Immer, wenn uns nichts mehr einfällt, holen wir die Post der Moderne aus dem Beitrags-Keller. Sie ist das im Dunkeln schlummernde Keller-Kind, die Weihnachtsdeko der Re:marx-Artikel, unsere sporadische Notnagel-Kolumne, die demonstrieren soll: Der Wille ist zwar noch da, doch die Themen sind etwas rar. Nun ist es so, dass derzeit nichts passiert, worüber wir nicht schon geschrieben hätten.
Es wird Frühling, und wir sind überdurchschnittlich gut gelaunt, was zu Irritationen führt und ein Gefühl von sanfter Diffusion hinterlässt: Chronische Melancholie mischt sich mit seltsamer Euphorie — und in den Wirren der Aufbruchstimmung zertrampelt man versehentlich frisch blühende Narzissen wie sonst nur welke Egos von Narzissten. Das ganze Dilemma der pastellgrauen Frühlingsgefühle erlebt man am besten an lauwarmen Sonntagen am Schlossteich:
Hobbyfotografen mit imposanten Tele-Schwanzverlängerungen kauern im Gras vor phallischen blauen Krokussen. Passionierte mittelalte SUV-Fahrer haben den Geländewagen gegen die volle Freizeit-Fahrrad-Montur getauscht und strampeln sich nun mit verbissenen Minen zum letzten Herzinfarkt. Alle wollen Eis und dann liegen sie auf der eiskalten Märzwiese und wärmen sich an der Glut ihrer Einweggrille. Selbst Pokèmon Go hat zu unserem Entsetzen in den Smartphone-Kellern überwintert, und seine Anhänger haben nun wieder ihren rechtmäßigen Platz an der Sonne zwischen Brunnen und Pavillon der Schlossteichinsel eingenommen. Der Schlossteich selbst hat übrigens eine neue Fontäne. Die spritzt das feuchte Frühjahrsglück jetzt stattliche zehn Meter hoch und macht damit wohl dem über allem wachenden Lulatsch Konkurrenz. Am Lulatsch wiederum werden Lichter getestet. Die Stadt putzt sich heraus, könnte man meinen, in Wirklichkeit aber versucht sie vermutlich nur, ihre hässliche Fratze mit einer extradicken siebenfarbigen Make-Up-Schicht abzudecken, denn tief in ihrem Herzen haust weiterhin das Grauen.
Die Rede ist natürlich von der Zenti. Die Zenti ist der neue Stadthallenpark, nur ohne Grünflächen, auf denen man Alkoholverbot verhängen könnte. Hinhängen kann man hier dafür aber gut, und zwar Überwachungskameras. Denn kaum eine Woche vergeht, ohne dass Berichte über die Zentralhaltestelle auftauchen, die die Worte „blutig“, „Auseinandersetzung“, „Streit“ und „Übergriff“ enthalten. Die Stadthallenpark-Außenstelle scheint erfolgreichere Kriminalitätsstatistiken zu haben als ihr sommerfester Seelenverwandter. Selbst die Busfahrer, die grimmigen Könige des Chemnitzer Nahverkehrs, hätten hier mittlerweile Angst vor dem Ausstieg wie CFC-Fans vor dem Abstieg, berichtete die Freie Presse neulich. Die Busfahrer fürchten sich vor allem davor, mit der vollen Busgeldkasse durch die dauerkriminelle Menschenmenge zu laufen — so sehr, dass sie jetzt schon den Schichtwechsel an andere Haltestellen verlegt haben, wie die CVAG bestätigte, also vermutlich an den Busbahnhof.
Seit Wochen überlegen wir krampfhaft, wie wir dieses Dauerbrennpunkt-Thema angemessen reißerisch verarbeiten könnten, während TAG24 eine „Perverser Perser bedrängt Bedürftige“-Schlagzeile nach der anderen raushaut. Artikel wie „85 Gründe, warum die Zenti der gefährlichste Ort der Welt ist“ oder „Mit diesen 42 leckeren Pfefferspray-Sorten fühlst du dich an der Zenti wieder sicher“ oder „23 Haltestellen in Chemnitz, die besser sind als die Zentralhaltestelle“ oder „Ich bin heute fünfmal an der Zenti umgestiegen und das ist passiert“ klingen natürlich verlockend, das Problem aber ist, dass schon alles zu diesem Thema gesagt und geschrieben wurde, und mehr als eine Bürgerwehr gründen kann selbst der Mann hinter re:marx nicht. Die Stadt hat vorerst zumindest eine elegante Lösung gefunden: Mehr Polizei und eine mobile Wache zum einen, eine gigantische Jahres-Baustelle zum anderen. Es runkelt also gerade ordentlich im Karton.
Immerhin hat man das Stadthallenpark-Problem endlich gelöst, indem man einfach Betongott Kellnberger auf das soziale Conti-Loch angesetzt hat. Der frohlockt über innovativen Plänen für den in Mitleidenschaft gezogenen Park: Eine Einkaufsmeile will er bauen, obendrüber Büros und Penthäuser mit Blick ins Grüne, und untendrunter, also unter dem Park, eine riesige wunderschöne Parklandschaft, also für Autos. Parken unter dem Park, das urbane Grün von unten mit Diesel düngen, das ist so Meta und so Chemnitz und so wenig Kulturhauptstadt, uns fehlen die Worte. Nur ein paar Bäume müsste man dafür umtopfen, sagt er. Tolll! Der Graube kann eben Bäume versetzen.
Weil im Frühling die Hormorone heftig rauschen ist derzeit auch wieder Rassetierzeit. Rasseausstellungen überall: Die sexuell aufgeladene SaxCat (wir berichteten) lockte letztes Wochenende Massen in die Messe, um preisgekrönte Kastraten und kleine Perserkatzenkinder mit arischen Stammbäumen zu begaffen. Nächstes Wochenende gibt es dort die rassigsten Rüden zu sehen, und da gehen wir natürlich hin. Für nächstes Jahr haben wir auch schon eine Idee für eine tolle neue Messe der aufkeimenden Frühlingsgefühle: Die erste Chemnitzer „Rassemänner- und Rasenmäherschau“ für notgeile Nymphen, kritische Kulturkennerinnen und handwerklich begabte Fachfrauen. Ausgestellt werden die schlimmsten politischen Unkorrektheiten sowie Männer und Gartengeräte aus aller Welt.