Viele von uns haben es schon lange geahnt, seit dieser Woche ist es endlich offiziell: Die Menschheit ist am Ende. Totally fucked up, nicht mehr zu retten, so richtig am Arsch. Wir können das Aftershave der nahenden Apokalypse schon riechen: Es riecht nach Parkhaus und auch ein bisschen nach Jogi Löw und es vernebelt uns die Sinne.
Terror, Krieg, Brexit, Rechtsruck, irre Amtsinhaber, und: Pokèmon Go. Wenn unzählige Menschen überall fiktive Anime-Viecher aus den Neunzigern jagen, während die Welt da draußen jeden Tag ein Stückchen mehr brennt, kann das Ende nicht mehr weit sein. Angesichts des nahenden zivilisatorischen Untergangs ist es vielleicht auch kein Wunder, dass wir uns wieder auf das zurück besinnen, was die Evolution ursprünglich für uns vorgesehen hat: Jagen, Sammeln, Rudeltier sein, sich um irgendetwas kloppen, bescheuerte Balztänze aufführen. Zurück zum Ur-Instinkt, weg von der digital durchoptimierten Selbstsucht.
Deshalb treffen sich Menschen jetzt, um gemeinsam mit ihren Smartphones durch Städte zu laufen und am Holocaust-Mahnmal in Berlin putzige Monster zu fangen. Egal, ob sie dabei überfahren werden oder in fiese Datenschutzlücken stolpern. Denn: Pokèmon Go hilft Menschen mit Angststörungen das Haus zu verlassen. Depressive fühlen sich besser an der frischen Luft – selbst einbeinige 300-Kilo-Kinder gehen endlich wieder raus spielen. Geschäfte steigern ihre Umsätze, Straftäter werden geschnappt, herrenlose Hunde gerettet, ja vielleicht sogar bald der Weltfrieden gemacht, wenn die Menschheit nun wieder näher zusammenrückt, um virtuelle Monster zu jagen.
Ehrlich gesagt haben wir von Pokèmon keine Ahnung. Re:marx hatte als Kind nie eine Konsole, keinen Gameboy und auch keine Bravo, aber natürlich ein Jojo. Re:marx hat lieber Bücher gelesen oder so, und hält sich deshalb jetzt für was besseres, nämlich für den größten Kulturpessimisten der Stadt. Aus diesem Grund wollten wir Pokèmon to go auch elitär ignorieren – doch dann haben wir das 25-minütige Video vom Chemnitzer Pokèmon-Go-Nightwalk gesehen. Allein, dass der Hype tatsächlich schon in Chemnitz angekommen ist, der Stadt, in der Hypes nur sehr sehr langsam ankommen, oder gar nicht, ist erstaunlich. Und dann waren zur ersten Veranstaltung auch noch „mehr Leute als bei Pegida“ – das muss der Auftakt zur Weltrevolution sein. Aus Montagsspaziergängen werden Monstersammelspaziergänge, Pokèmon ist das neue Pegida: Pobertäre kempfen mit Online. Für die Digitalisierung der erbärmlichen Rest-Realität. Endlich wieder was, wofür die Leute gemeinsam auf die Straße gehen. Klar, dass Wutblogger wie wir uns da umgehend in bitterironischen Zynismus hüllen, sobald andere Menschen mehr Spaß haben als wir – und das auch noch nachts in Chemnitz. „Hier drücken jetzt ganz viele Leute Wütend-Smileys“, sagt der Typ im Video, „das ist nur deshalb, weil sie nicht dabei sein können.“ Genau! Oder weil es einfach bescheuert ist, was ihr da macht. Aber so viel Selbstreflexion kann man beim Blick ins spiegelfreie Smartphone-Display eher nicht erwarten.
Außerdem – sind hier „mehr Leute an einem Abend auf der Straße, als sonst in einer ganzen Woche“. Pokèmongo ist vielleicht mehr als nur ein behämmertes Kinderspiel, es ist genau das, was die Stadt so dringend gebraucht hat: Menschen in Chemnitz. Draußen auf der Straße. Der Schlüssel zur Stadtbelebung, bisher so vergeblich gesucht wie das Bernsteinzimmer. Aus toten werden untote Städte, durch die semi-smarte Smobies steuern wie senile Senioren. Wir warten schon auf den ersten Zusammenprall mit einem motorisierten Rollator und MoPo-Schlagzeilen wie:
*NACH ZUSAMMENPRALL MIT FEUER-POKEMON: ROLLATOR GEHT IN FLAMMEN AUF.*
*SCHON WIEDER! POKEMON-GO BRINGT MEHR MENSCHEN AUF DIE STRAßE ALS CEGIDA. Ein Glumanda musste mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus.*
Jahrelang mühte sich die Stadtverwaltung an der Brühl-Belebung ab, fand zwar Investoren, scheiterte aber trotzdem irgendwie. Und zwar irgendwie kläglich. Jetzt wird hier es regelmäßig Pokèmon-Stammtische geben – der Brühl ist gerettet, Chemnitz ist gerettet. Wir sehen es schon vor uns: Barbara Ludwig reagiert und passt Chemnitz der Pokemon-Struktur an. Jedes zweite Parkhaus wird zu einer Arena umfunktioniert. Der Karl-Marx-Kopf erhält ein Stein-Pokèmon namens „Nischl“. Der CFC öffnet seine Stadionpforten für Rasenkämpfe, bei denen Stein- und Wasserpokèmon einen Vorteil haben werden, während das Glumanda vom Sonnenberg weiter Mülltonnen anzündet. Und wenn die Kämpfe an der Stadthallenbrunnen-Arena eskalieren, kann Miko Runkel noch mehr Polizeipersonal aufstocken, und sich endlich den Überwachung-Staat schaffen, von dem er schon immer.. Stop!
Das ist uns zu negativ.
Denn:
„Pokemon ist das neue Lovoo“ grölen einige Teilnehmer der Chemnitzer Nachtwanderung, während ihre Displays im Dunkeln funkeln wie die Sterne am Himmel. Fortan kann man bei romantischen Rangeleien in der Schlossteich-Arena vielleicht sogar die große Liebe finden, und das, ohne dabei den Blick jemals vom Smartphone nehmen zu müssen. Ein bisschen wie Tinder, nur an der frischen Luft. Falls die App-Macher jetzt also planen, eine interne Augmented-Reality-Datingfunktion zu integrieren, die potenzielle Partner in Geo-Locations beamt, dann wäre die Gesellschaft gerettet. Für immer. Vielleicht.
Was sonst noch geschah: Ganz offensichtlich nichts, sonst würden wir ja nicht über Pokèmon schreiben. Ach ja doch: Das Rathaus plant einen recht radikalen Schnitt in der No-Pokemon-Go-Area Stadthallenpark, der anscheindend für viel Empörung sorgt, und trotzdem fast an uns vorbeigegangen wäre. Was könnte das nur sein? Nackt- und Ausweisscanner am Wall? Militäreinsatz im Landesinneren, um endlich Sicherheit zu gewährleisten? Menschenverbot auf Grünflächen? Pfefferspraypflicht auf Betonböden? Cannabis in Glasflaschen legalisieren? Nein – eine intime Heckenrasur soll es richten. Das beschauliche Heckenschützen-Grün soll nämlich gnadenlos gestutzt und somit dunkle Ecken abgeschafft und Dealer-Machenschaften ans Licht gebracht werden. Nur der herrlich grünen Lunge der abgasverseuchten City droht dann vielleicht bald eine COPD-Diagnose, aber wer sicher sein will, der muss eben leiden.
Überhaupt Sicherheit im Sommer. Großes Thema, jetzt wo Burkinis unsere schönen nackten deutschen Körper bedrohen, wie die Freie Presse findet, und sich wabbernde Wampen und halbgebräunte Hängebrüste plötzlich in ihrer freien Nacktheit gefährdert fühlen müssen, wenn im Freibad neben ihnen eine in Neopren gehüllte Frau auftaucht. Dagegen hilft nur eines: Securities am Beckenrand (hießen früher übrigens mal Bademeister). Diese werden in den Chemnitzer Freibädern nun schon seit Juni eingesetzt, und wenn man so will, recht erfolglos. Denn Übergriffe oder sonstige Vorfälle gab es noch keine, meldet die MoPo. Im Gegensatz zum Burkini sorgt muskebepacktes Sicherheitspersonal in schwerer schwarzer Dienstkleidung nämlich für entspanntes Wohlfühlen auf den Liegewiesen. Wenn beglatzte Stiernacken neben halbnackten Badegästen patroullieren, dann ist das mit – haha – Sicherheit ein äußerst angenehmes sommerfrisches Gefühl, und die Luft riecht endlich wieder nach Chlor, Peace und Pommes.
Außerdem: Der Prügelpolizist, der 2015 während CEGIDA auf einen jugendlichen Gegendemonstranten einschlug, wir alle erinnern uns, wurde im Winter freigesprochen. Diese Woche folgte der Freispruch vom Freispruch, sozusagen der Ausstieg vom Ausstieg unter den Rechtsurteilen. Das ist natürlich erstmal eine gute Nachricht. Vermutlich erleben wir aber den Freispruch vom Freispruch vom Freispruch, und alles bleibt so wie es ist, denn warum sollte es auch anders werden? Der Rest der Breaking-Chemnitz-News ist, wie seit Wochen schon, immer wieder nur eines: übergriffig.
Prügeleien, Hitlergrüße, Perverse, Sexualdelikte, schwere Unfälle und irgendwas mit dem CFC.
Also geht lieber wieder raus, Pokèmon spielen, während wir für euch weiter durch die Stadt hetzen und die neuesten MoPo(kèmon)-Schlagzeilen jagen.
Hi Thommy