abgefakt: Disneyland Chemnitz.
abgefakt: Disneyland Chemnitz.

abgefakt: Disneyland Chemnitz.

Chemnitz und Touristen. Zwei Wörter, die sich ähnlich kategorisch auszuschließen scheinen wie CFC und Aufstieg oder re:marx und Impressum. Die Vorstellung, dass es Menschen in Weimar, Wismar oder Worms gibt, die sich auf ein kuscheliges Romantik-Wochenende im Hotel Mercure oder ein Shoppingweekend in der Sachsenallee freuen, scheint so abwegig wie die Errichtung eines Kellnberger-Towers.

Wenn Touristen nach Chemnitz kommen, dann sind das vermutlich Erstsemester im Oktober, geschäftsreisende Ingenieure, Weihnachtsmarkt-Groundhopper, Florian Silbereisner-Ultras oder der blutjunge Kraftfanklub. Oder einfach nur Menschen, die gerne in Krisengebiete fahren, um dann auf Periscope für die BILD darüber zu berichten.

Um den Tourismus kümmert sich hier unter anderem die CWE, die Chemnitzer Wirtschafts- und Entwicklungsgesellschaft, und die hat im Januar 2016 zusätzlich zur Entdecker-App und einem virtuellen Stadtrundgang endlich das neue Reisemagazin „Visit Chemnitz“ herausgegeben, auf das wir alle so sehnlich gewartet haben, wobei es natürlich direkt einen Skandal gab. Weil wir unerträglichen Event-Aufreger von re:marx wie Aas-Geier über inhaltlichen Kadavern wie diesen kreisen, haben wir dies gleich als Anlass genommen, die Marketingmaßnahmen zu begutachten oder vielmehr einen zwangskritischen Blick auf den Chemnitzer Tourismus zu werfen.

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„Es lohnt sich also, für das Chemnitz Wochenende einen größeren Koffer zu packen, um für jede Laune gewappnet zu sein“ (vor allem für schlechte, Anm. der Red.)

Das Image der Stadt:  ist derart non-existent, dass sogar die Chemnitzer selbst eine Marketing-Kampagne brauchen, um sich irgendwie mit ihrer Stadt identifizieren zu können. Aus „Proud to be a Chemnitzer“ (wir alle erinnern uns) wurde deshalb das unverwechselbar absolutistische „Die Stadt bin ich“ – mehr Chemnitz in einem Slogan geht echt nicht! Nur: Wenn man nicht mal die Natives von ihrer eigenen Stadt überzeugen kann – wie soll man da andere fancy Peeps attracten?
Wie bewirbt man also eine Stadt, deren Sehenswürdigkeiten eine rotgeziegelte Fitflasche, ein bonbonbunter Schornstein und eine DDR-graue Beton-Büste sind? Am besten gar nicht! Eine Stadt ist schließlich keine Marke. In Städte, in die viele Touristen kommen, kommen viele Touristen, weil diese Städte von Natur aus hübsch oder anderweitig alt oder cool sind, auch ohne Marketing-Make-Up und Kampagnen-Push-Up. Chemnitz‘ Chancen stehen da eher schlecht – hier werden nicht mal Filme gedreht wie in der Geisterstadt Görlitz. Und trotzdem müht sich die Stadt an dem Thema so vergeblich ab wie Leo DiCaprio an einem Oscar.

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„Flanieren sie in Gassen, Straßen und inhabergeführten Läden rund um das Rathaus (…). Entfliehen sie dem Alltag und entdecken sie den urbanen Charme von Chemnitz“

Der virtuelle Stadtrundgang: Man kann wählen zwischen der spektakulären Drohnen-Tour (Chemnitz von oben) und der Entdecker-Tour, alles im 371-Grad-Winkel fotografiert. Vor allem die Entdeckertour wirkt sehr authentisch: Chemnitz im Sommer, vielleicht Juni, grüne Bäume, strahlend blauer Himmel, weil der CFC gerade drei Punkte gegen Aue geholt hat. Alles sieht clean und steril aus, nüchtern und ernüchternd. Vorbildlich hierbei ist, dass man sich offensichtlich bemüht hat, die Stadt möglichst originalgetreu menschenleer zu fotografieren.

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„Raus aus den Federn, hinein ins städtische Treiben und für das erste Gefühl für die Geschichte der Stadt durch die Straßen der Innenstadt bis zum einstigen Pracht-Boulevard, dem Brühl,flanieren. Im Brühlaffe wartet in gemütlicher Wohnzimmeratmosphäre ein vitales Frühstück, das selbst Fleischfreunde die Wurst vergessen lässt.“

Das Reisemagazin: „Visit Chemnitz“ sieht schön postmodern aus, mindestens so hochglänzend wie die vielzitierten Fassaden der Stadt, und wirbt auf dem Cover im postjournalistischen Buzzfeed-Stil mit „22 Dingen, die man gesehen haben muss“. Außerdem gibt es eine Reportage mit dem bahnbrechenden Titel „Living on a hill“, die vom Luxusleben auf dem Kaßberg erzählt, einen suboptimal geplanten Guide für ein Urlaubs-Wochenende in Chemnitz, einen gewagten Blick in die Tiefen der Chemnitzer Subkultur sowie auf die Außergewöhnlichkeit (sic!) der Chemnitzer Innenstadt (ja genau!).

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„Wer eine Stadt bereist, sucht das Besondere. Na dann: Willkommen in der Chemnitzer Innenstadt! Rund um das Alte und das Neue Rathaus sowie entlang der Straße der Nationen markiert modernste Architektur die Chemnitzer Innenstadt. Die besonderen Lädchen, originellen Geschäfte, traditionsreichen Unternehmen und viele Restaurants haben für unterschiedlichste Ansprüche etwas in der Auslage oder der Karte. Stadtbummler, die das besondere Etwas suchen, finden es in den kleinen liebevoll geführten Geschäften …“

Wer trotzdem kommen will: kann für Geld durchgestylte Wochenendreisen bei Michael Ballack buchen und einen unvergesslichen Chemnitz-Trip erleben, Übernachtung im Viersterne-Hotel, Stadtführung zum Thema „Freiluftgalerie Chemnitz“ und Museumsbesuch inklusive.

Wie Chemnitz sich selbst sieht. Kunst- und Kulturhochburg Karl-SchmidtRotluff-Stadt: Eine Stadt, die Kunst atmet wie andere Schnaps, weshalb auch ständig bunter Rauch aus der großen grauen Esse steigt. Was ja per se nicht falsch ist, denn wenn es eines gibt, das bisher Leute von ganz weit weg, aus Flöha oder Penig, anzog wie fauliges Obst Fliegen, dann waren das abgefahrene Ausstellungen in unseren prächtigen Kunstsammlungen. Chemnitz ist der Louvre Sachsens, oder wie es bei Wim Wenders heißen würde: „Paris, Texas“. Ein ganzes Wochenende könnte man im Gunzenhauser, IMu, EiMu, NaMu, der Villa Esche, im smac oder auf dem Schlossberg verbringen und abends bei Oper, Theater oder Ballett noch mal so richtig den Bildungsbürger raushängen lassen. Vergesst Mailand, vergesst Madrid. Hauptsache Sachsen! „Chemnitz ist ein erdgeschichtliches Pompeji“, sagt der Förster des Versteinerten Waldes (internationale Abkürzung übrigens VW) im Interview über diesen. Aber Chemnitz ist ja nicht nur Pompeji, Chemnitz ist auch Manchester, die Wiege der sächsischen Industrialisierung, weshalb man hier inmitten vieler imposanter Fabriken lustwandeln kann, bevor man sich zwischen den Pracht-Portalen des Kaßbergs die bohème Türklinke in die Hand gibt und „Die neue Lust am Bürgerlichen“ entdeckt. Und überhaupt: das viele Grün, die Farbe der Hoffnung, die sich durch die Stadt zieht, als gäbe es hier tatsächlich noch welche. Ein grünes Band, größer als der Central Park in Nueva York. Vergessen sind da all die grauen Betonklötze und Brachgebiete, von denen das flatternde Band immer wieder durchbrochen wird.

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„Ob mit Laufschuh, Pedal oder Longboard: Die facettenreichen Grünanlagen bieten die perfekte Kulisse, um sportlich aktiv zu werden – und dabei freundliche Chemnitzer beim Grillen zu treffen“

Wie wir Chemnitz sehen: Chemnitz, ein einziges, großes Museum. Hier ist wirklich alles alt, und das muss bitte bewahrt werden. Das „erdgeschichtliche Pompeji“ ist leider auch oft ein geistiges. Pompeji, die Stadt, die in Asche und Lava versank. Während der Industrialisierung wuchsen imposante Fabriken, die jetzt zum großen Teil vor sich hin verwesen, und ständig an das noch viel imposantere Potenzial erinnern, das die Stadt hier verfallen lässt. Das Zentrum ist tatsächlich eine Freiluftgalerie: Für stadtplanerisches Versagen. Wer Ladenketten und Einzelhandel in Einkaufszentren auf die grüne Wiese/die Autobahnauffahrt/den Sonnenberg verlagert und seit der Nachkriegszeit konsequent auf beton-hässliche („moderne“) Architektur setzt, muss sich nicht wundern, wenn das Leben in der Innenstadt verkrampft, weil hier alles im zähflüssigen Einheitsbrei oder im Benzingestank der Parkhäuser erstickt – beziehungsweise im Leerstand versickert. Die vielen Kneipen, von denen das Heft schwärmt wie eine 14-jährige von Sami Slimani, schließen vor allem in der Innenstadt wie sonst nur Clubs in Chemnitz. Viele Beschreibungen aus dem Reiseheft wirken daher so austauschbar wie die Geschäfte in der Galerie Roter Turm – sie könnten auch jede andere mittelgroße und mittelschöne Stadt meinen.

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„Der Wald dient den Chemnitzern immer häufiger als Stein des Anstoßes zu außergewöhnlicher Kreativität, um „ihrem“ Schatz zu huldigen. Steinwald-Schnaps:Ein Spirituosenhersteller aus dem Erzgebirge destilliert einzelne Hölzer des Versteinerten Waldes zu einem hochprozentigen Schnaps. Geschmack: leicht holzig, steinalt, mit einem Hauch von Eisen. Nach dem Genuss ist man definitiv „stoned“. „

22 Dinge, die man in Chemnitz gesehen haben muss (CWE)
1. Museum Gunzenhauser
2. Smac
3. Kunstsammlungen
4. Roter Turm
5. Atomino
6. sächsisches Industriemuseum
7. Rabenstein
8. Theaterplatz
9. Altes und Neues Rathaus
10. Schönherrfabrik
11. Gewölbegänge im Kassberg
12. Villa Esche
13. Marianne-Brandt-Haus
14. Siegertsches Haus
15. Stadtbad
16. Tietz
17. Schlossbergviertel
18. Schlossbergmuseum
19. Karl-Marx-Monument
20. Sächsisches Eisenbahnmuseum
21. Emmas Onkel
22. Clubkino Siegmar

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„Und es ist Leben auf dem Hügel. Kneipen, Restaurants und viele kleine Läden machen den Kaßberg zu einem der beliebtesten Wohnviertel der Stadt – originell, bunt und herzlich.“

22 Dinge, die man in Chemnitz gesehen haben muss (re:marx)
1. Netto in Bernsdorf
2. Gellertstadion
3. Imbiss am Omnibusbahnhof
4.Limbacherstraße mit Lidl, Penny, Rewe, Norma, Hundenetto, Pfennigpfeiffer, Asia-Imbiss und dem ehemaligen Wohnhaus von Beate Zschäpe
5. Sonnenbergviertel
6. TU-Campus am Wochenende mit Uni-Radio, Mensa-Vorplatz, Friedhof und Cafè Südeck, anschließend Ausklang im PEB.
7. Einen der unzähligen Exhibitionisten im Küchwald, statt immer nur unsinnige Exhibitionen in den Kunstsammlungen
8. Klaus, die Parkbahnmaus
9.  Die Drehscheibe Chemnitz im Sachsenfernsehen
10. Prachtbahnhof Chemnitz Mitte
11. Infostand in Einsiedel
12. Einbaumbänke vorm smac
13. Das Heckert-Gebiet
14. den Nischl zur Fußball-WM
15. Zentrale Umsteigestelle am Mittwochmittag
16. Brühl-Boulevard um Mitternacht
17. New-Yorck-Center
18. siebenfarbigen Schornstein am Stadtrand
19. Conti-Loch
20. Chemnitzer Woosn am Hartmannplatz + Après-Ski-Party am Uferstrand
21. 24-Stunden-Döner-Drive-In
22. Stadthallenpark, Stadthalle, Stadthallenveranstaltung

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„Auferstanden aus Ruinen sind im Chemnitz der Nachwendezeit viele Clubs und Bars, die wie Maroon Bar (…) oder die Martinic Bar eine vielseitige Geschichte zu erzählen haben und heute zu den angesagtesten Hotspots der Chemnitzer Prominenten gehören“

Das könnte sein: Mehr Mut zur Hässlichkeit. Endlich mal ehrlich sein. Warum will die Stadt Chemnitz immer sein wie andere Städte? Warum ist sie nicht endlich mal sie selbst? Eine manchmal grüne, manchmal schöne, oft obszöne, oft hässliche, nie hippe Stadt, in der wenig geht, aber viel versucht wird. Oder umgekehrt. Stattdessen will sie sich für Touristen in ein Korsett zwingen, das ihr ohnehin nicht passt, und trägt dazu ein aufgesetztes Lächeln, obwohl sie viel lieber eine missmutige Fresse zieht. Chemnitz ist kein Barock-Disneyland wie Dresden, kein Kulturmekka wie Leipzig, kein Hipster-Eldorado wie Berlin, und wenn man auf dem Marktplatz auswärtige Reisende trifft, kann es schon mal vorkommen, dass man nach dem Weg ins Zentrum gefragt wird. Deswegen, finden wir, sollte sich Chemnitz endlich als das profilieren, was es wirklich ist: Als ein postsozialistisches Pompeji, als Stadt mit viel Platz und vielen Fehlern. Als riesiges Plattenbau- oder gigantisches Naherholungsgebiet. Diese Ruhe! Diese Ruinen! Diese Rentner! Diese Runkel’schen Verordnungen! Wo findet man so etwas denn heute noch, außer vielleicht in Magdeburg?

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„Nachdem man kurz auf dem Schlossplatz noch den Petanque-Spielern zugeschaut hat, ist Zeit zum Genießen – die Chemnitzer Restaurants präsentieren die überraschend vielfältige Küche der Stadt.“

Das wird hier wohl nichts mehr: Es bedarf schon sehr spezieller Interessen oder besonders viel Humor, um wegen eines versteinerten Waldes, einer Parkeisenbahn, eines Betonkopfes, Jugendstil-Portalen oder alter Dampfmaschinen in eine Stadt zu reisen, die selbst Karl Marx nie betreten hat. Eisenbahnfreaks, Steine-Fans, Architektur-Cracks, Einkaufszentren-Jünger, Maschinenbau-Studenten, Ostalgiker, Hansa-Hools, WBS 70-Fanatiker, Anti-Ästhetiker und andere Masochisten werden diese Stadt lieben. Alle anderen werden nicht kommen. Chemnitz ist das Special-Interest-Magazin unter den Großstädten. Aber auch das ist okay: Nicht jede Stadt kann, muss oder sollte um jeden Preis touristisch sein. Niemand erwartet das von Chemnitz. Niemand will ein hier zweites Dresden, außer natürlich man ist Cegida-Anhänger. Niemand fände es gut, wenn plötzlich tausende mit Kameras und iPads bewaffneter Horden von Japanern, Russen, Amis und besoffener Engländer unsere schönen grauen Betonplatten fotografieren, Doppeldecker-Bustouren über den Kaßberg, Kutschfahrten um den Schlossteich und Glasfassadenselfies machen, die Eintrittspreise und Einlassschlangen vom Atomino in die Höhe/Länge treiben, grölend über die Brückenstraße ziehen, Sächsische Alltagsfloskeln stammeln oder die Schattenplätze im Bernsdorfer Bad mit Handtüchern reservieren würden.
Oder?

Deshalb sollte man trotzdem einmal als Tourist in Chemnitz gewesen sein:
Am Eiffelturm haben wir uns längst sattgesehen. Die Tauben in Venedig sind widerlich. Von London bekommt man nur Kopfschmerzen. Grenzerfahrungen gehören zum Reisen dazu: In Chemnitz wird man sie bestimmt machen. Vor allem die sehr schmale Grenze zwischen Hass und Liebe kann man hier leibhaftig erfahren wie bestimmt nirgendwo anders.

6 Kommentare

  1. umschlagplaetze

    This! Und zwar als achtfachen Ausdruck an sämtliche Litfasssäulen der Stadt genagelt, weil Platz hat’s da genug zwischen den mannigfachen Einzigartigkeiten der hiesiegen Veranstaltungssaison. Ich geh dann mal auf die Limbacher. Penny oder Asianudeln, Entscheidung offen.

    1. Thomas

      Mich würde das auch mal interessieren, wer hier sich offensichtlich nen Kopf über Chemnitz macht. Ich bin ja froh, dass es jemand macht 😉 … aber ein Blick ins Impressum und in die Datenschutzerklärung, die übrigens nutzlos ist, wenn ich nicht weiß, wer mir diese gibt, verrät nichts.

  2. Ulrike Richter

    Konnte wieder herzlich lachen, wie immer auf den Punkt gebracht. Ich „schaue“ schon noch von Rügen nach Chemnitz, wie und was da noch läuft. Was des öfteren auf den Strassen läuft ist, nach wievor erschreckend, aber, den Menschen sei Dank, gibts da auch viele, die etwas gegensetzen.

    Uli

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