Monotonie & Alltag: Der Chemnitzer Spaziergang
Monotonie & Alltag: Der Chemnitzer Spaziergang

Monotonie & Alltag: Der Chemnitzer Spaziergang

Früher, als es noch kein Corona gab, sondern Tageszeiten und Wochentage und Festivals und Barabende, galt Spazierengehen als eher biedere Freizeitbeschäftigung: Andächtig hinter dem Rücken verschränkte Arme, gemächliche Schritte, Kontemplation am plätschernden Gewässer, hach herrlich! Jetzt sind die Tage wie graue, zähe Zeitklumpen, wobei das Wetter meistens schön ist, also sind sie wie hellblaue, zähe Zeitklumpen mit einem festen Highlight am Tag: Dem Spaziergang (manche würden vielleicht auch den Einkauf nennen, aber allein bei dem Wort bekommen wir mittlerweile Stressschweiß). Deshalb haben wir dem Chemnitzer Spaziergang einen Text gewidmet, den wir auch nicht so recht einordnen können: Vermutlich ist es eine Mischung aus abgefakt, Wiki-How, re:marx in Gefahr und Selbsttherapie. 

Das war: Der Spaziergang, das war was für beigejackige Best-Ager, frischgebackene Familien, gut befackelte Pegida-Anhänger, bewaffnete Bürgerwehrler oder für Pokèmon-Go-Player. Eine Tätigkeit, bei der man, je nach Definition von „Spaziergang“, andächtig den Vögeln im Wald lauschte oder der Welt seine schönsten Hitlergrüße präsentierte. Die Adrenalinjunkies traf man eher auf Rennrädern, die Coolen beim Cornern auf Treppen und Mauern, Sitzen gilt ja nicht umsonst als das neue Rauchen. Draußen bewegen an der frischen Luft – davon hatte man zwar schon viel Gutes gehört, aber war es besser, als zuhause auf dem Sofa die hundertste Teen-Drama-Mystery-Sitcom auf Netflix zu suchten?  Natürlich nicht. 

Das ist:  Dank Corona-Lockdown ist das Spazierengehen einem krassen Sell-Out zum Opfer gefallen. Früher war der Zeisigwald so geheim, dass man dort mitten am Tag unbehelligt Blume-Raves veranstalten konnte, heute ist der Wald so überlaufen, dass man kaum noch 1,5 Meter Abstand halten kann. Früher war der Küchwald ein Naturparadies für freilebende Entblößer, heute haben Familien aus anderen Stadtteilen das Exhibitionistenleben weggentrifiziert und die Küchwaldwiese für’s Federballspielen okkupiert. Spazierengehen ist jetzt wie damals in der achten Klasse, als plötzlich jeder Nirvana hörte, auch die Enrique-Iglesias-Fans: Alle gehen jetzt spazieren, selbst die Amazon Prime-Abonnenten. Wir sind schon spaziert, da seid ihr noch drinnen geblieben, und überhaupt, der erste Schlossteichumrundung war die beste, danach hat sich das Ganze nur noch wiederholt. 

Warum Spazieren plötzlich so angesagt ist: Spazierengehen ist das neue coole Open-Air-Event, die Sehen-und-Gesehenwerden-Vernissage, der Bar-Absturz, der Weltecho-Hof-Abend, der Kino-Besuch und so weiter. Spazieren ersetzt jetzt alles, was man früher mit seinen Freunden gemeinsam gemacht hat. Wobei wir uns gar nicht mehr erinnern können, was genau wir früher alles mit unseren Freunden gemeinsam gemacht haben? Verschwommene Erinnerungen flimmern auf, an Nachmittage vorm Cafè und Spumonis vorm Balboa und Konzerte vorm Karl-Marx-Kopf. Jetzt hat man keine Erlebnisse mehr –– man macht Spaziergänge. Allein oder zu zweit, manchmal übertreibt man es auch und geht zu dritt raus, und natürlich immer in der Hoffnung, dabei etwas zu erleben. Was bisher aber noch nie passiert ist, weil stattdessen immer dasselbe passiert: Man geht raus, atmet ein, sitzt auf einer Bank, lässt die Sixpacks und die Gedanken vorbeiziehen, wundert sich, warum man keine Bekannten mehr trifft, geht wieder heim und ist ein bisschen traurig. Es gibt Tage, da ist der Spaziergang die deprimierendste Uhrzeit.

Welche Spazierspots man meiden sollte: Nach der 800. Runde um den Schlossteich versteht man endlich, was Menschen meinen, wenn sie von „Paradiesdepression“ sprechen, außerdem ist der Ort längst nicht mehr der, der er mal war: Die einzigen Sixpacks, die man früher am Schlossi gesehen hat, standen neben Boomboxen und Einweggrills. Heute heizen sie über die Schlossteichinsel und kontrollieren illegale Vierer-Gruppen. Im Zeisigwald war’s früher immer ein bisschen gruselig, weil man Angst hatte, im Dickicht auf verirrte CFC-Hools mit Chicos zu treffen. Jetzt wo im Stadion nur noch der Stadtrat um den Abstieg kämpft, ist der Zeisigwald plötzlich Mainstream geworden, außerdem war der Cappuccino in der Zeisigwald-Schänke schon immer ein Affront für alle, die schon mal in Italien Kaffee getrunken haben. Wer sich zeigen will und urbanere Umgebungen mag, flaniert über den Brühl, der neuerdings aussieht, als hätte „Unser Chemnitz und Karl-Marx-Stadt“ seine Nostalgieporno-Fantasien da rein gephotoshopt: Der Brühl ist so voll, wie er es zuletzt wohl Anfang der Achtzigerjahre in seiner vielglorifizierten Zeit als Prachtboulevard war. Die Wahrscheinlichkeit ist hier also sehr groß, jemanden versehentlich anzurempeln und  dabei in die Gefahr einer zwischenmenschlichen Berührung zukommen. Was einst die Autobahn war, sind jetzt die Radwege nach Markersdorf und Rabenstein:  vollkommen überfüllt. Außerdem herrscht ständig Stau- und Unfallgefahr, weil schlendernde Fußgänger-Familien, unzertrennliche Inliner-Pärchen, E-Biker in Vollmontur und überambitionierte Rennradfahrer unterschiedliche Geschwindigkeiten fahren. Man traut sich aber nicht so recht, ein Tempolimit zu fordern, weil dann die überambitionierten Rennradfahrer garantiert wütend werden. 

Welche Spazierspots man stattdessen aufsuchen kann: Auf Friedhöfen, der Name sagt es schon, findet man meistens Ruhe und kann endlich mal wieder intensiv über das Prinzip der Vergänglichkeit nachdenken. Man findet aber auch schöne Namen für hypothetische zukünftige Kinder oder Wissenswertes über die Chemnitzer Geschichte. Wir empfehlen den jüdischen Friedhof, den Promi-Friedhof St. Nikolai und natürlich den Zentralfriedhof (Achtung! Nicht mit TU-Campus verwechseln).
Der Chemnitzer Stadtpark wird immer so ein bisschen vergessen oder direkt mit dem Stadthallenpark verwechselt — das hat er nicht verdient, denn der Stadtpark ist super: Man kann an der Chemnitz hängen, im Rosengarten lustwandeln, am Teich sitzen und den Südring rauschen hören und im Polargarten fettig frittierte Fritten futtern, also normalerweise. Kleingartenanlagen bieten nicht nur Grünes und Grillgeruch, sondern gleichzeitg auch ein Diorama der Grillspieß-Bürgerlichkeit. Hier gestaltet sich jeder seine eigene Vision vom Paradies hinter dem Zaun, da ist von Hippie- bis Hitlergarten quasi alles dabei und man spaziert nicht nur durch eine, sondern durch hunderte verschiedene Welten. Da jetzt jeder mindestens eine Atemschutzmaske besitzt, kann man auch genüsslich im Feinstaub der großen Chemnitzer Einfallstraßen entlang flanieren, die sind ja ohnehin unser Favorit. Weil da man wirklich immer allein auf dem Fußweg ist und wirklich immer Chemnitzer Absurditäten entdeckt —  die Chance, was zu erleben ist hier am größten. Außerdem wird man wirklich immer misstrauisch von Anwohnern beäugt oder von alten weißen Männern in silbergrauen Autos angehupt.

Welche Accessoires jetzt angesagt sind: Seitdem Clubs und Raves abgesagt sind und Spazieren als Ersatzbeschäftigung für alles herhalten muss, auch für den Partydrogenrausch, kann man in der Stadt einen vermehrt gesteigerten Eiskonsum feststellen: Zucker und Fett sind das neue Pep. Hedonisten inszenieren sich jetzt öffentlich völlig hemmungslos mit drei bis fünf Kugeln in geilen Geschmacksrichtungen, und umrunden danach vom Zucker ganz aufgedreht den Schlossi. Das introvertierte Gegenprogramm dazu: Demonstrativ mit bildungsbürgerlichem Buch auf einer Bank sitzen oder an der Chemnitz frischen Fisch angeln. Distanz-Denunzianten tragen vorbildich Mundschutz und immer einen Zollstock bei sich, um die Abstände zwischen den Passanten zu berechnen und die Polizei zu alarmieren, wenn die 1,5 Meter nicht ordnungsgemäß eingehalten werden. Falls ihr euch unsicher seit, welches Accessoire gut zu euch passt: Das Wegbier in der Flasche ist absolut zeitlos, wird nie aus der Mode kommen und wurde sogar von Drosti persönlich abgesegnet. 

Was die größten Gefahren beim Spazierengehen sind: Man selbst, wenn man unbedingt einen auf Thug-Life machen muss und sich draußen mit mehr Menschen trifft, als erlaubt ist. Sportler, Selbstoptimierer und Seize-the-day-Leute mit Fitnessarmbändern, die aufdringlich dicht hinter einem joggen oder radeln, und einem nicht nur via Aerosol Corona in den Nacken pusten, sondern — schlimmer noch — ein schlechtes Gewissen machen oder die eigene Undiszipliniertheit vorhalten. Verbissene Rennradfahrer, männlich, Boomer, enge Hosen wegen Aerodynamik, die auf dem Chemnitztalradweg auf keinen Fall bremsen oder ausweichen können, weil das sonst den Schnitt versaut, und wenn der Schnitt versaut ist, passiert irgendwas Schlimmes.

Worüber man beim Spazieren nachdenken kann: Die sächsische Staatskanzlei nennt es „Denkzeit“, als würde es darum gehen, einen aufmüpfigen Viertklässler zu bestrafen, die hyggeligen Biedermeier-Positivity-Magazine nennen es „Zeit für Selbstreflexion“, man selbst weiß: es grenzt ans Stockholm-Syndrom. Den ganzen Tag mit sich  selbst alleine sein, in den eigenen vier Wänden, in den eigenen fucking fünf Hirnzellen. Man hat schon jede Phase durch: Die Angst, die Corona-Liveticker-Phase, die Schlafstörung, die Überkompensation,  die „Ich-will-von-Corona-nichts-mehr-hören-und-schalte-alles-aus“-Phase, die Einsamkeit, das Lethargieloch, die plötzliche gute Laune, die einem selbst unheimlich ist, das zweite Lethargieloch. Worüber soll man bitte noch nachdenken?
Ob man sich Desinfektionsmittel unbedingt spritzen muss oder ob man es nicht einfach trinken kann? Ob 2020 nun die Strafe ist, die wir Menschen verdient haben, oder ob man zu zynisch oder gar zu abgestumpft ist? Was eigentlich dieses Europa sein und ob man Spargel boykottieren soll? Warum man jetzt einen Ohrwurm vom Impfgegner-Esohippie-Tanzsong hat und ob das alles noch absurder werden kann? Was man dieses Jahr an Silvester macht und wo man in zwei Jahren in den Urlaub hinfährt? Was man überübermorgen Abend kocht und morgen Mittag zum Müll runter bringen anzieht? Ob Chemnitz noch Kulturhauptstadt und Fassmann noch Oberbürgermeister kann? Wann das Balboaaaltratominoweltecho wohl wieder aufmacht?
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