Auf den ersten Blick ist Chemnitz einfach nur hässlich, auf den zweiten immer noch, unter dem Millieu-Mikroskop betrachtet jedoch ein Paradies: Für Rentner, Ruheliebende – und für Realsatiriker. Als solcher hat man hier eigentlich das ganz, ganz große Los gezogen. Die Satire hier ist so real, dass man sich wundert, wann endlich der Postillon eine Zweigstelle neben der MoPo-Redaktion eröffnet oder offenbart, dass Chemnitz in Wirklichkeit gar nicht existent, sondern die Erfindung eines frustrierten Satirikers ist, der sein unterbezahltes Dasein in einer kleinen, nischigen, dunkel-stickigen Online-Redaktion fristet. Viele denken jetzt vermutlich an Jan Böhmermann, aber der ist wohl eher nicht unterbezahlt. Wir denken deshalb an re:marx – den Mann hinter Chemnitz.
Jedenfalls: In der Verwaltung der vielleicht satirisch simulierten Stadt Chemnitz, so wurde diese Woche bekannt, hat man anscheinend unseren Jahresausblick (siehe Juli und August) gelesen und nicht verstanden, und jetzt möchte man gerne Europäische Kulturhauptstadt 2025 werden. Das ist lustig. Das ist vielleicht sogar absurd oder bizarr, weil sich Chemnitz und Kultur etwa so vehement auszuschließen scheinen wie – ihr wisst was jetzt kommt, denn uns fällt einfach kein passenderer Vergleich ein – CFC und Aufstieg. Drei Museen und ein Theater machen noch lange keine Kulturszene, geschweige denn eine -Hauptstadt. Stattdessen legt man der Subkultur Steine in den Weg, schwerer als die Nase des Nischls.
Wichtiger war bisher, dass endlich systemangepasste Fachkräfte zuziehen, ins post-marxistische Maschinenbauer-Eldorado, in dem der Ingenieur gefeiert und gefördert wird, während der marginalisierte Kulturschaffende in unsanierten Fassmann-Immobilien bei Hoffesten ums Feuer hoolahoopt. Im Prinzip, das müssen wir trotzdem kurz zugegeben, ist Chemnitz die perfekte Kulturhauptstadt: mittelgroß, mittelmäßig schön, mittelmäßig beliebt und mit viel Industriegeschichte, die zwar größtenteils brach liegt, aber immer gut ankommt, bei offiziell kulturgeförderten Angelegenheiten. Wir sehen es schon vor uns: Kunstgalerien in Parkhäusern, Graffti-Contest auf Glasfassaden, kostenlose Volksmusik-Konzerte im Stadthallenpark, falls der bis dahin nicht gerodet wurde, die Parkeisenbahn pendelt zwischen Attraktionen wie der versunkenen Schlossteichinsel, dem New-Yorck-Center und einer abgerissenen Textilfabrik. Andererseits: Wer genau soll hier eigentlich Kultur machen? Wer soll dann 2025 überhaupt in die Stadt kommen? Und vor allem: wie? Mit der revisionistisch ratternden Reichsbahn von Leipzig aus?
Willkommen in Chemnitz, der europäischen Kulturhauptstadt Zweitausendfünfundzwanzig. Ihr nächster Anschluss zur Schlagerschau in der Stadthalle: Die Parkeisenbahn Richtung Burg Rabenstein fährt in 45 Minuten von dem Gleis, das einst für den ICE-Anschluss vorgesehen war.
Bei dem Konzept für die Bewerbung setzt man übrigens auf Basisdemokratie, die Bürger dürfen mitreden – eine schlechte Idee, Demokratie muss von oben kommen, findet der Mann hinter re:marx, und verweist fishandchips-Krumen hustend auf den Brexit. Vielleicht zieht ja der attraktive Arbeitstitel der Bewerbungs-Kampagne: „Identität und Veränderung“, damit hatte Chemnitz schließlich schon immer so seine Probleme. Eine Stadt ohne eigene Identität, die sich selbst kaum ausstehen und deshalb natürlich auch keine Beziehung mit anderen führen kann. Immerhin wurde sie aber schon einmal um- und dann wieder zurückbenannt und ist setidem sozusagen Experte für Veränderungen, oder wie es in der Pressemitteilung heißt:
„Wir haben keine Angst vor Neuem, sondern sind, manchmal zwangsläufig, Experimentierfeld. Und gerade jetzt geht es um Identität, Zugehörigkeit und Umgang mit Veränderung. Das haben wir vielfach und sogar sprichwörtlich mit unserem Stadtnamen erlebt. Veränderung gehört so sehr zum Lebensnerv von Chemnitz wie in keiner anderen deutschen Stadt.“
Kulturhauptstadt Konkurrenz ist übrigens Dresden. Ausgerechnet. Auch so ein konservatives Versager-Kaff, das derzeit irgendwie Probleme hat mit Identität. Und mit Veränderung ganz besonders.
Wer über Realsatire spricht, muss auch über den Stadthallenpark sprechen: Sperrgebiet, Todesstreifen, das El Salvador des Ostens, der gefährlichste Park der Welt, in dem die Polizei bei Razzien manchmal fast nichts findet. Dagegen hilft nur eins: Ein radikaler Schnitt bei den Hecken. Die sind jetzt gestuzt, rasiert, gewaxt oder so, und es gibt quasi keine Drogendealer mehr. Allerdings haben es jetzt auch Heckenschützen schwer. Kaum ist der erste Erfolg im erbarmungslosen Kampf gegen Kriminalität und das im Blumenbeet aufkeimende urbane Lebensgefühl vermeldet, kommt man im Rathaus auch schon auf nächste geniale Idee: Zusätzlich zum Alkohol- soll es auf den innerstädtischen Grünflächen bald auch ein Ballverbot geben.
Und. Ja. Das. Ist. Ernst. Gemeint. Nicht. Vergessen. Zu. Atmen.
Wie könnte man Kriminalität und/oder Großstadtflair auch besser bekämpfen, als mit der höchst integrativen Idee, den Kids und Migranten, die ohnehin keine richtige Perspektive oder Beschäftigung haben, das Ballspielen im Park zu verbieten?
Bälle sind bekanntermaßen die Blinden-Signale unter den Sportgeräten: Sie machen nervige laute Geräusche beim Aufschlagen und fliegen oft ungebeten durch die Luft. Sie schaden dem Rasen, sagt unser Baubürgermeister Michael Stötzer, wie Alkohol der Leber. Und weil die Hecken zwar antastbar oder abholzbar sind, die bunten Blumen im Beet aber heilig, ja fast schon anbeetenswert, soll primelgefährdendes Ballspielen jetzt verboten werden. Dastutsowehdafälltselbstunsnichtsmehrein, außer: Willkommen in der europäischen Kulturhauptstadt 2025. Leben verboten!
Was sonst noch geschah: Die Freie Presse war zum Wolkenkuckucksheim in der Spinnerei, hat dort unser Guggenheim entdeckt und direkt wie korrekt als Installation begriffen: „„Wovon träumst du, Chemnitz?“ fragt eine Installation, der man seine Träume hinzufügen kann – vielleicht ist es ja der Traum von dieser Anti-Stadt mitten in einer Stadt, in der es die Fantasie manchmal schwer hat, einen Ort zu finden.“ So schön hat zwar noch niemand über unsere „Arbeit“ geschrieben, aber wir müssen hier trotzdem erwähnen, dass diese Installation ein unter schweren Heißklebepistolen-Verbrennungen mühsam gebasteltes Notiz“buch“ war, bestehend aus gefalteten A4-Blättern, in das sich kaum einer verewigt hat. Schönster Beitrag übrigens: „Ich träume immer nur von mir! <3“
Und wo wir gerade ausnahmsweise mal von uns selbst sprechen: Unser Shownacktikant schafft es zwar ewig nicht, seine Bachelor-Arbeit zu schreiben, kann es sich aber leisten wochenlang durch die Staaten zu touren. Dort hört er anscheinend die ganze Zeit NRJ Sachsen, weil er Heimweh hat, und hat dabei folgendes entdeckt: Wir haben es auf die renommierte Rangliste der allercoolsten Blogger in ganz Sachsen geschafft, das ist sozusagen der Pulitzerpreis unter den Auflistungen von Blogs, und in etwa so bedeutend wie der Zwickauer Literaturpreis. Zwischen veganen Food-, durchgestylten Fashion- und Befindlichkeiten-Blogs ranken wir irgendwo unter „Sonstiges“, einfühlsam beschrieben mit „sehr cool“.
Wir sind wirklich gerühr… aber halt: Es ist NRJ. Es ist peinlich. Es steht für alles, was wir hassen. Wir sind auch gar nicht cool. Echt nicht. Wir mögen den CFC und hartgekochte Eier mit Majo, weinen manchmal öffentlich und zählen Likes bei Facebook. Wir schauen lieber Gilmore Girls als Stranger Things und kotzen nach nur zehn Schnäpsen. Wir sind sozusagen völlig untragbar. Lest bitte woanders weiter, liebe NRJ-Hörer.