„Was ist das für 1Festival?“, das fragen wir uns mit Wehmut und Wermut und Schwermut, als wir Freitagabend am Rabensteiner Stausee sitzen und die Sonne hinter den Tannen verschwinden sehen. Was vielleicht gar nicht stimmt, weil wir gar nicht wissen, wo die Sonne gerade versinkt und ob die Bäume am anderen Ufer wirklich Tannen sind. Wenn hier gerade etwas richtig versinkt, dann sind das wir in unseren super-deepen Tiefsee-Gedanken. „Freundschaft“, denken wir und blicken tiefgründig auf die Oberfläche des Sees, „Freunde, was heißt das schon? Und wenn ja, wie viele?“
Wir sehen uns um. Und wissen: Zu viele.
Jedes Jahr im Juni dasselbe: Hipster, Hippies, Halbstarke und leider auch ein paar Honks kommen nach Chemnitz und machen Party ohne Grund – und re:marx ist nie eingeladen, obwohl wir schon die komplette Brummer-Familie mit zehn (+x) Schnäpsen gesegnet haben. Das Kosmonaut ist das intergalaktische Aushängeschild des sich kaum oder nur sehr langsam ausdehnenden Chemnitzer Popkultur-Universums – dabei ist Siegmund Jähn ja eigentlich gebürtiger Vogtländer. Wie wir. Regelmäßige Besuche in Morgenröthe-Rautenkranz haben uns jedenfalls bereits im zart-kritischen Kindesalter zu echten Astronomie-Experten gemacht, und dennoch blieb uns eine solidarische Freundschaft mit dem Kosmonaut-Festival bisher verwehrt.
Vielleicht sind wir ja ein ungeliebter Gast, weil wir selbst keine Liebe geben können – oder diese hinter einer herzenswarmen Hassmaske zumindest gut verbergen. Vielleicht sind wir schon zu alt für AnnenMayKantereit oder zu ignorant für K.I.Z. Vielleicht ist es auch, weil unser Shownacktikant die häufig geforderte Fortsetzung des Kraftklub-Interviews nie fertig schneiden wird. Jahrelang haben wir uns darüber den Kopf zerbrochen, nächtelang haben wir schlaflos im Bett gelegen, in den sternenübersäten Nacht-Himmel gestarrt und heimlich gehofft, dass irgendwann vielleicht doch noch ein Kosmonaut im Kassbergiopeia-Sternbild erscheinen und uns ein Zeichen geben wird. Vergeblich. Dann fiel es uns wie Sternschnuppen von den Augen: Wir müssen uns an höheren Mächten orientieren. Und welche Macht könnte höher sein als die der FIFA? Unsere Sternstunde der Korruption hatte endlich geschlagen.
Im April entdeckten wir bei einem verkaterten Sonntagsausflug zwei Plakate, beide in Schwarz-Weiß-Rot. Sie kündigten nicht etwa eine Rede von Bernd Höcke bei Cegida an, sondern zwei sächsische Musik-Events: Grönemeyer in Dresden und das Kosmonaut-Festival. Aufgrund unserer im Vogtland erworbenen Astronomie-Expertise wussten wir sofort: Die Initialen HG und geheimer Headliner gehören zusammen wie Chemnitz und die Farbe Grau – Herbert wird am Festivalsamstag mit einem U-Boot vom Grunde des Stausees auftauchen und „Bochum“ singen, und wir werden dastehen und Gänsehaut und Tränensäcke bekommen, denn wir sind zu alt für AnnenMayKantereit und zu ignorant für K.I.Z. Im Juni gründeten wir eine Briefkastenfirma und schworen auf das globale Schmiermittel der skrupellosen Korruption. Schließlich wussten nur wir, wer der geheime Headliner sein wird. Im tonnenbrennenden Ortsteil Bernsdorf kauften wir bei einem unserer ausgiebigen Weltschmerz-Spaziergänge in einem A&V eine Grönemeyer-CD, verzierten sie mit einem re:marx-Sticker und einem Drohbrief (hier exklusiv der exakte Wortlaut: „Presseakkreditierung?“) und unterschrieben mit blutrotem Lippenstift. Diesen Brandbrief warfen wir anschließend unmaskiert und bei helllichtem Tag in einen einschlägigen Bernsdorfer Briefkasten. Guten Freunden gibt man schließlich ein Erpresserbriefchen.
Jetzt sitzen wir hier am See und die Hitze flimmert in der Luft und plötzlich sind wir Freunde vom Kosmonaut, gute Freunde mit einer Erpresseakkreditierung. Wir wurden eingeladen! Von Felix persönlich. Und haben uns direkt ein bisschen verliebt. Er hat so eine nette Nachricht geschrieben. Uns, den alternden Internerds aus der noch älteren Chemnitzer Bloggerszene, die dann mit Herzchenaugen vor’m Rechner saßen und Fäkal-Videos schnitten. Doch als wir am Freitag aufgeregt wie ein betrunkener Teenager mit Akne den mit entzückender Detailliebe gestalteten „Freunde“-Bereich betreten, wird uns schmerzhaft klar: Wir sind nicht die Einzigen für ihn. Er fährt mehrgleisig, fünfspurig, dreistellig. Er hat nebenbei noch eine andere – ihr Name ist Halb Chemnitz, und sie ist auch eingeladen.
Wir ertränken unseren Kummer in Bier, denn das kostet im Freunde-Bereich nicht viel, und ein schlechtes Wortspiel muss immer sein. Trotzdem – oder gerade deswegen – wollen wir hier nie wieder weg. Berichterstattung? Scheiß drauf! Wir bleiben hinter der Bühne, bei den Freunden von Freunden von Freunden und freunden uns mit dem Barmann an. Hier, wo Freunde wirklich Freunde sind. Wo die Luft besser, das Wetter schöner und das Wasser sauberer ist, wo das Bier wie Champagner schmeckt und man am Ufer Austern angeln kann. Weit weg vom typischen Festival-Habitus: Keine affektierten Plaste-Blumenkränze, keine Konfetti-Kanonen, niemand, der Seifenblasen in die Luft pustet und das für Freiheit hält, keine lästigen Bierduschen, keine grölenden Sonnenstich-Opfer – herrlich! Herzschmerz und Hitze hin oder her, diese Erpresser-CD war die beste Idee, die „wir“ je hatten.
Der Spaß, den wir ohnehin für überbewertet halten und von dem wir auch nicht glauben, dass er sich durchsetzen wird, findet derweil vor den Bühnen statt. Was ist das nur für 1 Festivallife? Weil wir grundsätzlich alle hassen, die mehr Spaß haben als wir (was nicht sehr schwer ist) und Hedonismus noch von Heroismus und auch von Heroin unterscheiden können, waren wir nie anti-ihr, wir waren immer anti-alles. Gegen Flunkyball zum Beispiel, das verstehen wir erstens nicht, zweitens hat es was mit Saufen zu tun, und das verachten wir, und drittens könnte es am Ende auch noch lustig sein.
Um doch irgendwie mithalten zu können, versuchen wir uns zumindest gelegentlich als persönlich geladene Blogger-Bourgeoisie unter den kleinen Festival-Mann zu mischen. Auch wenn wir als Backstage-Bürgertum grundsätzlich alles meiden, was an echtes Festival-Feeling erinnern könnte, wagen wir uns hin und wieder hinaus zum Volk, um die Stimmung einzufangen, und sie hier zusammenfassend noch mal kurz abzufaken, denn das ist ja eigentlich unser „Job“.
Und so sind am Ende auch wir Lifestyle-Opfer und Freunde von Freunden des Sportgeistes: Denn die Wahrheit, die so deutlich auf dem Platz liegt, ist – dabei sein ist alles. Auch für arrogante Akademiker wie uns.
Das Gelände:
Die Sonne, das Wasser, die Tannen. Die hohen Gräser am Ufer. Die Blümchen auf den Tischen im „Freunde“-Bereich. Die Postkarten, die wir nicht abgeschickt haben. Das warme Abendlicht, der Nebel, der leise über den See kriecht: Chemnitz-Porn, Rabenstein-Romantik wie im Groschenroman. Heimatidylle wie im Kastelruther Spatzen-Song: Atlantis des Ostens. Eigentlich sollten wir hier irgendwas hassen, aber dafür sieht das alles viel zu schön aus. So schön, dass man sich fragt, ob das Kosmonaut insgeheim nicht doch eine Marketing-Strategie der CWE ist, die ja so gerne die Stimmung in der Stadt heben anmöchten. Nun, wir sind ja jetzt da, um sie wieder zu senken.
Das Line-Up: Wegen des Line-Ups allein wären wir wohl nicht den beschwerlichen Weg vom Kaßberg nach Rabenstein gereist. Das Casperle-Theater haben wir noch nie verstanden, Prinz Pi halten wir für einen adeligen Mathematik-Professor, Alligatoah für den Bruder von Flo.Rida, und als geheimen Headliner hätten wir uns sehnlichst die rotweinschweren Melancholeriker von The National gewünscht, so gediegen und bürgerlich sind wir. Ja, selbst wenn es tatsächlich Herbert Grönemeyer gewesen wäre, hätten wir ein paar Songs mitsingen können und uns dafür nicht mal geschämt. Der Auftritt von Wanda am Samstag erinnert uns irgendwie an – naja, uns. Am Anfang war’s noch geil und aufregend, mittlerweile ist es so offensichtlich abgefuckt wie eine muffige Lederjacke mit Abnutzungserscheinungen. Genauso fühlen wir uns auf dem Kosmonaut: Schwitzig und verschwendet und so lustig wie ein Altherrenwitz von Rainer Brüderele. Wir verpassen alles, was halbwegs interessant sein könnte, liegen lieber motiviert wie die Alkoholleichen am Wall im Backstage herum und versuchen krampfhaft keinen Spaß zu haben.
Casper wiederum hat seinen großen Rammstein-Moment: Viel Pyro und Gedöns. Die Casper-Fans, die hier sind, um mit Konfetti und Glitzer und Bier das Leben zu feiern, tragen alle die handverschenkten „Lang lebe der Tod“-Shirts, und wirken damit wie die verschworen uniformierten Mitglieder einer nicht mal geheimen Sekte. Ist das überhaupt noch ein Festival, oder schon eine gigantische Casper-Promoaktion? Beim „Grizzly-Lied“ liegt ein Mädchen vor uns und weint, und weil das auch der Mann hinter re:marx sein könnte, steigen kurzzeitig unsere Sympathien. Aber nur ganz kurz. Dann gehen wir wieder ins Backstage und tanzen. Zu Nick Drake.
Was sonst noch passiert: Wetter. Preiswucher (Stichwort Parkplatz) Deutschlaaaand-Gesänge. Oberschenkel-Tätowierungen sind die neuen Arschgeweihe. Irgendwas mit Einhörnern. Aufblasbare Orcas. Oliver Polak macht Behinderten-Witze. Bierdosen, die freundlich durch die Luft schweben und uns fast getroffen hätten. Leute, die vor dem Auftritt von Oli Schulz sowas sagen wie „Ich hab Oli Schulz schon live gesehen, da war er noch gar nicht geboren.“ Lange Schlangen, die sich vor dem Autogramm-Stand bilden, in einer Zeit, wo doch alle nur noch cool sein wollen und vor lauter Swag gar nicht mehr richtig laufen können.
Unser Shownacktikant scheitert beim Herzblatt und versucht sein amouröses Versagen später durch viel Körpereinsatz zu kompensieren. Später sehen wir ihn nur noch beim altruistischen Bierholen, eine andere Aufgabe scheint er nie gehabt zu haben. Immerhin weiß er als einziger, wer der geheime Headliner ist.
Wer nicht der geheime Headliner ist: Die Sache mit dem geheimen Headliner und ihre absolut konsequente Umsetzung finden wir mindestens genauso so super wie das Becks im Becksstage-Bereich. Letztendlich ist es ja auch das, was uns neben dem Schnaps mit dem Kosmonaut im Geiste vereint: Demonstrative Heimlichkeit, die andere zum Spekulieren zwingt. Nicht umsonst fühlen wir von re:marx uns wie die geheimen Headliner (Achtung – anderer Wortsinn) der Stadt, auch wenn wahrscheinlich gar niemand über uns redet.
Kurz vor Headliner-Beginn glauben wir jedenfallls ganz fest an folgende Szenarien.
Jan Böhmermann ist der geheime Headliner und trägt zwei Stunden lang Schmähgedichte vor. Elton John ist der geheime Headliner und singt „Rocket Man“. Herbert Grönemeyer ist der geheime Headliner und singt „Bochum“. Xavier Naidoo ist der geheime Headliner und trägt einen Alu-Hut, um sich vor Chemstrails zu schützen. Der Shownacktikant feat. Rammstein ist der geheime Headliner und spritzt mit Feuerwerk und Blut. Und anderen Sachen. Iggy Pop ist der geheime Headliner und alle gehen frustriert heim, weil den doch eh keiner kennt. Scooter sind der geheime Headliner, weil sich Felix das Haar so krass blondiert hat. Seeed, Deichkind und die Beginner sind nicht die geheimen Headliner.
Wer der geheime Headliner ist: Fanta4 sind der geheime Headliner, und wir freuen uns, weil das endlich mal Musik ist, die wir alten 30-Jährigen auch noch kennen. Außerdem sind die Fantas fast wie Herbert Grönemeyer, und haben schon mal ein Lied mit ihm aufgenommen: Wir hatten also Recht. Währenddessen fragen die kleinen Casper-Fans enttäuscht „Fantawer?“ und sind auf und davon, um einen Shitstorm ins Netz regnen zu lassen, denn sie haben sich Sido gewünscht.
Uns ist das alles egal. Wir sind geheimer als der geheime Headliner und korrupter als die FIFA und sehen dabei auch noch besser aus als Sepp Blatter. Und wir sind Backstage, dort, wo das Leben noch schön ist, dort wo unsere Freunde sind. Siegmund, ich denke, das ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft!