Der Marx regelt das: Kleine Einführung in die Chemnitzer Marxwirtschaft
Der Marx regelt das: Kleine Einführung in die Chemnitzer Marxwirtschaft

Der Marx regelt das: Kleine Einführung in die Chemnitzer Marxwirtschaft

Auch wenn manche gerne das Gegenteil behaupten, so hat die Stadt Chemnitz doch einiges zu bieten: Fotomotive, mit denen man selbst die Happy-Wohlfühl-Plattform-Instagram in ein düsteres Netzwerk Noir verwandeln kann, oder Profilneurosen, bei denen langweilige normale Städte gentrifiziert vor Neid werden, oder eine Cringe-Abgebrühtheit, wie man sie sonst nur vom ZDF Fernsehgarten kennt. Chemnitz kennt keinen Cringe. Chemnitz ersinnt sich regelmäßig kleine Peinlichkeiten und pinnt sie sich mit nahezu rührendem Stolz an die städtische Brust, Chemnitz schämt sich für nichts – und das ist fast schon wieder bewundernswert. 
Doch es gibt auch Leidtragende, Cringe-Erlebende, die sich vor Fremdscham kringelnd vorm Computer winden, wenn die Stadt mal wieder stolz eine ihrer infantilen Ideen zelebriert. Und es gibt einen, der sich nicht mal wehren kann, wenn ihm aufblasbare Hüte übergestülpt werden oder wenn er zum Sprechen gezwungen wird, obwohl er doch eigentlich nur schweigen will. Der Marx-Kopf, unser Nischel, allein sein Spitzname ist Schlimm-Level 3000. Seit 50 Jahrmillionen steht er nun an der Brückenstraße und schweigt streng in die Stadt hinein, mit der er eigentlich gar nichts zu tun hat, ein alter weiser Mann, an dem die Chemnitzer Peinlichkeiten abzuprallen scheinen wie wissenschaftliche Argumente an Corona-Leugnern. Dabei hat in den letzten 50 Jahren kaum jemand gefragt, wie es ihm eigentlich geht. Manche sagen, er sei die Mona Lisa von Chemnitz und wollen ein leises Lächeln im grauen Gesicht erkennen, andere behaupten, er sei das Vorbild, nach dem die Chemnitz-Fresse in den Nachwendejahren modelliert wurde, wiederum andere sehen ihn als personifizierten Linksrutsch-Luzifer oder als creepy alten Mann, der permanent die Stadt stalked, dann gibt es wieder Leute, die sagen, dass er einfach nur in Ruhe gelassen werden will. Nur die Stadt lässt ihn nicht. Sie hat ja nur ihn, der symbolische Anker einer Stadt ohne Selbstwertgefühl, das Ersatz-Gesicht einer Stadt, die kein  richtiges Image hat. Sie projiziert alles, was sie nicht haben und nicht sein kann, auf die bronzene Büste eines Mannes, der offensichtlich immer noch oder vielleicht auch immer mehr am Kapitalismus verzweifelt, und von den Chemnitzer Komplexen gar nichts ahnt. Weil das so ist, hat sich Chemnitz über all die Jahre einfach eine ganz eigene Idee von Karl Marx ersponnen, und die trägt völlig unverfroren Deutschland-Trikot, macht ständig schlechte Witze und kooperiert mit der Sparkasse. Wir haben uns gefragt: Was soll das eigentlich? Was hat das Chemnitz-Leben nur aus Karl Marx gemacht? Zeit für eine Einführung in die Chemnitzer Marxwirtschaft.

Kapital schlagen: Karl Marx, also der echte, der Philosoph aus Trier, gilt als ultimativer Kapitalismuskritiker, dessen Thesen in Teilen bis heute aktuell sind, aber egal. Denn Karl Marx, also die Chemnitzer Kopie, ist ganz anders drauf, und vermutlich sogar Mitglied in der FDP. Jedenfalls arbeitet er schon länger als Testimonial für die Chemnitzer Sparkasse und posiert dort völlig unverfroren auf der Kreditkarte, so als hätte das Original nie die Abschaffung des Privateigentums gefordert. Generell trifft man ihn überall dort, wo sich in Chemnitz Geld verdienen lässt, und man ist sich nicht so sicher, ob die Chemnitzer Kopie überhaupt noch an eine klassenlose Gesellschaft glaubt. Dabei prangt hinter ihm extra ein gigantisches Wandtattoo mit „Proletarier aller Länder vereinigt euch“-Spruch, das ist eine Art „Carpe Diem“ des Kommunismus. Doch auch vor dem stylischen Relief mit share-freundlichem Sinnspruch macht der Chemnitzer Marx nicht den Anschein, die antikapitalistischen Werte von früher heute noch wirklich zu vertreten, und man wirft ihm nicht umsonst immer wieder Ideal-Verrat und Ausverkauf vor: Mal trägt er Deutschland-Trikot mit Mercedes-Stern drauf, mal blättert er tagelang im Ikea-Katalog, mal lässt er sich von einer Werbeagentur laue Kalauer in den Mund legen. Vielleicht ist die Sinneswandlung des Chemnitzer Marx auch nur eine dieser typisch ostdeutschen Biografien: Zu DDR-Zeiten musste er unter Mangelwirtschaft leiden und war in seinem speziellen Fall quasi auch noch selbst daran schuld, seit der Wende ist er einem kompensatorischen Konsumhedonismus verfallen und gönnt sich selbst hemmungslos und anderen nichts.  So wurde der Nischel zum glühenden Kapitalisten, und wir würden uns nicht wundern, wenn er auf der Brückenstraße demnächst einen Supermarx, einen Marx Donalds, einen Karlbucks, eine Hotelkette und einen Karls Erdbeerhof eröffnen würde.

Karl-Merch-Monument: Karl Marx, also die Chemnitzer Version, ist offensichtlich ein monetär umtriebiger Status-Boomer, der auf Kapitalismuskritik scheißt. Deshalb hat der Nischel auch mehrere Merch-Kollektionen am Start, mit denen er unschuldigen jungen Sozialismus-Stans regelmäßig das Geld aus den Bauchtaschen leiert und für deren Herstellung vermutlich Arbeiterinnen in Bangladesch ausgebeutet werden, aber was interessiert den alten Marx schon sein Geschwätz von gestern? Es gibt T-Shirts, Stoffbeutel, Socken, Deko-Miniaturen, Weihnachts-Tassen, USB-Sticks, Schlüpfer, Pärchenhoodies, eine eigene Party-Straße in Leipzig, ein eigenes Bier, einen eigenen Pfeffi, Schnapspralinen, allerdings noch kein Räuchermärxchen. Das meiste davon ist eher schlecht gemacht oder zumindest völlig banal, Ästhetik ist dem alten Punk egal. Gekauft wird der Marx-Merch allerdings gar nicht unbedingt von konsumorientierten Kommunismus-Fans, sondern hauptsächlich von Chemnitzer:innen, die sich und Menschen aus richtigen Städten beweisen wollen, dass Chemnitz auch cool und edgy sein kann, dabei aber vergessen, dass so eine sozialistische Marx-Büste auf dem Shirt auf manche auch seltsam und vor allem unangemessen ostalgisch wirken kann. 

Das ist Wahnsinn: Ein Gespenst geht um in Chemnitz: Es ist die Wortspielhölle, durch die Karl Marx’ Name immer wieder getrieben wird und vor der sich selbst abgehairtete Friseursalons und Werbetexter:innen fürchten. In der Wortspielhölle lodert eine brutale Pseudo-Orginalität und lässt alles mit einander verschmelzen, wo sich Marx und Karl implementieren lässt, siehe die Überschrift dieses Textes. Manchmal spuckt die Hölle natürlich auch Geniales aus, „re:marx“ zum Beispiel, hust naja, meistens aber eher nicht. Trotzdem sind Karl und Marx die zwei beliebtesten Chemnitzer Vornamen, gleich nach „Kultur“:  Es gibt Karls Kunsthaus, Karl liebt Käthe, Charlies Kulturkutsche, das Marxmobil, Karl Macht Stadt, den kapitalen Trunk, Karlskopf, es gab die „Stadt mit Köpfchen“ und es gibt immer wieder „Karl Mags“-Behauptungen. Karl Marx mags vermutlich aber überhaupt gar nicht, oder habt ihr den Nischel schon einmal über einen dieser Witze lachen sehen? Vermutlich ist er aber nur noch nicht so richtig überzeugt, denn mal ehrlich, das Wortspielgame ist noch lange nicht durchgespielt: So lange es keine Projekte und Insta-Accounts namens Karlifornien, Karltour-Hauptstadt, Karl Me By Your Name, Karlmarxutra, Chemnitz Karling, Marxtape oder Makermarx gibt, wird der Nischel wohl so schlecht gelaunt bleiben.

Doing it for the gram: Seitdem auf Instagram Brutalismus der neue Jugendstil und Sowjet-Architektur der neue coole Anti-Kitsch ist, treibt sich auch der Nischel verdächtig oft auf der Plattform rum und ist am Ende mindestens ein genau so unkritischer Facebook-Lemming wie wir alle. Was Karl Marx, also der echte, zu Tech-Konzernen wie Facebook gesagt hätte, weiß man ganz genau: sofort enteignen. Karl Marx aber, also die Chemnitzer Idee von ihm, hält sein Gesicht sofort dankbar in die Kamera, wenn es um Instagram geht, nur Sven Schulze ist auf mehr Chemnitzer Social Media Posts zu sehen. Vielleicht sind die unzähligen Nischel-Selfies im Chemnitzer Netz auch gerade eine Art Rebellion gegen die instagramsche Lifestyle-Konsum-Wohlfühl-Wolke, vermutlich gibt es sie aber nur, weil Chemnitz sonst nix weiter zu bieten hat. Fast nix, denn der Nischel hat in den letzten Jahren ziemlich harte Grammer-Konkurrenz bekommen: Er ist größer, schöner, bunter, besser gelaunt, besser gestyled, nicht so anstrengend politisch, spitted mehr Heat als jeder Cloudrapper und kann dabei sogar leuchten. Er lässt sich eigentlich auch viel besser vermarkten und sollte den überstrapazierten Marx-Kopf unbedingt als Chemnitz-Testimonial ablösen. Unsere Meinung. 

 

Politische Einstellung: Karl Marx, also der echte, gilt als Pionier des Kommunismus. Der hat als staatliche Ideologie bisher meistens leider versagt, aber Albert Einstein hat das mit der Atombombe ja auch nie so gewollt. Karl Marx, also die Chemnitzer Bronzebüste, ist politisch mittlerweile nur noch schwer einzuordnen und wirkt mitunter opportunistisch. Ursprünglich war er ja jedenfalls Kommunist, ein Alt-Linker, dem Linksrutsch sein Vater oder so – und ist deshalb auch heute noch durchaus unbeliebt, zumindest bei der AfD (die will ihn abreißen, obwohl ihre Fanbase dort regelmäßig stramm steht), bei der CDU (die hat Angst, dass er plötzlich wieder mit sprechen anfängt und den Linksrutsch verkündet) und bei der Kulturhauptstadtsjury (die findet Witze über ihn gar nicht lustig und versteht den laxen Chemnitzer Umgang mit dem sozialistischen Erbe nicht). Nach den wilden Anfangsjahren als Jungpionier folgte eine eher selbstkritische Phase, in der er die friedliche Revolution als Schauplatz für die Chemnitzer Montagsdemonstrationen (die echten!) unterstützte, was damals auch völlig okay war. Was genau allerdings nach der Wende mit ihm passiert ist, können wir uns nicht erklären, vielleicht lag es daran, dass er abgerissen oder nach Köln oder Trier verschenkt werden sollte. Jedenfalls wirkt es seit ein paar Jahren ein wenig so, als wäre der Marx-Kopf heimlich von unserem Kretsche-Micha indoktriniert worden und würde jetzt einen auf „die Sorgen der Bürger ernst nehmen“ machen, und zwar im schlechtesten sächsischen Sinne. Vorm Nischel demonstrieren und posieren seit ein paar Jahren wirklich alle: die Nazis, die CFC-Fans, die CFC-Nazifans, die Umweltaktivisten, die Pop- und Subkultur, das Wutbürgertum, die Antifa, die Gewerkschaften, die Querdenker, vor allem aber immer wieder die Nazis, ausgerechnet. Nazis, die vorm Godfather of Communism abhitlern, solche Bilder kann man sich auch nur in Chemnitz ausdenken. Und Marx? Hört sich die Wut-Lamenti und Heil Hitlers der „besorgten Bürger“ mit Engelsgeduld an, schweigt in seinen Bart und sagt gar nichts mehr dazu, er hat sich dem politischen Diskurs längst entzogen, der Marx ist jetzt typisch stille Mitte. Doch wenn man ganz genau hinguckt, kann man in seinem Blick nicht nur das Urteil über all das erkennen, was um ihn herum passiert, sondern auch den Wunsch, still und heimlich über Nacht nach Trier zu verschwinden und sich dort zur Ruhe zu setzen. Aber die Stadt lässt ihn ja nicht.

 

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