Die Sterne am Nachthimmel über dem Thüringer Wald sehen aus wie mit der Paint-Sprühdose gemalt. Unzählige feine, gelbfunkelnde Sprenkel auf tiefem Blau. Zwischen hohen Tannenspitzen hat die Nacht ihr Zelt über den Wald gespannt: Eine kühle Schutzhülle für den heißen Tag, der hier gerade endet, friedlich und still.
Aber ich bin nicht für den Frieden da, sondern in der Hoffnung auf einen Eklat.
Tief in Thüringen könnten Skandale gelingen, denkt man. Und dabei natürlich an den NSU. Die Reise in das Herz der Finsternis führt über Dörfer, die „Jesuborn“ heißen, vorbei an Kneipen namens „Zur Sorge“, und eine leise Ahnung davon, wie viel Kummer hier schon im Bierkrug ertränkt wurde, wird laut. Graue Schieferhäuschen säumen die Straßen, manche prächtig, andere mit bröckelnder Fassade. Wie eine kitschig überzeichnete Märchenwelt liegen sie in der Landschaft, derart eingeschlafen und vergessen, dass man hinter jeder vergilbten Spitzengardine eine schlummernde Terrorzelle, Drogenküche oder einfach nur Inzucht vermutet. Ein Plakat eines engagierten Verschwörungstheoretikers hängt einsam am Straßenrand und solidarisiert sich mit Russland („Russen sind unsere Freunde“). Weit und breit kein einziger geöffneter Bratwurststand. Das Schlecker-Schild prankt noch blau und blass über dem leerstehenden Laden: Thüringen hat heute geschlossen.
Thüringen schläft so tief wie die Großmutter vom Rotkäppchen. Und im Wald lauert der böse Wolf. Apropos Rotkäppchen: Die Reise ins Herz der Finsternis ist auch eine Reise in Ramelows Reich und ich denke an die bundesweite Empörung über den ersten linken Ministerpräsidenten. Glaubt man den Konservativen, dann fahren wir hier gerade durch Mordor. Tatsächlich hängen dunkle Wolken über den gewaldigen Bergen, ein Gewitter braut sich zusammen. Der Himmel ist schwarz und die Luft riecht nach Gefahr. Vielleicht wird es aber auch einfach nur regnen
.Am Nachmittag ist der Schicksalsberg erreicht, das Domizil, ein einsames Hotel im Wald, wirkt ein bisschen wie ein ehemaliges FDGB-Ferienheim, nur in klein. Es gibt zehn Bungalows, einen Fußweg aus Gummimatten, einen herzzerreißend heulenden Hund im Zwinger, einen Pool, der eigentlich ein Löschteich ist, und keinen Handyempfang.
Die Mission heißt Familientreffen. Alle fünf Jahre treffen sich hier alle Familienmitglieder väterlicherseits, um zu feiern, dass sie alle von einer Frau abstammen, meiner Ur-Oma. Vor zehn Jahren habe ich mit meinen Cousinen auf dem Heuboden übernachtet und war poetisch berührt vom perfekten Sommertag. Vor fünf Jahren habe ich mich heimlich nach Jena abgesetzt und dort zum ersten Mal einen echten MS BEAT Flyer gesehen. Dieses Jahr fällt mir keine Ausrede ein, und so hoffe ich auf Eskalation. Auf fliegende Messer, zerbrochene Gläser, auf Geschichten, die aus dem Schatten der Vergangenheit ans Licht gezerrt und so lange lauwarm aufgetischt werden, bis der Bitter besser schmeckt. Überhaupt Schnaps: Darauf, dass jemand betrunken wird, hoffe ich auch. Dass Stühle umgeworfen werden oder Illusionen, weil dieser jemand dann sagt: „Ich bin nicht dein Vater.“
Aber die Chancen stehen schlecht, weshalb nur die potenzielle Explosion der politischen Diskussion bleibt. Der Nährboden dafür ist in dieser Familie schließlich perfekt. Der Gastgeber, ein Cousin hundertsten Grades, ist Mitglied in der SPD, war MdB, saß dort im Verteidigungsausschuss. Beim Treffen vor zehn Jahren verteilte er noch Autogrammkarten von Peter Struck.
Opa Heinz weiß alles. Liest alles. Schaut jede Bundestagsdebatte und könnte sie auch führen. Sein Wohnzimmer ist voll mit Bücherregalen und die sind voll mit Politiker-Biografien und Gesellschafts-Analysen und natürlich hat er das „Neue Deutschland“ abonniert. Sein politisches Herz pocht links, aber er hat sich aufhetzen lassen. Pegida findet er richtig, wegen der erhobenen Stimme des Volkes und Putin okay. Am Telefon streitet er sich oft stundenlang mit seinem Bruder, einem SPD-Hardliner oder mit seiner Tochter, einer BILD-Leserin – und der Blutdruck steigt. Manchmal wird am Geburtstagstisch so heftig diskutiert, bis das Wienerwürstchen platzt.
Bei einem Familientreffen begrüßt man Verwandte, von denen man gar nicht mehr weiß, dass man verwandt ist, weil man sie nur alle fünf Jahre sieht. Ein bisschen wie Klassentreffen. Es beginnt zu regnen. Das Gewitter ist da, noch vor dem Eklat.
Meine kleine Cousine ist mit einer Tasche voller Bier angereist. Und teilt sich einen Bungalow mit meiner Oma. Für die Afterhour hat sie eine 90er-Party geplant. Es riecht nach Teen Spirit.
Statt Eklat gibt es später eine Tombola. Die ist Teil des Programmes, dem wir hier streng folgen, straffer als einem Protokoll beim Staatsempfang. Man merkt – dieses Treffen wurde von einem Politiker organisiert. Vor dem Abendessen (Thüringer Grillgut) ist das hochantizipierte Highlight der Veranstaltung angesetzt: Die Verleihung des Riesenbabys. Der familiäre Wanderpokal, mit dem der neueste Nachwuchs gewürdigt wird – und vor dem jeder hier Anwesende Angst hat. Meine ältere Cousine und ich erkennen das blaubeschlüpferte, vermutlich einst an der Rummelbude gelosglückte Riesenbaby als möglichen Auslöser für eine posttraumatische Partnerlosigkeit, die uns jedoch erst in zehn Jahren einholen wird, wenn wir auf einer roten Couch liegen und über unsere Familie sprechen müssen. Jetzt thront es auf einem Stuhl wie ein plüschiger Pate über seiner Familie, eine Bedrohung in Babygestalt, so als hätte jemand das Ticken der Uhr absichtlich lauter gestellt.
Nach dem Abendessen (Rostbrätel und Würste) folgt die Tombola, eine Art Best-Of der Werbe- und Lobbygeschenke des Politikerlebens. Zwar wird „gelost“, der Zufall hat hier aber trotzdem nichts zu sagen. „Viva la Fifa“, ruft mein Onkel, dann werden Bundeswehrteddys, Deutsche Post-Aktentaschen, Audi-Sitzkissen, USB-Sticks von Eurojet und Marine-Notizblöcke unter die Familie gejubelt. Präsente von Heckler & Koch sind nicht dabei.
„Komisch, dass kein G36 verlost wurde“, sage ich und schieße leicht daneben. Deshalb erntet der wahnsinnige Witz etwas, das zögerlich zwischen Lachen und Entsetzen schwankt. Blind bin ich ins Minenfeld getreten, aber die erwartete Explosion bleibt aus. Mein Cousin gesteht, dass er schon am Vorabend alle Minenfelder abgefühlt hat: Pegida, Putin, Griechenland, Merkel. Jetzt scheint es so, als hätte sich die Familie einer kollektiven Selbstzensur unterworfen, weil jedes falsche Wort, jeder Nadelstich hier einen Flächenbrand auslösen könnte.
Nach der dritten Weinschorle bin ich immer noch nüchtern. Blut ist eben dicker als Wein. Kaum einer trinkt Schnaps. Im Radio läuft erst Peter Maffay, dann Andrea Berg, dann Tumbling Dice. „Einer der besten Songs“, sagt mein Vater. „Obwohl, das ist eine der gemeinsten Frage, die man mir überhaupt stellen kann: Welcher der beste Stones-Song ist.“ Dann läuft wieder Helene Fischer. Und „Die Mannschaft“ schießt sieben Tore gegen Gibraltar. Atemlos ist hier nur die Geschichte von der Nichte und ihrem allerersten Alkoholabsturz beim allerersten Familientreffen vor 20 Jahren, die jedes mal wieder hochgewürgt wird. Da war ich zwar erst sechs Jahre alt, aber immerhin lernte ich so noch vor der Einschulung, was ein Alkoholabsturz ist. Gegen elf steuert der Abend auf seinen Höhepunkt zu: Stammbäume werden verteilt, Namen bewundert, im Erinnerungswühltisch gekramt. Die Afterhour im Bungalow ist längst vereitelt. Kurz nach zwölf sind alle im Bett und die Nacht hat endgültig ihr sternenbehangenes Schweigen über all die möglichen Minenfelder gelegt. Zu meiner Enttäuschung. „You Can’t Always Get What You Want geht auch immer“, sage ich.
Am nächsten Tag gibt es doch noch so etwas wie eine Afterhour: Bratwurst-Essen im Garten beim Familienfest-Veranstalter. Die Kinder planschen im Pool und haben eine aufblasbare Insel okkupiert, die beinahe umkippt – und damit fast auch die scheinfriedliche Harmonie: „Das Boot ist voll“, ruft Opa Heinz. Ich halte den Atem an. Aber das ergriffene Unwort zum Familiensonntag geht ungehört in den Wogen des Wassers unter.
In Thüringen gab es nach jenem Juni-Wochenende übrigens doch noch einen echten Eklat: Ganz in der Nähe, in Eisenach. Denn dort befindet sich nicht nur die Wart- sondern scheinbar auch eine Nazihochburg: Ein krimineller, NSU-naher NPD-Mann hatte hier im Stadtrat einen Antrag auf die Abwahl der linken Oberbürgermeisterin gestellt – und der Stadtrat hat zugestimmt. Man weiß gar nicht was schlimmer ist: das – oder dass so ein Typ überhaupt im Stadtrat sitzt. Tief in Thüringen können eben doch Skandale gelingen.
Freut mich, dass der Alkoholabsturz aus dem letzten Jahrtausend für große Lerneffekte gesorgt hat. ; )