Gut bei Filterblasenschwäche: Chemnitz zum ersten Mal.
Gut bei Filterblasenschwäche: Chemnitz zum ersten Mal.

Gut bei Filterblasenschwäche: Chemnitz zum ersten Mal.

Das Jahr 2018 ist zwar mittlerweile länger her, als es überhaupt dauerte, also so zeitgefühlt, aber das ist uns egal, denn wir praktizieren jetzt neuerdings JOMO. Das klingt wie eine Mischung aus aryuvedischem Yoga und teurem Tee mit Hippiesprüchen aus dem Bio-Supermarkt, und das ist es im Prinzip auch, nämlich die biedermeierliche „Joy Of Missing Out“ –  der beste Miss-Titel seit der Miss Atom.

Während 2018 die FOMO, die Fear of Missing Out, die mit Abstand angesagteste Trendneurose war, vor allem in Chemnitz, gilt es sich jetzt erstmal zu erholen von all dem, was man 2018 nicht verpasst hat. In Chemnitz hat man 2018 so viel nicht verpasst, dass das berühmte Chemnitzer Ruhebedürfnis in seinen Grundfesten erschüttert und in träge Erschöpfung eingemummelt erstmal nur noch auf dem Sofa liegen und das Haus nicht mehr verlassen will. Muss man ja auch nicht: Dank Instagram weiß man immer, wer wann wie viele Schnäpse im Atomino getrunken oder sich beim Boarden auf dem Fichtelberg die Beine gebrochen hat, ohne dafür raus gehen oder, noch schlimmer, soziale Kontakte pflegen zu müssen. Viele verwechseln die akut grassierende JOMO mit den bestialischen Bürden des Älterwerdens, aber da können wir euch beruhigen: Das ist nicht das Alter, das ist der Winter, und weil der im Gegensatz zum Alter vorbeigeht und auch wir weitermachen müssen, wird es endlich Zeit für die große, tränendrüsige re:marx-Neujahrsansprache, auf die ihr alle so lange gewartet habt.


Rückblickend auf 2018 könnten wir hier nochmal die große Gesellschaftsanalyse auspacken, wir könnten den hässlichsten Hitlergruß küren, das methste Infused-Water-Rezept, die roteste CFC-Zahl preisen, die unpopulärste Stadtratsentscheidung oder die langweiligste 875-Jahre-Veranstaltung, aber das kennt man ja alles schon. Lieber wollen wir eine persönliche Erfahrung mit euch teilen. Denn 2018 hatten wir uns zur Aufgabe gemacht, so viel wie möglich Sachen in Chemnitz zu machen, die wir noch nie zuvor gemacht haben. Was gar nicht so schwer war, denn wir haben ganz viel in Chemnitz noch nicht gemacht: Wir waren noch nie im Stadtpark joggen, wir waren noch nie im Stadtbad schwimmen, ja okay das ist Sport, das mag eh keiner, besser und unser vielleicht intimstes Geständnis: Wir sind noch nie auch nur eine einzige Runde Parkeisenbahn gefahren. Denn eigentlich kreist man immer auf denselben Umlaufbahnen durch die Stadt: Man trifft sich immer im gleichen Cafè, trinkt immer an den gleichen zwei Bars, isst immer in den gleichen drei Imbissen, und trifft dabei immer die gleichen Leute. Das liebt und das hasst man so an dieser Stadt, aber das ist in den anderen “coolen” Städten, die man als Chemnitzer so sehnsüchtig romantisiert, angeblich auch nicht großartig anders. Man bubbelt in einer Blase durch die Welt, und wenn sie dann, wie im letzten August in Chemnitz, brutal platzt, ist man erstmal ziemlich hilflos.

Weil „Raus aus der Blase“ die neue JOMO ist, haben wir unsere zynisch-graue Chemnitz-Welt 2018 öfter mal verlassen: Wir waren beim Basketball und haben nichts verstanden, wir haben uns auf der Esoterik-Messe fast mit einem Reptiloid geprügelt, im Gablenzer Bad Eiserne Kreuz-Tattoos gezählt, wir haben SMS von der antiken Brühl-Telefonzelle geschrieben und mit einem rosa Flamingo den Schlossteich überquert, wir sind in eine Familienfeier in einem Vereinsheim geplatzt und haben Schaschlik mit Nudelsalat bekommen. Wir waren zum ersten Mal auf dem Chemnitztal-Radweg, in der Gablenzer Gartensparte, mit dem Rad oben am Stausee in Rabenstein, im Ballett, beim Nachtflohmarkt und beim Hexenfeuer des Kosmonautenzentrums, auf der Manga-Messe im Kraftwerk, im Naturbad Niederwiesa, mit dem Fahrrad an der Bockwursttankstelle, beim feierlichen Baumaufstellen, bei einem interreligiösen Dialog im Gunzenhauser und so weiter.
Besonders ist uns dabei ein Abend im Armenischen Restaurant hängen geblieben: Eine kalte Winternacht, dunkel war’s, der Lulatsch schien helle, das wohl berühmteste Oxymoron der Chemnitzer Poesie.  Es gab Fleisch und Knoblauch mit Fleisch und Knoblauch. Am Samstag ist beim Armenier immer Live-Musik, das kostet paar Euro Eintritt, weshalb man eine Folklore-Tanzgruppe in Tracht erwartet, stattdessen aber eine Art Alleinunterhalter-Show kredenzt bekommt: Ein DJ spielt kaukasische Hits und “Moskau” von Dschingis Kahn, der Wirt selbst performt dazu am Mikrofon und gibt nebenbei Wodka aus, immer wieder kommt die Kellnerin mit dem Schnapstablett an den Tisch, so lange bis man tanzt. Die deutschen Gäste am Nebentisch ziehen von so viel Lebensfreude vollkommen überfordert grimmige Chemnitz-Gesichter, der Rest tanzt: Die Armenier und die Syrer zeigen sich gegenseitig ihre Volkstänze und Solidarität in der Diaspora, die russische Community macht auch mit und am Ende trauen sich sogar drei Deutsche zu Boney M. aufs Restaurantparkett.
Man fühlt sich wie in einem Arthaus-Film über einen chaotischen Roadtrip, bei denen die Protagonisten unverhofft in eine skurille Szene stolpern und irgendwann im Rausch vereint mit Fremden auf den Tischen tanzen.

Die Stadt ist nicht nur die Welt, in der sich die Subkultur intellektuell an schummrigen Bars betrinkt oder zu mickrig besuchten Konzerten über den neuesten Houellebecq diskutiert, in der sich Kaßberger Bohème mittags zum tofulosen Tofu-Gulasch-Essen in der Grünen Helene trifft. Die Stadt ist auch die Welt, in der sich Frauen über die Lady’s Night im Bexstage  freuen, in der sich Familien im Schnitzel-XXXL-Restaurant einen Tisch reservieren, in der Paare im Meyer’s Diner zu Rockabilly tanzen, CFC-Fans samstagnachmittags die Schiris beschimpfen, in der die Senioren regelmäßig fein herausgeputzt ins Sinfoniekonzert gehen und Best-Ager in voller Outdoor-Fahrrad-Montur sonntags zu Marschners radeln. Man sollte die eigene, kleine Welt viel öfter verlassen und sich ins vermeintliche Paralleluniversum wagen, um die Dynamik der Stadt, um die Stadt an sich besser zu verstehen.

Unser Lifehack für’s junge Jahr 2019 heißt deshalb: Noch viel mehr dergleichen machen. Das ist nicht nur eine geistige Dehnübung für einen flexibleren Horizont, das verändert auch die fliterblasige Wahrnehmung der Stadt, außerdem hat man dann viel bessere Geschichten zu erzählen und kann daraus populäre Insta-Stories machen und endlich Influencer werden. Also ab zum Tanztee ins Pentagon3, zum Lattenfreitag ins Bexstage, zum Nepalese oder ins georgische Bistro auf dem Brühl essen, mal ins Eisenbahnmuseum, zur Flirtdisco oder zum Bowling ins Sporthotel im Stadthallenpark, zur großen Chemnitzer Pferdenacht, in die Oper zu Wagner oder in einer Gartensparten-Kneipe Ragout-Fäng mit Pommes essen und drei Tage lang nach Frittierfett stinken. Es lohnt sich.

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