Das bevölkerungsschichten-übergreifende Phänomen der kollektiven Zwangs-Zelebrierung des Jahreswechsels im interdisziplinären Diskurs vor dem Hintergrund generations- und altersabhängigen Ausgehverhaltens.
Oder: A brief history of Böllern.
Das ist Silvester für Kinder:
Die Liebesbeziehung unseres_r Autors_Inninnen_s mit Silvester ist in etwa die: Bis zum Alter von fünf Jahren wurde Silvester regelmäßig verschlafen. Schließlich war um Acht Schicht im Schacht. Mit den zunehmenden kognitiven Fähigkeiten kam auch das Bewusstsein, dass sich am 31.12. gegen Mitternacht jeden Jahres irgendeine enorm große, fantastisch aufregende Sache abspielen muss. Mit sechs bis sieben durfte man dann vielleicht sogar bis 22 Uhr aufbleiben und so dem ganz großen Ding schonmal zum Greifen nahe kommen. Mit viel Glück wurde 21:30 Uhr zusammen mit Mama und Papa im Tiefschnee vorm Haus die ein oder andere Wunderkerze entzündet und vielleicht sogar mal „eine Biene hochgelassen“. Ab zehn geht dann alles plötzlich ganz schnell: Man hält inzwischen sogar bis 24 Uhr durch, zählt den Countdown mit runter, umarmt alle Familienmitglieder zum ersten Mal im Jahr – manche auch das letzte Mal im Jahr – und darf sogar am Neujahrs-Sekt nippen. Zehn Sekunden erwachsen fühlen. Der Countdown, nach dem es wieder ins Bett geht, ist allerdings wesentlich kürzer als der, den man vorher zum Jahreswechsel runter gezählt hat. Der nächste Morgen fühlte sich dafür wahnsinnig besonders an. Ein neues Jahr, ein neues Leben. Beim Neujahrsspaziergang zur Oma sah man stolz die Reste der Knaller auf dem Boden liegen, die man nachts zuvor selbst entzündet hatte. Das alles schien jetzt ewig weit weg zu sein. Der kindlichen Naivität sei Dank, kam es einem so vor, als hätte man statt sieben Stunden sieben Jahre geschlafen.
Das ist Silvester für Kleinstadt-Teenies:
Drei Jahre später ging es dann schon richtig rund: das erste Mal allein mit den drei besten Kumpel_Innen unterwegs, das erste Mal ohne Aufsicht böllern, das erste Mal besoffen. Wenn man in einer Kleinstadt aufwächst, sind gute Partys bekanntlich so rar wie qualifizierte Kommentare unter re:marx-Artikeln. Wobei, so eine 8000 Seelen(losen)-Gemeinde bietet da als Licht am Ende des Tunnels aus Langeweile, Fremdenfeindlichkeit und Tankstellen-Assis immerhin noch Silvester. Da wurde man zwar immer noch mit Fremdenfeindlichkeit und Tankstellen-Assis konfrontiert, konnte aber nebenbei noch böllern, was die Sache damals etwas erträglicher gemacht hat.
– KAWUMM! –
So zieht sich das Prozedere bis 18 hin. Die Höhepunkte sahen in der Zwischenzeit so aus: mit 15 bringt der beste Kumpel die extra lauten Böller aus Tschechien mit, mit 16 kann man paar Knaller sogar schon aus der Hand zünden und mit 17 braucht man keine leeren Flaschen mehr, um Raketen zu starten, weil man selber eine ist. Irgendeiner macht als erstes den Führerschein und darf fortan die jährliche Böllerbeschaffung einen Tag vor Silvester übernehmen. Diese Nächte waren damals so heilig wie heute provinziell. Aber man hatte keine Wahl, denn Silvester war eine der seltenen Gelegenheiten, wo aus kleinen Feiglingen mithilfe von kleinen Feiglingen zumindest etwas kleinere Feiglinge werden konnten, sodass sogar der ein oder andere Briefkasten von verhassten Lehrern dran glauben durfte. Die Revolution mit Heimkomm-Zeiten quasi. Der kleine Feigenschnaps gehörte dabei ebenso zum Silvester-Survival-Kit wie mehrere Magazine von „Klopfern“, die, wie die bunten Etiketten vermuten lassen, extra für Kinder, zwangsbespaßte Karnevals-Vereine voller verklemmter Hausfrauen und Junggesellinnenabschiede mit ebenso verklemmten, aber bald verheirateten Hausfrauen hergestellt werden. Party hard.
Die Chronologie des Silve-Suffs: Alkohol-Chart für Silvesternächte. Klopfer + Feigling (12-15), Moscato (15-17), Ste-Bu Export (17-20), Goldkrone (20-24), Peffi (24-27), Wein aus Gläsern (27 – ???). Nicht abgebildet: Mon Cherie (60+).
Das ist Silvester für angehende Akademiker (oder so ähnlich):
Dann der große Knall: Abi, Studium, andere Stadt, andere Getränke. Silvester besteht nun aus intellektuellen Suff-Gesprächen beim WG-Party-Marathon, die dem Mischkonsum seltsamer, unbekannter Getränke geschuldet sind, die man außerhalb von Großstädten nie anrühren würde. Was der Tankstellen-Assi nicht kennt, trinkt er nicht. Dem intellektuellen und alkoholischen Über-den-Tellerrand-Gucken folgte nicht selten das Über-den-Porzellanrand-Spucken. Gerade Wohnheimtoiletten sind an Silvester öfter im Einsatz als Polizei und Feuerwehr zusammen, die an diesem Abend dank des Chemnitzer Neujahrs-Klassikers „Silvester aufm Parkdeck an der Reichenhainer“ allerdings auch jedes Jahr gut beschäftigt sind. Zwischen der Wohnheim-Feierei findet noch das übliche Pendeln zwischen Weltecho und einem X-beliebigen Chemnitzer Club statt, das ohnehin das ganze Jahr die Wochenenden von der Woche trennt. Der einzige Unterschied: die Kerle sind alle zwei Stunden früher und die Weiber überhaupt mal besoffen. Irgendwann wagt man sich dann auch an größere Unternehmungen: Ausflüge in die nächst größeren Städte Dresden oder Leipzig stehen an. Vorteil: Endlich im Zug saufen, ohne dass einen der Schaffner zusammen scheißt.
Sehr prophetisch: Sogenanntes „Braunes Dresden“. Bereits im Jahr 2008 wurde dieses PEGIDA-farbene Getränk in Dresden, für Dresden und auf Dresden kreiert. Ohne Scheiß.
Auf die Mischung kommt´s an: Wenn man von allem das Schlimmste nimmt, kommt am Ende eben braune Pampe raus. Die Pop-Linke hat gesprochen. Auch hier gilt allemal mehr das silveströse Motto: Hauptsache ´s knallt.
Die Jahreswechsel-Trips führen bis hin zum Böller-Fallout: Silvester in Berlin mit 100.000 Vollidioten unter denen die fremdenfeindlichen wenigstens nicht so auffallen wie damals in der Heimat. Da wird die sommerliche Fan-Meile zur winterlichen BÄM-Meile. Dieses Foto wurde übrigens mit dem damals gängigen Flaschenöffner Nokia 3210 geschossen.
WG-Party – Silvester-Großstadt-Ausflug – Wohnheim – Stammclub. Diese Stationen klappert man bis ca. 24 jedes Jahr ab. Dann kommt sie zum ersten Mal auf, die größte Frage der Menschheit, viel schwerer zu beantworten, als die nach dem Sinn des Lebens: Wohin zum Jahreswechsel? Langsam aber stetig verblasst der infantile Zauber von leuchtenden Silvesterraketen und die süffisante Magie der „besten Party unseres Lebens“. Man probiert sich noch ein bisschen durch die Alternativen, um nicht ganz zu resignieren, aber eigentlich weiß man: die letzte Rakete ist verglüht, die letzte Wunderkerze abgebrannt, das letzte Blei gegossen.
Der Jahreswechsel hat im persönlichen Feierkalender irgendwie immer einen besonderen, wenn auch zunehmend fragwürdigeren Platz und wird wie kein anderes Ereignis von unterschiedlichen Generationen unterschiedlich wahrgenommen, wie diese eindrucksvolle Grafik beweist.
Das ist Silvester für Endzwanziger:
Der Feier-Drops ist gelutscht und der einem über Dekaden zur Seite gestandene Begleiter am Ausgeh-Firmament erlischt so glanzlos wie es Wetten Dass? jüngst tat. Jetzt gilt es, das Beste draus zu machen. Für den Rest des Lebens quasi. Denn aus dem Kalender streichen kann man Silvester nicht und bevor man Gefahr läuft, jedes Jahr am 31.12. spontan auf halbgare Notlösungen zurückzugreifen, um überhaupt was zu machen, muss eine auf Langfristigkeit angelegte Alternative her. Doch da sieht´s eher mau aus. Anfang Dezember trudeln die ersten paar Einladungen über Facebook ein, die sich ungefähr in folgende Varianten unterteilen:
Variante 1: Der ewig Gestrige
Der alte Kumpel will mit alten Kumpels in der alten Heimat auf die alte, beschränkte Art und Weise feiern. Sprich: sich auf offener Straße besaufen und die Hände bei der alljährlichen Raketenschlacht auf dem Stadtmarkt gleichzeitig abfrieren und verbrennen. #killvester
Variante 2: Der halb-ewig Gestrige
Zum dritten Mal Silvester im Wecho, zum sechsten Mal Wohnheim. Oh – neuer Club in Chemnitz? Da geht’s dieses Jahr hin! Gleiche Party, gleicher Suff, andere Tapete. #refillvester
Variante 3: Das ewige Party-Tier
Diesmal nicht Berlin. Nicht zum vierten Mal in Folge. Das wäre ja langweilig. Diesmal Hamburg. Oder Köln. Gleiche Party, gleicher Suff, anderer Akzent.
#thrillvester
Variante 4: Die ewigen Langweiler
Eine Gruppe im Grunde seltsamer Menschen, mehr Bekannte als Freunde, hat folgende Highlights zu bieten: Mit Luftschlangen dekorierte Pappteller für Kartoffelsalat und Würstchen. Bleigießen, Partyspiele, Tischfeuerwerk. Enough said.
#nothrillvester
Variante 5: Der Exot
„Komm doch einfach mit mir, dem Inder, den ich in Cork/Irland kennengelernt hab, meiner japanisch-mexikanischen Freundin und diesem total abgefahrenen Model für homoerotische Nacktszenen aus New York nach Kamtschatka. Wir fliegen am 29.12. von Teneriffa aus.“ Genau.
#whopaysthebill?…vester
Variante 6, die zugegeben immer attraktiver wird: Der Sesshafte.
Hier wird vorgeschlagen, die Feiertage in einer abgelegenen Hütte weit weg von jeglicher Zivilisation im kleinen, elitären Kreis ausgewählter Freunde zu verbringen.
#chillvester
Das wird Silvester nie sein:
Ein halbwegs unkommentiertes und unzelebriertes Fest ohne viel Klimm-Bimm. Wie etwa Fronleichnam, der Buß-und Bettag oder Allerheilgen. Nur dezent am Rande wahrgenommen. Unmöglich, dass Silvester etwas anderes sein kann, als es ist. Für die 5-12-Jährigen ist es ein kleines Highlight, hell, laut, mystisch und das ist auch gut. Für die 13-23-Jährigen ist Silvester der Garant für zehn Jahre Vollsuff am 31.12 und nen Mörder-Kater am 01.01. und das ist auch irgendwie gut. Für die Endzwanziger wird Silvester zunehmend zum luftleeren Raum, den man unbedingt füllen will. Am Ende meistens mit heißer Luft.
Das wird’s wohl dieses Jahr werden:
Forever Alone – Silvester vor der Glotze. Endlich mal den Vorsatz umsetzen, den man sich für jedes Silvester aufs Neue vornimmt: „Ich glaub, ich mach einfach mal nischt.“ – „Ja ich auch, das wär wirklich ’s Beste.“ Oft gehört, nie erlebt. Jeden zieht‘s am Ende doch irgendwohin, nur um irgendwo zu sein, Hauptsache nicht #alleinzuhaus. Aber warum? Aus Angst, was zu verpassen, wo doch die letzten Jahre schon gezeigt haben, dass Silvesterfeiern die Brettspiele unter den Partys sind? Angst vorm Alleinsein, weil an diesem Tag ja jeder irgendwie mit jemandem rumhängt und feiert, obwohl der Großteil vielleicht wirklich lieber allein wäre? Oder doch, weil das Fernsehprogramm an Silvester so unsagbar grottig ist, dass es einen förmlich ungewollt auf die Straße oder in fernseherlose WGs treibt. Was auch immer der Grund ist, die Single-Silvester-Variante entspricht vermutlich am ehesten dem in vielen Artikeln allgegenwärtigen re:marx-Selbstbild: Wir boykottieren konsequent alle Silvester-Partys, ähnlich wie wir Blog-Treffen mit Wortspiel im Namen boykottieren, weil Wortspiele nur gut sind, wenn wir sie machen, wie die wahnsinnig guten Silvester-Hashtags weiter oben zeigen. Wir ignorieren alle Jahreswechsel-Festivitäten aus unseren Dezember-Dates, so wie wir Konzerte von Noxious Noise und Drum n Bass Partys ignorieren. Wir widersetzen uns eisnern dem Fingerfood und Raclette-Essensplan und schieben uns einfach eine Tiefkühl-Pizza in den heimischen Ofen. Wir zünden Raketen gefüllt mit hochnäsiger Überheblichkeit in den eigenen vier Wänden. Wir gießen uns aus Blei endlich eine Identität mit Impressum. Wir machen das, was sämtliche PEGIDA-Hooligan-AfD-Vollidioten das ganze Jahr über von Flüchtlingen fordern: Wir bleiben zuhause. Dinner for One in Dauerschleife, versteht sich.
(jvk)