Die Post der Moderne: Was im April in Chemnitz geschah.
Die Post der Moderne: Was im April in Chemnitz geschah.

Die Post der Moderne: Was im April in Chemnitz geschah.

Das Blau vom Lulatsch ist stellenweise stark verblasst, und wir alle wissen, was das heißt: Vierte Liga. Das Grün vom Lulatsch hingegen strahlt mehr denn je, und wir alle wissen, was auch das heißt: Es ist Frühling in Chemnitz – oder sogar schon Sommer oder Frommer und plötzlich sieht man wieder Menschen und Tätowierungen auf den Straßen, plötzlich riecht es wieder überall nach Flieder und nach Grill, das schwere Betongrau ist von zartem gelben Blütenstaub bedeckt und alle sehen viel glücklicher aus. Und auch die Stadt blüht auf, denn Chemnitz ist überall: Auf arte tanzen die Nischelhupper ihren antikapitalistischen Balztanz, in der Zeit erklärt die in den Ruhestand verabschiedete Frau Mössinger, warum Chemnitz cool ist, aber keine Ironie versteht, ja selbst Jan Böhmermann hat die Stadt 20 Sekunden lang erwähnt, woraufhin natürlich alle ausrasten, wie immer, wenn Chemnitz mal in irgendeinem Medium erwähnt wird, das nicht das Sachsenfernsehen oder die Freie Presse ist. Deshalb wird es Zeit, dass auch wir endlich mal was über Chemnitz schreiben: Die Post der Moderne für den April.

Die verrufensten Orte des Monats:
Gefährliche Orte sind Orte, an denen die Polizei ohne weiteren Verdacht Kontrollen durchführen, das Gepäck durchsuchen, die Identität feststellen, die Hecken im Stadthallenpark stutzen, ungestört Racial Profiling praktizieren und in Sachsen seit neuesten auch Bodycams einsetzen kann. Die Sächsische Polizei nennt diese Orte „verrufene Orte“ — das klingt irgendwie noch krimineller, noch finsterer, noch mehr nach #simplysaxony. Nun hat Valentin Lippmann, Landtagsabgeordneter der Grünen, beim Sächsischen Innenministerium angefragt, um welche rufruinierten Orte und innerstädtischen No-Go-Areas es sich in Dresden, Leipzig, Chemnitz und Freiberg eigentlich genau handelt. Die Antwort ist nicht weiter überraschend: Ganz Chemnitz ist ein verrufener Ort, außer natürlich die Limbacher Straße, da geht’s. Als besonders gefährlich gelten neben den altbewährten Brennpunkten im Zentrum diverse Spielcafès auf dem Sonnenberg, die Bernsdorfer Straße, klar, auserwählte Neubaublöcke im Heckert und — ihr habt es sicher schon geahnt — die Kleingartenanlagen „Westkampfbahn“ (Das „Kampf“ steht für Gefahr), „Kaßberghöhe“, „Kappler Hang“ und „Am Heim“ in Schönau. Gerade dort, wo die Idylle unberührbar scheint, keimt hinterm Gartenzaun die nackte Angst, zittern Laubbäume und Lauben, wenn es dämmert, verschwinden unschuldigen Rechen und Rasenmäherroboter in der Nacht. Man kann nie wissen, was in so einem Garten alles wächst, und jetzt, da die Hecken im Stadthallenpark obenrum gewaxt sind wie sonst nur Hollywoodstars untenrum, ist es nicht unwahrscheinlich, dass sich die vertriebenen Drogentütchen einen neuen Zufluchtsort gesucht haben. In Schönau, so munkelt man, haben sich schon ein paar couragierte Gartenzwerge mit Insektengift bewaffnet und zu Zwergenwehren zusammengeschlossen, um die Lauben vor gierigen Lauchfingern zu beschützen. Obwohl: Vielleicht hat die Polizei ja gar nicht mal so Unrecht mit den kriminellen Kleingartenanlagen. Dort versuchen derzeit Rechtsextremisten die Vereinsheime zunehmend mit angeblichen „Zeitzeugenvorträgen“ zu unterwandern – wo sie zwischen Schweineschwarte und Deutscher Eiche bisher rechts ungestört den Holocaust leugnen und „Große Soldatenweihnacht“ feiern konnten.
Doch das alles ist nichts gegen den verrufenster aller Chemnitzer Orte: Ganz genau, der Kaßberg. Auf der „Barbarossastraße, zwischen Eulitzstraße und Leonhardtstraße“, und auf der „Weststraße, zwischen André- und Horst-Menzel-Straße“ kann man quasi nicht mehr unbewaffnet und ohne Personenschutz vor die Tür gehen. Der Kaßberg ist so gefährlich (und verrufen sowieso), dass sich selbst Leute vom Sonnenberg kaum noch hin trauen und lieber vorm Lokomov sitzen, obwohl sie da weniger gut gesehen werden. Man kann sich nicht mal mehr in Ruhe vor einem der unzähligen zwei Cafès inszenieren, ohne in eine Fotoschießerei zu geraten, viele verängstige Bohos ketten mittlerweile ihre MacBooks und Macchiatos an, es gibt sogar Menschen, und das ist kein Scherz, die private Überwachungskameras auf ihren Altbaufensterstöcken installiert haben, vor denen sie Tag und Nacht wachen wie Miko Runkel über die Innenstadt.
In Leipzig gibt es laut Innenministerium übrigens nur vier verrufene Orte — einer davon ist die Eisenbahnstraße.

Der Facebook-Fail des Monats:  Gemeinhin gilt: Je weniger wertvollen Webspace man für die wehrhaften Bürgerwehr-Gartenzwerge von Pro Chemnitz verschwendet, desto besser. Trotzdem müssen wir das jetzt mal kurz machen: Anscheinend sind die passionierten Chemnitzschützer kürzlich mal wieder mit Chico und Elektroschocker (man weiß ja nie!) um den Schlossteich flaniert, als ihnen ebendort folgendes Schreckensszenario begegnete: Menschen mit Migrationshintergrund, die friedlich auf dem Rasen sitzen und grillen, Tee trinken, Ball spielen oder eben einfach nur Menschen sind. Schockschwerenot! Dabei war unsere schöne Schlossteichinsel — auch bekannt als das Malle von Chemnitz —  bis vor drei Jahren noch fest in deutscher Hand: Nirgendwo anders konnte man besser Sangria saufen im Schwanenboot, mit omnipotenten Teleobjektiven zarte Krokusse fotografieren, im Hochsommer nachts romantisch dem Zirpen der Einweggrille lauschen oder einfach mal ungestört mit ’nem Sterni rumprollen. Doch aus der mallemäßigen Monokultur ist mittlerweile kulturelle Vielfalt geworden — zu viel Vielfalt für die Einfalt des rechtskonservativen Chemnitzer Gemütes. „Chemnitz hat sich gar nicht verändert, da sind wir uns sicher“, schrob Pro Chemnitz dann ganz passivzynischaggressiv über die für einige Chemnitzer anscheinend verstörenden Bilder von Menschen im Freien. Jedenfalls — und auch das ist ein Tipp mit Seltenheitswert — lest euch mal die Kommentare darunter durch: Am Anfang möchte man zwar noch grüne Pfeffibrocken auf die frisch polierte MacBook-Tastatur kotzen, aber dann wird’s richtig gut, dann übernehmen nämlich die Geflüchteten selbst und die Vernünftigen die Kommentarspalte — und die Prochemnitzer werden mal wieder als lächerlich entlarvt. Das Internet kann ja doch noch schön sein. 

Stadtbelebungs-Idee des Monats: Der Hartmannplatz ist ja für vieles gut: Für die Kaisermania und für Kelly-Family-Konzerte, zum Kotzen nach der Woosn, zum mit dem Fahrrad mal richtig durchheizen, zum Monstertruck-Driften, zum generellen Gruseln, wenn mal wieder Volksfest ist. Und jetzt auch zum Zelten. Das will nämlich das Hutfestival (übrigens eine Veranstaltung, auf der man einen Hut tragen soll, um den man sich vorher ein lulatschfarbenes Eintrittsbändchen macht/ nein, das haben wir uns nicht ausgedacht) Ende Mai dort einführen, wie bei einem richtigen Festival eben. Das beste an allen Chemnitzer Festivals war ja bisher, dass man eben nicht zelten musste, sondern selig im eigenen Bette schlummern konnte. Doch eine Übernachtung auf dem Hartmanncampingplatz klingt durchaus verlockend: Wir sehen uns schon Dosenravioli kochen auf dem sonnenheißen Asphalt, Schlange stehen an den Sanitären Anlagen, Wäsche waschen am Flussufer der Chemnitz, mit Badeschlappen zum Strand an den Schlossteich schlürfen, verzweifelt unser Zelt suchen nach dem Trichtertrinkspiel im Stadthallenpark und nachts ganz laut und betrunken Lieder grölen vorm Deibels Fasskeller.

Die Farbe des Monats: Manchmal träumen wir von unserer Stadt, meistens Albträume, in denen Flugzeuge in den Schlossteich stürzen, wie damals bei der Hudsonriverlandung, oder ins Mercure, wie damals bei 9/11. Neulich haben wir geträumt, dass wir mutterseelenallein nachts durch die Chemnitzer Straßen irren und dabei von gemeingefährlichen und selbstverständlich besoffenen CFC-Fans verfolgt werden. Man hat sie nicht gesehen, die Fans, nur gehört und gespürt: Ihr Grölen, ihr ultra-wütendes Trommeln hallte bedrohlich im menschenleeren Raum, Fusseln ihrer Fanschals lagen am Boden verstreut, sie waren überall und nirgendwo, ein himmelblauer Schatten in der Nacht. Als wir dann am nächsten Morgen, es war der 10. April, pünktlich zum Anstoß um 14:00 Uhr aufwachten, haben wir uns gefühlt wie Flasche leer. Und dann kam diese Meldung: Der CFC meldet Insolvenz an (und hat sich damit eine typische Drittliga-Krankheit eingefangen), der CFC steigt vollkommen plötzlich ab und mit ihm die himmelblaue Hoffnung einer ganzen Stadt. Wir trauern. Der Himmel über Chemnitz ist nicht mehr blau, er ist grau und weint dicke Braustolz-Tränen auf die Community-4-You-Arena. Der CFC war immer für uns da, wenn uns mal wieder kein besserer Vergleich und kein schlechterer Chemwitz eingefallen ist, kein Bashing war so einfach wie das CFC-Fans-Bashing, keine Beiträge waren so erfolglos wie unsere Fußball-Beiträge, keine andere Chemnitz-Angst konnten wir so genüsslich ausschlachten wie die Abstiegsangst.  Jetzt müssen wir am Ende doch noch konstruktiv werden, und uns den Kopf über CFC-Rettungsmaßnahmen zerbrechen. Wie wäre es zum Beispiel damit: Das Stadion an Kellnberger verkaufen, der daraus natürlich ein Eventparkhaus mit Bürokomplex und liebevoller Ladenzeile  macht, und sich stattdessen bei RB im Leipziger Zentralstadion, äh sorry, in der „Red Bull Arena“ einmieten. 1860 München hat ja auch mal eine zeitlang in der Allianz Arena gespielt. Stellt euch mal vor, wie schön das wäre, wenn tausende Chemnitzer dann regelmäßig zum Heimspiel mit der MRB nach Leipzig fahren und dann…

Die MRB des Monats:
Wenn aus dem Kaßberger Boho ein gewöhnlicher Chemnitzer Hobo wird, kann es sich nur um einer Fahrt mit der MRB handeln. Heute gibt es zu diesem Thema, zu dem wir schon alles, wirklich alles gesagt haben, mal einen exklusiven Verlauf aus dem geheimen re:marx-Chat vom vergangenen Freitag. 

P.S: Unser Redakteur hat am Ende ganze vier Stunden nach Leipzig gebracht. Vier! fucking Stunden – da ist man ja schneller in Berlin. Oder in Hamburg. Oder auf Malle.

Der Imagefilm des Monats
: Ist zwar aus dem Monat März, dennoch wollen wir euch dieses bahnbrechende Meisterwerk nicht vorenthalten.  Unser Himmel hängt auch immer voller Geigen, wenn wir fuchsfidel in die Bahn nach Burgstädt steigen und in unserem Kopf küsst dann immer die Klassik den Elektro und die Cola die Orange.

Im Anschluss empfehlen wir euch die packende Dokumentation „RB77: Chemnitz Hbf komplette Doku mit Abteilwagen, ER20, 1440, Desiro usw.“, über die Stadt und ihre berühmten Züge.

Was sonst noch geschah:
Chemnitz ist, wenn man mit mickrigen 700 Instagram-Followern im Stadtstreicher zwischen Kraftklub (3985940839458234 Follower) und Maximilian Münch (593482390348584092384 Follower) als Teil der „neuen Popstars“ der Chemnitzer Influencer-Szene gelistet wird. INFLUENCER vor allem. INFLUENCER!!!EINSELF! CAP LOCK. NUR WEIL WIR AUF INSTAGRAM MIT immergleichen, von der eins energie gesponserten Lulatsch-Posts ein bisschen supergutbezahlte Schleichwerbung für Chemnitz machen, sind wir doch noch keine Influencer. Erst, wenn wir nur noch Käsemaik-Hauls, Pfeffi-DIY-Videos und Schlüpfermarkt-Follow-Me-Arrounds drehen, dürft ihr uns so nennen, lieber Stadtstreicher, aber wirklich erst dann.

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