Stadtbewohner richtet die Stadt wirklich mal zu Grunde. „Ich war zuerst hier“ ist so treffend…

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