Der Witz: „Das Schwierigste am Inline Skaten? Seinen Eltern zu sagen, dass man schwul ist“, beendete in meiner frühen Jugend fürs erste meine ambitionierte Karriere auf acht Rollen. Ich versteckte meine Hermestreter an einem Ort, an dem sie sich meinem Blick entziehen würden – neben meinem Diavolo. Die Jahre vergingen ereignislos, bis mir Adorno begegnete. Also nahm ich MDMA, wurde politisch korrekt und menschlich ein Versager. Da ich mich jedoch nie endgültig von meinen K2 oder irgendwas anderem trennen konnte, begleiteten sie mich über all die Jahre, und so fing ich vor kurzem wieder das Inlinern an.
Unter dem Vorwand, für mehr Gleichberechtigung im Straßenverkehr reinzutreten, beschloss ich die nächste Chemnitzer Critical Mass dafür zu missbrauchen, meinen als zutiefst politisch empfundenen Dauerzustand der privilegierten Langeweile auszuleben. Ich inlinerte zum Hauptbahnhof, wo sich kleine homogene Grüppchen auf dem Vorplatz zusammenfanden und eine zwanzig Personen starke Versammlung radikaler Biker bildeten. Natürlich steuerte ich zielgerichtet auf diejenige Gruppe zu, die sich mit dem Herumgewedel weißer Zettel ein offizielles Kleidchen anzogen.
„Seid ihr kritisch vom Mars?“, frage ich eine Frau im Critical Mass T-Shirt.
„Was willst du Skater-Boy, ich sag mal bis später toy“ , rappte sie entsetzt.
„Gut! Dann bin ich hier ja genau richtig.“
Mein Wunsch nach Feindseligkeit fand Erfüllung.
Noch wussten sie nichts von dem Trumpf in meinem multuifunktsionsbekleideten Ärmel, meiner Unterstützung, bestehend aus dem re:marx-Chef-Eierkopf. Dieser hatte an seinem freien Brückentag bemerkenswerter Weise nichts Besseres zu tun, als mich an seinen mit Elektrolyten und isotonischen Getränken gefüllten Fahrradkorb durch die Stadt zu ziehen, um mit mir die Speerspitze dieser Asphalt-rEVOLution zu bilden. Für mehr L.O.V.E in der St.Vo.
Die Aufregung über meinen selbstverständlichen Teilnahmswunsch schien nun alle anderen angesteckt und sich in etwas umgewandelt zu haben, mit dem wir bei re:marx umgehen können wie kein anderer: kollektiver Hass. Ich setzte mich auf die bekannte Bank an der Bahnhofs-Hecke, um unter Schweißausbrüchen, promiskuitivem Gestöhne und kritischen Blicken meine fettgewordenen Knöchel durch die Schuhöffnung meiner spinngewebten Skates zu pressen. Trick, Tick und Track führten sich unweit davon ihre neuen hochgeklappten Caps vor. Dabei scheint geltend: Je spitzer der Winkel zwischen Schild und Kopf, desto Spast.
„Meine Gangschaltung ist im Arsch“, begrüßte mich meine eintrudelnde Unterstützung. Was wie ein Fahrrad aussieht, fährt sich scheinbar wie ein Tretboot, dessen Achse wegen an Backbord befindlicher Fettmenschen in der Luft hängt. „Es scheint, als hättest du heut das einzige Single Speed“, stellten wir nämlich zu unserer gemeinsamen Überraschung fest, denn weit und breit war kein einziges Lifestyle-Kondensat in Form einer fixen Hipster-Nabe zu sehen. Vermutlich aus Angst, die pervers überhöhte Individualität löse sich auf im übergeordnetem politischen Gruppenziel.
Viertel Sieben. Der Startschuss fällt. Wir radeln los und machen es uns im Mittelfeld der Rotte gemütlich. Marcus, das Kind meiner Nachbarn, das gestern vier Jahre alt geworden ist, überholt uns nach fünfzig Metern klingelnd auf seinem Geburtstagsgeschenk. Mit dem Blick in die Bazillenröhre erahnen wir, was wir durch hysterisches Lachen noch zu leugnen versuchen: Einen komplexen körperlich-mentalen Zusammenbruch, der uns auf Höhe des Weinladens ereilen und unserem von grenzenloser Selbstüberschätzung gekennzeichnetem Unterfangen ein jähes Ende bereiten würde.
Persönlichkeitsgestört
Und trotzdem Glücklich
Denn ich neeeeeeeeEeehme
Keine Rücksicht
Nicht mal eine von mir initiierte Aufholjagd an den Gepäckträger des einzig motorisierten Fahrers im Teilnehmerfeld stellte einen verheißungsvollen Strategiewechsel dar. Denn die Entlastung meines Zugpferdes bewirkte einen unerwarteten Gegeneffekt: Durch den abfallenden Widerstand wurde dieses nur noch langsamer. Am Gefährt meines neuen besten Freundes, den seine Funktion als Retter in der Not weniger zu belasten schien als mir lieb war, drehte ich mich immer wieder nach meinem eigentlichen Support um. Er war nicht mehr als ein hoffnungsloser Schimmer am Horizont. Wie vorher abgesprochen, bauten wir auf seine Fähigkeit, willkürlich eine wasserfallartige Mixtur aus Tränen und Schweiß produzieren zu können. Deren fernes Funkeln sollte notfalls unseren Missionsabbruch über eine weite Strecke hinweg kommunizierbar machen. Verwirrt über diese verfrühte Endgültigkeit unseres Scheiterns kehrte ich um, und fand ihn Süßigkeiten und Traubenzucker atmend in einer Art Zuckerschockstarre. Im nun greifbar gewordenen Moment der sich entfaltenden Demütigung, fand ich Trost in unerbittlicher Schuldzuweisungen die unerwidert blieben, konzentrierte sich sein System exklusiv auf „nicht-sterben-müssen“.
„Boar scheiß Torpedogangschaltung…“, quirlte es schwerfällig aus seinem Snickersmund.„Wir müssen noch an deinem Führungsstil arbeiten Chefin, ich hatte mich schon so darauf gefreut…“, tröstete ich ihn.
„Warum ist hier ein Weinladen?“
Veni, Vedi, was zur Hölle hatten wir uns eigentlich dabei gedacht? Wir scherzten ausgelassen über unseren kläglichen Versuch, tatsächlich Verantwortung übernehmen zu wollen, um sich in der folgerichtigen Vernichtung lebendig zu fühlen – was metaphorisch für unser Leben in Chemnitz, Chemnitz, re:marx und Karl-Marx-Stadt stand. In dieser Erkenntnis triumphierten wir über alle Tretboots, Flugzeuge und erfolgreichen Pop-Rockbands dieser Stadt und motivierten uns im horizontalen Aufwind gleitend zu einem finalen Akt der Selbstüberschätzung. Wir studierten die Route, auf die man sich Flash-Mob-demokratisch im Vorfeld der Veranstaltung einigte. Dabei stießen wir auf eine Möglichkeit, die Masern, die uns einfach unsolidarisch der Härte des politischen Straßen-Schlachtasphaltfelds überlassen hatten, mit unserer Ankunft aus dem Hyperspace zu konfrontieren. Auf direktem Wege gingen wir vom Weinladen zum Scheißnischl, wo die Route, für die man sich im Vorfeld entschied, naturgemäß enden würde; übten vor Ort schon mal unsere Singapore-Siegerpose, die der freiwillige Individual-Tourist, dem wir seinen Wunsch aus dem Bild zu gehen verweigerten, fotografisch dokumentierte.
Vom Siegestaumel ergriffen schwiegen wir melancholisch vor uns hin. Wir konnten uns kaum an uns halten. Ein Rascheln im Gebüsch, das sich anhörte, als würde eine wildgewordene Wildschweinmutter Wiener Walzer mit einer Amsel tanzen, rettete uns vor der einsetzenden, durch Stille hervorgerufenen Social Awkwardness. Was verantwortete dieses Geräusch? Von Neurotische Vorstellungen davon bekamen wir Angstkrebs. Gebannt wandten wir unseren Blick in Richtung Strauch am Kopp. Und sahen:
Eine Horde indigene Nischljumper, die alsbald hervor sprang. Durch kraftvolle Dreh- und Trittbewegungen gaben sie uns ihr friedliches Ansinnen zu verstehen und waren sehr interessiert an meinen K2, die ich gegen etwas Feuerwasser und Crystal Meth eintauschen konnte. Ich lernte ihre Sprache binnen weniger Jahre und ADHSte ihnen von der kritischen Masse und deren offenkundigen Mangel an Loyalität, worüber sie sehr erbost schienen.
Wieder gingen Jahre ins Land, bis uns ein fernes Rattern aufhorchen ließ. Was sich da vor unseren Augen mit zitternden Beinen die Stufen hochquälte hatte nichts mit der motivierten Masse gemein, die einst vom Bahnhofsvorplatz losgetreten war. Wahrlich nicht mehr als ein mitleiderregender Haufen, abgemagert, blass und mit eingefallenen Gesichtern. Die Tour hatte ihre Opfer gefordert. Der mittlerweile bärtige Marcus übernahm, so fordert es die Tradition, das Rad seines Vaters. Auch andere schien es erwischt zu haben. Alter, Krankheit oder Erschöpfung hatten die Gruppe über die Jahre auf eine schäbige Hälfte dezimiert.
Was von ihnen übrig war, zerstampften die Nischljumper kurzerfuß zu Mus.
Ende.