There Ain’t No Cure For Chemnitz.
There Ain’t No Cure For Chemnitz.

There Ain’t No Cure For Chemnitz.

           „Hallo,
ich bin Erich Maria. Ich wohne in Chemnitz. Ich bin hier, um ein Buch darüber zu schreiben. Manchmal tanze ich im Club. Durch die Tanztherapie erhoffe ich mir, endlich meinen Körper mit meiner Stadt in Einklang bringen zu können. Ich bin aber skeptisch.“

Ich stehe in einem fußbodenbeheizten Gymnastikfolterkeller, um mich von einer Anwendung namens Tanztherapie in meine sozialen Schranken weisen zu lassen. Vorstellungsrunde, Paarbildung, über Gefühle reden. Ich will hier raus, ich will mich hinter dem Boxsack verstecken, jemand soll bitte fest zuschlagen. Wir spielen ein Spiel. Es heißt „Führen und Folgen“ – das kennt man in Deutschland ja gut. Dafür bildet man Zweiergruppen: Einer tanzt etwas vor, der andere tanzt es nach. Dann stehen wir im Kreis und sagen, wie wir uns dabei gefühlt haben. Nächste Woche werde ich meinen Namen tanzen.

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Nach dem überwältigenden Erfolg von „Bleich für immer“ gönnt sich re:marx eine Re:ha in Long Beach, Kalifornien.

Mein Name ist Erich Maria Remarx, und ich bin hier nur zur Kur.


Diagnose: Chemnitz – akutes Bored Out, chronische Veranstaltungsleere, Industrie-Smog verkleisterte Lungen, Grauer Star, depressive Verstimmung, Angst, die zur Vermeidung einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der Stadt führt, Flucht in Ironie. Zehn Jahre geht das jetzt schon so, deshalb hat der Arzt eine Kur verordnet. Nun ich bin von der grauen Stadt ans graue Meer gereist, um mein Leben im Dreckscontimoloch aus der Distanz zu betrachten und dann einen Roman darüber zu schreiben, der mich groß raus und aus Chemnitz wegbringen wird und über den ich dann endlich in Markus Lanz‘ abgesetzter Kochshow sprechen kann. „Ein sehr sehr lesenswertes Buch“, wird er dann sagen und ich werde mir nach jeder von Markus Lanz‘ Lanzfragen einen doppelten Pfirsch hinter die Birne kippen.

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Das Re:marx-Triforce ist überall.

Es gibt zwei Dinge, die ich hasse. Falsch. Es gibt viele Dinge, die ich hasse, aber die beiden Dinge, die ich am meisten hasse, sind Sport und Menschengruppen. Jetzt stehe ich in einer multifunktionsbekleideten Menschengruppe in einem nordfriesischen Kiefernwald und dehne meine Muskulatur über Nordic Walking-Stöcken, von dehnen ich mir einst geschworen habe, sie niemals auch nur zu berühren. Zuvor haben wir die Stöcke auf einem vorgeschriebenen Pfad 800 Meter über Stock und Stein durch den Wald geschleift, denn das, so habe ich heute gelernt, ist die lebensnotwendige Technik beim Nordic Walking. Niemals einen Stock vor den Körper setzen, immer hinter herziehen, aber doch mit den Armen nach vorne bewegen, diagonal zum Fuß und kurz damit auf den Boden tippen. Das ergibt ein furchtbar nervenaufreibendes Geräusch – 30 Stöcke, die über den Waldboden kratzen wie damals meine Fingernägel über den schon blutigen Hautausschlag.

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freilaufende Nordic Walking Gruppe auf Seebrücke

Im Speisesaal sitze ich offensichtlich am Misanthropen-Tisch. Ausgerechnet. Niemand spricht, jeder starrt starrsinnig vor sich hin, löffelt schweigend den Salat, den er nun hat. Mir fällt in ästhetischer Slowmotion Schonkost aus dem Mund, Magerjogurt-Dressing spritzt über den Tisch – es ist fast ein bisschen wie das allwöchentliche Remarx-Mensen, nur weniger traurig.
Das Camp-David-Aufkommen ist überdurchschnittlich hoch, vielleicht sogar höher als bei einer stark frequentierten Après-Ski-Party am Uferstrand. Ich bin der jüngste Gast der Klinik, und fühle mich wie ein autistischer Außenseiter. Mitleidige Blicke, kein Gruppenanschluss, Smalltalk-Level -9239489382. Die Leute sind nett, die Leute sind doof, die Leute sind auch nur Menschen. Sie gehen voll auf in ihren Therapieplänen, reden ständig übers Laufen, Walken, Wetter, über ihr Auto und ihr Qi, am liebsten aber über den Kraftraum, den ich noch kein einziges Mal betreten habe. Das lässt sie stark und sportlich wirken, obwohl sie alt und dick sind und ihre Gelenke versagen, worüber sie auch ständig reden. Es ist fast ein bisschen wie vormittags in einer beliebigen Buslinie in Chemnitz, nur weniger traurig.

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Soziale Wüste, Smalltalkparadies.

Mein Name ist Erich Maria Remarx und ich möchte der Thomas Mann von Chemnitz werden, immerhin hat der schon einen eigenen Platz mit Einkaufsgalerie, ich nur einen mittelmäßigbeliebten Blog. Dieses Kurbad ist mein Davos, ich bleibe eine Woche länger. Vielleicht lasse ich mich im benachbarten Ort Witzwort (sic!) nieder, um von da aus Wortwitze zu verkaufen. Und selbstgeschorene Socken aus Schafswolle.
Ich laufe über die Seebrücke, hinein ins Nichts, ins Nirgendwo der Nordsee, niemand ist da. Der Nebel hat alles geschluckt, man sieht nichts, man hört nur das grimmige Grollen der See und das Todeskreischen der Vogelgrippe. Das Skelett eines stillgelegten Spielplatzes, der vor langer Zeit vom Sommer verlassen wurde, ragt in den Dunst. Das könnte das Ende sein oder der Anfang vom Ende des Anfangs. Ab und an spuckt der Nebel Menschen an den Strand wie die See kleine Einsiedlerkrebse. Sie verschwinden wieder im Nichts, im Nirgendwo, aus dem sie gekommen sind: Ein Mekka für Misanthropen. Ich kneippbade im nihilistischen Nebel.

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Küstennebel.

Ich scheiß‘ auf Chemnitz, ich hasse Chemnitz, ich vermisse Chemnitz. Ich möchte unbedingt meine Ruhe, ich möchte unbedingt Kontakt zur Außenwelt. Mir wird dubioses Bildmaterial aus Re:marx-Kreisen zugespielt. Jetzt kann ich mein Qi nicht mehr finden. Mein Chi, Hatschi, Gesundheit, Gong. Weil mir das dritte Bein noch fehlt, das mir imaginär aus dem Steiß wachsen sollte, wie die Chai-Gong-Lehrerin erklärt, was mir das leicht perverse Gefühl gibt, ich sei eine seltene Reaktorunfall-Mutation. Ich atme kriminelle Stadthallenpark-Energien irgendwo hin, ich schiebe alles Negative beiseite, ich lasse lulatschfreie Luft in meine Achseln strömen, ich presse die schlechte Zenti-Stimmung mit beiden Händen nach vorn und atme kampfsportartig aus wie ein professioneller Chinese früh morgens im Park, aber ich finde meine innere Mitte nicht. Meine innere Mitte liegt siebenhundert Kilometer entfernt betrunken an der Zenti und weint leise vor sich hin.

Es ist Montag, und im Speisesaal der Klinik ziehen hinter vorgehaltenen Händen schon die ersten Skandale ihre Kreise.
Es ist Montag, und ich habe heute im Edeka eine Tüte Chips und eine Dose Bier mit Grapefruit gekauft und anschließend ganz hinten im Kleiderschrank versteckt. Im Fach für Guilty Pleasures, gleich neben dem Bild von Miko Runkel, das ich nachts heimlich beweine, wenn ich Heimweh habe. Also nie. Oder immer.

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Dünen lügen nicht.

Mein rechter Arm ist gaanz schwer.
Mein rechter Arm ist gaanz schwer.
Mein rechter Arm ist gaanz
schwer?
Mein rechter Arm ist gaanz

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Schiffemetaphern versenken.

Ich liege auf einer Matte und höre Bäuche gluckern und Männer schnarchen: Autogenes Training. Der Psychologe säuselt Anleitungen zu Esoterik-Musik, und im besten Fall schläft man dabei fast ein, aber eben nur fast.
Ich bin ganz ruhig und entspannt.
Ich bin ganz ruhig und entspannt.
Ich bin ganz ruhig und

dann
logge ich mich bei Facebook ein. Keine neuen Nachrichten. Chemnitz ist noch nicht zusammengebrochen oder abgebrannt oder zubetoniert, und das, obwohl ich schon zwei Wochen weg bin. Wie kann das sein!?
Immerhin scheint wenigstens Re:marx ohne mich still zu stehen. Das ist gut! Nein, das ist schlecht! Muss Hassnachricht schreiben. Ich bin wütend,
ich bin ganz aufgeregt und wütend,
ich bin ganz aufgeregt und wütend.
Ich gehe zum Aquafitness-Kurs und hasse alle.
Ich gehe an die See und starre in die aufgewühlten Fluten.
Ich will allein sein, aber nicht einsam.

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Ebbe bei Re:marx.

Ich sitze hüpfend auf einem grünen Gummiball und schlage stramm auf ihn ein wie ein CFC-Hooligan auf einen Aue-Ultra. Neben mir keucht und stöhnt ein weißhaariger Goldkettchen-Willi als führe er gerade den Kampf seines Lebens gegen einen gigantischen Schwertfisch. Es geht um alles. „Man muss sich schon richtig anstrengen, um auch richtig entspannen zu können im Leben“ ruft die Therapeutin mit schriller Stimme. Ich nicke euphorisch, während ich mich auf dem Ball bis zum Erbrechen verausgabe und wie gewohnt alles gebe. Das war schon immer mein Lebensmotto.

Tanztherapie, zweite Stunde. Heute geht es darum, Räume zu tanzen, personal spaces und so. Bei den meisten mündet das in einen waldorffartigen Ausdruckstanz: Sie umarmen sich selbst, sie sitzen auf dem Boden und wippen leidend hin und her, machen komische Sachen mit ihren Händen, sie lassen es richtig raus. Es ist wie in einem Simon von Verhoeven-Film über Frauen in den Wechseljahren oder promiskuitive Hippies mit betont wild wechselnden Frisuren. Dazwischen stehe ich, peinlich berührt und heimlich amüsiert. Ich habe mich noch nie so verloren gefühlt.

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Daniel Priel, 1
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Daniel Priel, 2.

Jemand schießt in die Luft. Bäng! Der Schuss zerreißt die nächtliche Stille. Ich schrecke aus dem Schlaf, Herzrasen, kalter Schweiß auf der Stirn. Für einen kurzen Moment ist alles wieder da: Der Sonnenberg, Hakenkreuz-Graffities, die Party Ohne Grund-Memes, das Knistern der Feuer, die in den Mülltonnen lodern, heulende Sirenen, die finsteren Treppenhäuser halbsanierter Fassmann-Immobilien, die Atmosphäre in der Bazillenröhre, „Bleich für immer“. Wo bin ich? Und wenn ja – wie lange noch? Ich schalte das Licht an. Jemand hat geschossen, vier Uhr morgens, im Wald, in einem schlafenden Kurbad. Angst! Vielleicht war es ein genervter Einheimischer, der für Attentat auf multifunktionsbkleidete Menschengruppen mit Nordic-Walking-Stöcken trainiert. Vielleicht war es die Re:marx-Crew, die im Zeisigwald eine Eule erlegt hat: Message received.

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Nordic Walking Route 16, kugelsicher.

„Nun, Herr Remarx. Weswegen sind sie denn bei mir?“
„Also, es ist so: Ich lebe in Chemnitz“
„Warum?“
„Na, das ist halt einfach irgendwann passiert, das bekommt man ja einfach, auto-immatrikulation, mit achtzehn“
„Warum mit achtzehn?“
„Na, das kann ja immer passieren, jedem, in jedem Alter“

Der Psychologe starrt mich an, wässrig blaue Augen. Er zwinkert nicht. Er sieht aus wie Otto Waalkes, nur mit mehr Haaren. Ewiger Friesenjunge. Er könnte 30 sein, oder 70. Ich rutsche peinlich berührt im Sessel hin und her, schaue aus dem Fenster, reges Mittwochvormittagtreiben im Kurbad.

Stellen sie sich doch mal vor, sie sind gar nicht krank, sie leben gar nicht in Chemnitz, sie sind gesund und die Stadt ist toll.“
„Ja total, Sie haben recht“, sage ich. („Waren Sie schon mal in Chemnitz?“, denke ich.)
„Sie müssen da anders herangehen. Nicht davon ausgehen, dass Sie in Chemnitz leben, sondern davon, dass Sie gesund sind. Und ja, vielleicht werden Sie aus Chemnitz dann irgendwann weggehen!“
„Also, ich kann aber gar nicht mehr weggehen! Das ist irreversibel und die Diagnose wurde vor zehn Jahren gestellt und ich bin immer noch da, das ist unheilbar“, sage ich aufgebracht.
„Sehen Sie“, sagt er, „Sie glauben ja doch nicht daran. Alles was ich gerade gesagt habe, umsonst.“
Ich schweige zum Fenster hinaus, er zwinkert nicht.

„Äh. Und jetzt?“
Er erzählt von totgeglaubten Krebspatienten, die doch überlebten, und malt etwas auf einem Zettel, eine Skizze, es ist das Ich. Zehn Prozent sind Verstand, 90 Prozent sind Unterbewusstsein, sagt er. Mit dem Verstand kann man das Unterbewusstsein kontrollieren, aber wenn man nicht aufpasst, übernimmt das Unterbewusstsein die Kontrolle über den Verstand. Ich verstehe und simuliere die Bereitschaft, meinen seelischen Zustand, meine Angst und mein ewiges Vermeiden durch positives Denken zu minimieren.
„Haben Sie schonmal versucht, in einer Stadt wie Chemnitz positiv zu denken?“

„Sie können gerne weiterhin zu mir in die Sprechstunde kommen“, sagt er.

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Reha ist lit vong Sonnenuntergang her.

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