Die Post der Moderne: Was im Oktober in Chemnitz geschah.
Die Post der Moderne: Was im Oktober in Chemnitz geschah.

Die Post der Moderne: Was im Oktober in Chemnitz geschah.

Es ist Herbst in Chemnitz, der Sommer hat sich verabschiedet und mit ihm die unzähligen Erfolgsfans der Stadt. Die meisten von ihnen kamen eh nur, um coole Selfies mit den angesagtesten Nazis und meistgefollowten Faschofluencern der Republik zu machen, manche aber auch, um auf Kunst- und Musikfestivals in der sengenden Sommerhitze leichtfüßig in Pfeffiblasen zu tanzen. Aber der Sommer ist in Chemnitz schon länger weg, hier ist schon Ende August schlagartig alles braun und kalt und aus den Pfeffiblasen ein Schnapssumpf geworden, der CFC verliert keine Spiele mehr, an die Nazis hat man sich erschreckend schnell „gewöhnt“ — wer jetzt noch in Chemnitz ist, muss entweder Die-Hard-Fan oder anderweitig ruiniert sein. Herbst in Chemnitz ist nur für die Härtesten, für Leute, die drei Stunden lang im Nieselregen auf ein Taxi warten, die sonntags zu Emmas Onkel gehen, ohne vorher einen Tisch zu reservieren, die im Bus  hinten einsteigen, im Stadthallenpark Alkohol aus Glasflaschen trinken, unbewaffnet über den Sonnenberg laufen und den Lulatsch als unerträglich bunte und widerlich lebensfrohe Perversion empfinden. Für Leute also, die die Post der Moderne immer bis ganz zum Ende durchlesen.

Das Sicherheitskonzept des Monats:
Weil Chemnitz weder grau noch braun, sondern dunkel und einsam ist, also zumindest nachts, feilt die Stadtverwaltung aktuell an einem noch sichereren Sicherheitskonzept. Die Überwachungskameras sind am Datenschutz gescheitert wie Facebook an seinem eigenen Algorithmus, das angedachte Innenstadt-Waffenverbot wurde vom Stadtrat abgelehnt, also entwickelt man jetzt lieber ein Konzept für ein ganz besonders gefährdetes Chemnitz-Kulturerbe, genau: Parkplätze. Die einfachsten Lösungen sind ja immer die besten, und vielleicht braucht es ja keine Kameras, Verbote und Eingreiftruppen in der Stadt, vielleicht braucht es Parken für mehr Sicherheit. Überhaupt Parken: Parken gegen Gewalt, Parken für den Weltfrieden, Parken gegen den Klimawandel, Parken für eine autofreie Welt.
Parkplätze sind die Safe-Spaces von Chemnitz, die Buchten, die für uns Chemnitzer Heimat bedeuten, und genau deshalb investiert die Stadt jetzt in sichere Parkplätze. Also äh für Frauen, die können ja bekanntermaßen weder gut Auto fahren noch einparken, #parkengegensexismus, und nicht alleine ohne den gespitzten Wohnungsschlüssel in der Hand durch die Nacht laufen, das wiederum ist ernst gemeint. Aber jetzt wird alles besser, denn die Stadt plant 50 exklusive Frauenparkplätze am Johanniskirchen-Parkplatz, der nächstes Jahr allerdings zum Supermarkt umgebaut werden soll. Diese Parkplätze sind so sicher wie die Panzerglasfolie auf eurem neuen iPhone Xs, denn sie sind, tadaa, beleuchtet. Licht als Mittel der Gewältprävention — das klingt ungefähr so sinnvoll wie Heckenstutzen gegen Drogenkriminalität oder Hitlergrüße gegen Rechts. Doch die Stadt flattert immer wieder ins Licht wie Motten im Nena-Song, und möchte zusätzlich zu den Parkplätzen noch mehr superhelle Supernova-Lampen in der Innenstadt installieren. Immer wenn man denkt, in Chemnitz geht nichts mehr, kommt von irgendwo ein LED-Lichtlein her — das hat beim Lulatsch funktioniert, das hat den Hauptbahnhof zum Architekturpreisträger und den Brühl zum Szenekiez gemacht, das wird auch das angeknackste Sicherheitsgefühl wieder aufpäppeln. Außerdem spart man so wertvolle Energie, die man die CFC-Rettung stecken kann. 

Die Idee des Monats:
“Gebt die EM nach Chemnitz” titelte Zeit Online neulich ziemlich ostimistisch, und wir saßen so vor unserem Rechner und dachten ganz tiefsinnig:
LOL.
“Das EM-Finale muss nach Chemnitz. Nicht wegen der Nazis, sondern wegen der sehr vielen Nichtnazis”, schreibt Oliver Fritsch, und nennt als weiteren ausschlaggebenden Grund: Michael Ballack, klar. Eigentlich geht es darum, dass der Osten vom Fußball-Zirkus weitestgehend rechts liegen gelassen wird: Neun der zehn Austragungsorte der EM 2024 befinden sich in den alten Bundesländern, der Osten besteht quasi nur noch aus Leipzig, auch so generell, und könnte ein bisschen mehr farbenfrohes Fußballfest vertragen. Das mag alles richtig sein, auch wir glauben immer noch an die identitätsstiftende und integrative Kraft des Fußballs — aber ein Endspiel in Chemnitz wäre so, als würde man El Clásico auf einem bolivianischen Bolzplatz austragen oder Julia Engelmann beim Superbowl singen lassen. Wir sehen schon Fans aus aller Welt mit dem Ringbus ans Gellertstadion reisen, die Bazillenröhre als Fanmeile, den Nischel im Schland-Trikot und davor zwanzig lächerliche Deutschlandfahnenschwenker, die gegen einen Nationalspieler demonstrieren, der die Hymne nicht mitsingt, Jogi Löw bei der feierlichen Einweihung der Ballack-Statue am Neumarkt, vor allem sehen wir: Ein neues CFC-Stadion. Mit 88.000 Sitz- und Stehplätzen und herausrollbaren Rasen wie auf Schalke, ein Bollwerk gegen den Rechtsradikalismus, ein neuer Schuldenberg für den Insolvenzverwalter Peter Zwegert, den Steuerzahler, den Lulatsch. Wenn sich der Totale Ruin für eine Sache lohnt, dann doch für den Endsieg ääh das Endspiel in Chemnitz.

Die Serie des Monats:
Leipzig, das Leipzig Sachsens, bekommt seine eigene Doku-Soap auf RTL 2, sein eigenes Berlin Tag und Nacht, und wir bekommen allein bei der Beschreibung einen Brechreiz:
„Die neue RTL II-Vorabend-Soap „Leben. Lieben. Leipzig“ […] greift das hippe Lebensgefühl der Leipziger auf und erzählt authentische und packende Geschichten rund um den turbulenten Alltag von Yvonne und ihren Freunden.“
Superauthentische Hipstergeschichten aus der „heimlichen Hauptstadt Sachsens“ also: Eine Protagonistin, die eine pinke Würstchenbude betreibt, aber lieber das Werbegesicht eines Prollclubs namens „L1“ sein würde, ein Typ, der aus dem Mali-Einsatz zurück kommt und feststellen muss, dass sein Bruder die gemeinsame GoGo-Bar ruiniert hat. Genau die Gründe, für die man so gerne nach Leipzig zieht, genau das Lebensgefühl, das man in Lindenau sucht. Warum immer nur Leipzig, fragen wir uns, warum nicht mal andere sächsische Provinzstädte,  warum nicht „Nie. Wieder. Niederwürschnitz“ oder „Fünfzig Fäuste für Freital“  oder „Beleben. Belieben. Burgstädt“ , „Glatzen. Glotzen. Glauchau“ oder eben: „Chic, charming, Chemnitz“:
Chemnitz ist jung, dynamisch, liebenswert, modern und herzlich. Eine Stadt für Trendsetter und alle, die es werden wollen. Der muskulöse Maschinenbauer Chico kommt vom Ballermann-Urlaub zurück und erfährt, dass sein Bruder Rico den gemeinsamen Szeneclub Sax ruiniert hat und jetzt lieber mit Chicos Freundin Susi im N’Dorphin auf dem Hakkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkkke-Floor rumhängt. Währenddessen zieht Sandy vom boring Burgstädt ins crazy Chemnitz, um sich dort ihren Traum vom KRACH-Projekt „eigenes Nagelstudio mit Friseursalon und Matratzenverkauf“ zu erfüllen — dabei verliebt sie sich in den Drei-Sterne Methkoch Marcel, doch Marcel entpuppt sich als ihr heimlicher Halbbruder. 

Die Brandstifter des Monats:
In Chemnitz brennen türkische Restaurants, in Chemnitz werden persische Gaststätten angegriffen und „ausländische“ Einrichtungen jetzt polizeigeschützt. Die Funken der verbalen Brandstifter, die freitags immer ideologisch vorm Marx-Kopf zündeln, scheinen auf die Straßen übergesprungen zu sein. Das ist nicht nur voll NSU, das ist auch total NSDAP, und es tut einfach nur weh: Schließlich gibt nichts Besseres auf der Welt als internationale Küche (na gut – und Rouladen), nichts Integrativeres als Esskultur. Mit Chemnitz ging es bis vor kurzem noch bergauf, so zumindest das Gefühl, gerade weil gleich zwei persische Restaurants und eine syrische Konditorei direkt neben dem AfD-Büro eröffnet haben, weil man Samstagabend beim Armenier Wodka trinken und traditionelle Volkstänze lernen kann, weil man im El Mina mit Minze, Rosinen und Granatapfelkernen gefüllte, frittierte Bulgurbällchen essen, im Schalom koscheres Bier und Blinzes bestellen und drei Meter weiter im Yasmin die Knoblauchfahne hissen kann. Weil genau das eine Stadt lebenswert macht. In einer Stadt aber, in der internationale Küchen und Menschen Angst haben müssen, in der man sich eingeschüchtert und ins Jahr 1933 zurückversetzt fühlt, in der Stadtklima und Zusammenleben mit Hass vergiftet werden, möchte man einfach nicht leben. Und dann wird man schwach und ist dem harten Herbst nicht mehr gewachsen und verliert die Kontrolle über sein Chemnitzleben und erwägt tatsächlich kurz, nach Berlin zu ziehen oder nach München, jetzt wo die Bayern plötzlich progressive Grün-Wähler sind.  Dann fällt einem aber wieder ein, dass man sich die Mieten dort eh nicht leisten könnte, und dass man sich auch nicht einfach verpissen und die Stadt sang und klanglos ihrem Verderben überlassen will. Deshalb bleibt nur eines: Sich gegen den Hass und die Angst engagieren, tapfer bleiben. Das klingt immer so leicht, das ist es aber nicht. Man kann jedoch klein anfangen: Öfter international essen gehen und das ganze Geld, das man hier bei den Mieten spart, in die persischen, libanesischen, arabischen, jüdischen, armenischen, türkischen etc. Küchen dieser Stadt schaffen. Prost, Mahlzeit, Chemnitz!

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