Wir sind der Verkehr: Kritischer Hass.
Wir sind der Verkehr: Kritischer Hass.

Wir sind der Verkehr: Kritischer Hass.

In Chemnitz gibt es ja so bestimmte Typen von Radfahrern: Klapprige Diamant-Ostalgiker, aggressive Meth-Männer auf tiefergelegten Fahrgestellen, Outdoor-Fanatiker mit familienfreundlicher Funktionsunterwäsche und Fixie-Freaks, die an der Kaßberg-Auffahrt absteigen und den Bus nehmen müssen. Manchmal fahren die dann kritisch im Kreis herum und nennen das Critical Mass – bei schlechtem Englisch phonetisch auch leicht verwechselbar mit Crystal Meth. Weil wir professionellen Hassknechte von re:marx dringend mal wieder was zum Bashen brauchten, wollen wir dieser speziellen Gruppe heute einen kulturkritischen Kommentar widmen.

Kaum klopft der Frühling an die Tür, werden für den kommenden Sommer und Frühherbst schon mal prophylaktisch die ersten Critical Mass-Treffen über Facebook angekündigt. An alle Radler: Das Wetter wird schöner, die Straßen sind vom Winterschmutz befreit – wie wäre es da, an der „Critical Mass“ teilzunehmen? Endlich mal wieder richtig schön kritisch sein.

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Innerhalb dieser mobilen Vereinigung von Sonntags- und Schönwetterkritikern scheinen mehrere Trends heftigst Inzucht zu treiben. Wohin das führt, wissen wir ja – vor allem als Sachsen: Zum einen zur Selbstverwirklichung innerhalb einer selbstdefinierten Eigenverantwortung gegenüber Mutter Erde. Zum anderen zum feuchten Traum aller autoritären Persönlichkeiten, die sich gern mal hinter einem harmlosen Kürzel verstecken. Außen ökologische Zweirad-Love-Parade, innen ein heterogener unpolitischer Yuppie-Tuner-Haufen, der immer recht haben will. Für diese Zwecke lässt man sich dann auch gern mal von der Staatsmacht eskortieren, gegen die man als linkes Wischi-Waschi-Bündnis bei jeder anderen Gelegenheit so gern wettert und gegen die sich das Original der Bewegung eben richtete.

Die Neo-Alternative für die Straße definiert sich über ein schwarz-weiß stilisiertes SS-Rad. Single-Speed. Denn Kritikfähigkeit setzt Style voraus, und richtig kritisch wird’s mit fester Nabe. Außerdem prankt im Logo die wütende Faust, die damals das Milošević-Regime zum Fall brachte, und heute von sämtlichen Widerstandsbewegungen samt Occupy kopiert wird. Wer sie allzu empört in die Luft streckt, wenn er zusammen mit 15 anderen Radfahrern die Straße okkupiert, könnte unsanft vom Fixie fallen und sich was brechen. Was zum Mitgrölen und Homogenisieren gibt’s auch noch mit unter die Helme: „We are traffic!“ – das ist das neue Straßenwutbürgertum. Die Radikalsten unter ihnen, so erfuhren wir aus internen Kreisen, fordern sogar die Einebnung unseres schönen Kaßbergs – Erhebungen gehören gemeinhin zum Todfeind des überkritischen Fixie-Fahrers.

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Weil wir lesernahe Volks-Blogger sind, wollen wir unseren Antagonismus mit authentischen Anekdoten aus unserem busbewegten Leben schmücken:

Als es einst zum ultimativen Zusammenstoß zwischen einem CVAG-Busfahrer (von Berufs wegen Straßenking) und einem Radfahrer (Hobbyknecht) kam, wurde ich Zeuge der tiefen emotionalen Spaltung zwischen motorisierter und beinkraftgetriebener Fortbewegung. An der Zentralhaltestelle in die Buslinie 51 gehüpft. Stress. Widerspenstigkeit. Ellenbogen. Kampf um Sitzplätze. Auf Höhe Annenstraße überholt der Bus mit einem sicheren Manöver einen von diesen bärtigen Kraßberg-Single-Speed-Straßenoffizieren. Einer dieser leidenden weißen deutschen Männern. Der Typ zieht eine Pistole, schießt auf den Busfahrer und gefährdet damit nicht nur ihn, sondern auch Studenten. Die zukünftige Elite von Deutschland, Kinder, Mütter, Mütter mit Kindern und andere. Noch mal Glück gehabt: Er hat doch nur Mittel- und Zeigefinger genommen und seinen Daumen senkrecht dazu abgespreizt. Also bloß symbolisch jemanden erschossen und trotzdem einen zusammengehäuften Würfel Menschen, die nur im Notfall miteinander reden würden, in genau einen solchen Notfall gebracht! Symbolisch aber nur.
Einer dieser Hobby-Eric-Zabels also: Treten in Echtzeitübersetzung als Ausdruck eines puristischen Lebensstils. Das individuelle Life-Style-Paket inklusive eines systemkritischen Add-ons. Menschen, die sich als Fahrradfahrer diskriminiert sehen. Kann endlich mal jemand was gegen diese bedrohliche Luxusdiskriminierung unternehmen? Wenn die Baustelle bei Marschners Eiscafe nicht bald fertig wird, dann verschmilzt die Kritische Masse und wird zu einer Atombombe mit der intellektuellen Strahlkraft der Tüte, die bei American Beauty vom Wind hin und her geweht wird.

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Ich persönlich finde nichts geiler, als freihändig und bekifft (ich hab’s da wie der Lance, das große Radvorbild) über irgendeine holprige Feldstraße in den Sonnenuntergang zu fahren, am besten allein, bevor jemand so etwas sagt wie: „Schon schön so…“. Früher haben wir das auch immer gemacht und nannten es ganz einfallslos „Fahrradtour“, aber dank der digitalen Amplifikation und Zusammenrottung grobschlächtigster Subkulturen muss aus allem immer ein präsentierbares Ding gemacht werden, bei dem es dann wieder einen Verhaltenskodex zu beachten gibt: Man mimt den links-alternativen Pseudo-Anarcho und verweist dann auf eine StVo-Sonderregelung. Da ist so deutsch, da fallen jedem Stopschildstehenbleiber vor Neid Arme und Beine ab.
Wir sind im Sommer jedenfalls nach Flöha gefahren und haben uns dann nacksch ausgezogen und im Fluss rumgetollt. Damals wussten wir schon, dass Fahrradfahren Mobilität, Flexibilität, Dynamik und körperliche Fitness symbolisiert und fanden uns total sexy deswegen. Dann sind wir durch Felder gesprungen und haben uns mit Maiskolben versorgt. Wir haben unsere Fahrräder nicht fetischisiert, sondern einfach als uns zur Verfügung stehende Möglichkeit angesehen, von A nach B zu kommen. Manche von uns benutzten es auch, um auf einen Berg zu fahren und dort heimlich zu rauchen. Was wir damals nicht wussten: Man missbrauchte uns für die Interessen der Fahrradlobby, die heimlich die Fäden ziehen will. Am besten alle Straßen komplett aufreißen und dann über Baustellen aufregen. Egal, Hauptsache aufregen. Sollen die Fixie-Freaks doch ihren Straßenkampf führen und hollern und korken und in ihrer Freizeit  Ausnahmerechte provozieren – wir gehen jetzt erstmal unsere Badewannen reclaimen.

 

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