Der Vorschlag einen kompletten Artikel übers Elternsein bzw. Elternwerden innerhalb des Re:marx-Kosmos zu verfassen, stieß beim diktatorischen Blogvorstand auf wenig Gegenliebe und viel Gebashe. War ja abzusehen. Unser Themenhorizont entspricht ja ungefähr dem Niveau eines durchschnittlichen Einsiedlers. Normalerweise suhlen wir uns zu später Stunde in den klebrigen Überbleibseln durchzechter Nächte in überfüllten Szeneklubs bzw. in den klebrigen Überbleibseln einsamer Nächte unserer eigenen Nicht-ganz-so-Szene-Leben, um anschließend irgendjemanden oder irgendwas mit kilometerlangen Artikeln voller nackter Wahrheit und gut gekleideter Ironie zu beleidigen, zu diskreditieren oder zu hypen.
Wie passt in so eine Welt aus Glitter und Trauma so etwas Geerdetes, Schwerwiegendes wie ca. 3490 Gramm Neugeborenes? Noch bis vor wenigen Monaten war „Kinder“ für uns nur die blöde Firma, die Ü-Eier herstellt. Kinder, das waren die nervigen Dinger, die einen auf dem Heimweg vom Club mit ihrem Hinweg zur Schule durch lautes Geschrei und exzessive Sitzplatzokkupation am friedlichen Entschlummern gehindert haben. Kinder, dieses Wort war bis vor kurzem noch so eine Art Erwachsenen-Suaheli, eine Sprache, so unverständlich wie der Freitaler Dialekt, und bedeutete so viel wie „das Ende aller Tage.“
Chaos, Krach, Katastrophe: Kleine Kinder kennen keinen Knigge.
Doch jetzt, seit nunmehr einem Jahr können wir vom pöbelnsten, ehemals kinderlosesten Blog der Welt aus Erfahrung berichten: es stimmt. Alles ist wahr, was man sich in Schwangerschaftskursen zwischen Gebärmuttergemälden und Atemübungen zuflüstert. Die Erde hört mit der Geburt des eigenen Nachwuchses auf sich zu drehen. Zumindest, wenn man die Erde als Diskokugel versteht. Denn gerade in diesem Moment, als diese Zeilen verfasst werden, tummeln sich alle zurückgelassenen (Noch)-Nicht-Eltern-Freunde im Atomino und feiern das Release einer neuen Platte einer hiesigen Band in Form einer riesen Live-Sause. Mit haufenweise Bier, mit haufenweise Schnaps und mit haufenweise Schweiß, aber ohne uns, das erst frischgebackene, jetzt altbackene Elternpaar, weil wir haufenweise Haufen von Babypo und Wänden wischen müssen. Der wochenendlich wiederkehrende Feierwahnsinn wird natürlich schön und mit aller Liebe im Detail in der gemeinsamen Whats-App-Gruppe breitgetreten, die viel länger existiert, als das eigene Kind. Vollgekotzte Clubkloschüsseln weichen vollgekotzten Stramplern. Aus #youonlyliveonce wird #youonlylifeforthissmallpieceofhumanflesh und vom Dancefloor bleibt nur noch das Fluor in Tablettenform fürs Baby übrig.
Schlimmer als britische Touristen auf Malle: Heimischer Hangover. Nicht im Bild: Die zuvor geleerten Nuckelflaschen und die Zwieback-Bong.
Aber man arrangiert sich damit, von der Peergroup notwendigerweise auf die Breigroup downzugraden. Das Schöne daran. So langsam ziehen alle nach. Sicher, auch all unsere Vorgängergenerationen haben ähnliches durchlebt: von der Party zum Baby oder um es im Slang unserer Großeltern zu sagen: Vom Tanz zum Hans. Aber der Eindruck, den einem die eigenen Eltern vermitteln, suggeriert, dass die Uhren aller damaligen Freunde zeitgleich auf nächtliche Babyfütterung umgestellt wurden. Heute geht die Party kollektiv weiter. Nie fiel es einer Generation schwerer, nicht dabei sein zu können. Nie fiel es schwerer, auf etwas zu verzichten, weil immer alles möglich ist und dokumentiert wird. Genau das aber ist die Tugend, derer man mächtig sein muss, um die ersten Jahre mit Kind schadenfrei zu überstehen: Verzicht. Das gilt zumindest für mich, da ich mich nicht in die Riege Kind=Hobbyersatz zähle. Anders sieht das natürlich bei der neuen Spezies der Helikopter-Eltern aus, die sich offensichtlich aus einem Beschäftigungsvakuum in die Mehrfach-Parenthood vögeln, wahrscheinlich um ja nicht nur zu zweit sein zu müssen. Ein Problem unseres Daseins im #Neuland. Eltern wird man nicht wie früher, in dem man ein Kind erfolgreich großzieht. Eltern ist man heute schon mit dem ersten Tropfen Pipi auf dem Schwangerschaftstest und der direkt im Anschluss folgenden Google-Orgie „Wie erschaffe ich den perfekten Menschen“. Denn Perfektion lässt sich anscheinend, gerade im Bezug auf Kindererziehung, googeln. Die Eltern von heute wissen besser, was gut für die neuen Erdenbürger ist, als die Generation unserer Eltern, die ja aber immerhin uns selbst halbwegs gescheit großgezogen hat. Aber das ist ja alles Schall und Rauch, weil ca. 28 Jahre her und damit längst überholt. Ein Luxusproblem (internationale Abkürzung übrigens Lupro) der selbstbetitelten ersten Welt, die die Zeit und anscheinend auch den nötigen Enthusiasmus hat, sich mit Kreißsaal-Sightseeing und Plazentaglobuli zu beschäftigen. Wenn Mutter Natur gewollt hätte, dass Babys sich auch nach Erblicken des Lichts der Welt von der Plazenta ernähren, dann hätte die aber um einiges appetitlicher gestaltet werden müssen.
Apropos appetitlich. Ein Kind in freier Wildbahn bei seiner Nahrungsaufnahme.
Längst überholt sind die Erziehungsmethoden unserer Eltern vor allem vom Kapitalismus, der sich in punkto Kinderbetreuung mehr als deutlich zum Übervater entwickelt hat. Selbst bzw. gerade der von Natur aus eigentlich nicht in erster Linie fürs Kinderkriegen und Kinderbehalten geschaffene Mann (Genderfaschisten können hier ansetzen) kennt inzwischen die wichtigsten Unterschiede zwischen Milupa-Folgemilch und DM-Eigenmarke. Sie wissen bestens, welcher Schnuller bei Vollmond genutzt werden darf, welches Tragesystem „maßlos überteuert, aber das Beste auf dem Markt“ ist und ob der Maxi-Cosi bei einem Unfall mit 350 km/h nun wirklich sicherer ist, als der Kindersitz von Aldi. Wenn sich Männer früher unterhalten haben, ging es um Porsche, Ferrari, Motoren, V8, Hubraum, Zylinder. Heute findet der Schwanzvergleich übers Babyequipment statt. Beides übrigens gleich gruselige Gesprächsthemen von „Männern“. Noch schlimmer ist aber, dass die Mütter dem in nichts nachstehen, in der Markengeilheit teilweise sogar wesentlich widerlicher sind. Die Natürlichkeit in der Beziehung zwischen Mutter und Kind wird zu Gunsten von Konsumgütern und Kopflastigkeit über Bord geworfen. Kindererziehung ist so steril, so kalkuliert geworden, dass allen Beteiligten die Luft zum Atmen genommen wird. Eltern müssen sich überfordert fühlen, wenn ihr Kind nach einem langen Tag „überreizt“ ist, weil es so im Ratgeber steht. Ein amtlicher Zusammenschiss geht aber auch nicht, weil das Kind bloß keine Gefühlsregung der Eltern abseits des vernunftgeleiteten Immer-alles-genau-Erklären-Müssens erfahren darf. Wenn man dann anderen Eltern in ähnlichen Situationen noch höchstakademisch erklären kann, dass der oder die Kleine gerade „überreizt“ ist, hat man´s geschafft. Fachwissen vermittelt durch Fachtermini zeichnet gute Eltern aus. Szene am Badestrand: Ein ca. 6-jähriger Junge bockt aus welchen Gründen auch immer, woraufhin sein Vater ihm mit vor pädagogischer Erregung zitternder Stimme erklärt, dass anscheinend gerade seine (wortwörtlich) Frustrationskompetenzen (die des Kindes) überschritten sind. Genau. 6-jähriger Junge. Frustrationskompetenzen.
Dass es sich bei Babys um kleine natürliche Wesen handelt, die ebenso natürlich in diese Welt geboren werden und hier nicht plötzlich vollkommen fremd sind, wird komplett ausgeblendet. Gleiches gilt für den Akt der Geburt selbst, der so aufregend wie natürlich ist und seit Jahrtausenden für neue, kleine Menschen sorgt, der aber seit geraumer Zeit nur noch komplikationsfrei ablaufen kann, wenn im Kreißsaal nebenbei das eine besondere Lied der Eltern läuft. Also die neue Single von Adel Tawil oder Andreas Bourani. Ja, das Menschsein wird den Babys heutzutage abgesprochen, sie werden versachlicht, überanalysiert und theatralisiert. Alles im Sinne der wettbewerbsfähigen Entwicklung des Zöglings, denn wie in der Welt der Erwachsenen so zählt auch bei Babys nur der Vergleich. Wer krabbelt wann, wer brabbelt wie viel, wer ist seinem Alter voraus und sowieso: wer ist besser, als die anderen. Eltern entwickeln dafür oft besonderes Interesse an den Fähigkeiten der fremden Kinder im Umfeld. „Wie alt ist er/sie denn jetzt? Wie sind die Nächte? Wie klappt das Füttern?“ Mein Interesse an anderen Kindern hält sich in überschaubaren Grenzen. Vielleicht ist das auch die gute alte re:marxsche Grundmisanthropie, schon übertragen auf die Nachfahren der Idioten, mit denen man mit oder ohne Kind gar nichts zu tun haben will. Schade eigentlich, es besteht ja eine zugegeben prozentual sehr geringe Chance, dass wenigstens die Kinder cool werden.
Cool, Cooler, Schuhe mit Igel drauf. Markenbewusstsein und saisonal korrektes Schuhwerk sind das A und O von Markenbewusstsein und saisonalem Schuhwerk.
Aber vielleicht ist das Desinteresse auch dem Umstand geschuldet, dass es Elternpaare wie uns gibt, die auch noch ein Leben außerhalb voller Windeln haben. Wenn schon nicht immer körperlich, weil Kinderbetreuung besonders am Anfang hauptsächlich mit physischer Anwesenheit zu tun hat, dann zumindest meistens geistig. Kinder sind mit Geburt automatisch der Mittelpunkt des Lebens der Eltern, da bedarf es keinem künstlichen Katalysator. Manchmal bilde ich mir ein, dass mich andere Eltern schief anschauen, weil ich mein Kind nicht als Smartphone-Hintergrund habe, sondern immer noch ET und Michael Jackson, die sich im Arm liegen, was ehrlich gesagt oft ein schönerer Anblick ist, als die fremden Kinderbilder. Ich muss nicht plötzlich versuchen, der beste Vater aka der moralisch einwandfreiste Mensch der Welt zu werden. Ich muss nicht jedes Schreien nachvollziehen können, ich muss nicht jeden neuen Move frenetisch bejubeln und bei YouTube hochladen, ich muss mein Kind nicht jeden Tag für Instagrambilder zurecht machen und ich muss vor allem nicht jede Erziehungsmaßnahme in ein potentielles Trauma für das spätere Leben des Kindes übersetzen und entsprechend rechtfertigen. Wenn man einfach macht, ohne alles permanent zu hinterfragen, macht alles am meisten Spaß. Und vielleicht ist diese Einstellung gerade beim Kindergroßziehen von Bedeutung. Entspannte Eltern, entspannte Kinder. Babys haben in den ersten Lebensmonaten im Normalfall die eigenen Eltern als einzigen Fixpunkt in der Welt. Wenn diese dann ob der neuen Lebenssituation völlig am Rad drehen, kann das nicht im Sinne des Kindes und im Sinne der Natur sein.
Glückliches Paar ohne Kinder: Michael Jackson und der King of Pop.
Was aber hat das alles mit Re:marx zu tun? Im Dunstkreis von Babyschwimmen und PEKiP-Kursen fällt einem das eigene Ironienutzungsverhalten oft auf die Füße, weil Eltern anscheinend, gerade im Bezug auf ihre Kinder, keine Ironie verstehen. Eine Eigenschaft, die das Interesse an der anderen Person häufig in Sekundenschnelle gen 0 schwinden lässt. Im selben Atemzug wird immer behauptet, Kinder verstünden keine Ironie. Das hieße ja im Umkehrschluss, Kinder und Re:marx sind unvereinbar. Ich verstehe diesen Satz als Ansporn, das Gegenteil zu beweisen. Auch all ihr Re:marx-Jünger, Partygänger, Erstsemester, Zwölftsemester, Langzeit-DJs, Clubbewohner, Chemnitzbasher, Hipsterhasser, YouTuber, Only-Once-Liver… werdet irgendwann vielleicht mal Kinder haben und dann hört die Erde plötzlich auf, sich zu drehen. Aber bis dahin: viel Spaß beim Feiern, Saufen, Wild-rumkopulieren, Ungebundensein, Ausschlafen, Ins-Kino-Gehen, In-Ruhe-urinieren und vor allem beim Nur-für-euch-selbst-Verantwortung-tragen, ihr Säcke!