Anfang März, es ist kalt in Deutschland. Kalt und dunkel, vielleicht regnet es auch.
Wir sind besorgt.
Das Pflaster des Chemnitzer Marktplatzes ist nicht nur holprig, es ist auch gefährlich. Wenn es dunkel wird trauen sich nur noch die Wagemutigsten hinaus in die feindselige, schwarze Nacht: Angst. Angst vor Kriminalität. Angst vor Armlängen, die zu kurz sind. Angst ums Abendland. Angst bis zur Morgenlanddämmerung.
Fast vollständig umnachtet scheint so manch besorgter bürgerliche Geist.
Überall im Land, von der Maas bis an die Memel, streifen derzeit Bürgerwehren über Bürgersteige, um die abendländische Sicherheit zu schützen und unsere schönen deutschen Frauen zu retten (aber nur die Blonden!). Wutiges Patrouillieren auf den bürgerlichen Pfaden der Selbstjustiz. Die Selfmade-Sheriffs mit ganz viel Pfeffi-Spray und Schlagstock im Gepäck stilisieren sich als Freund und Helfer der überforderten Polizei – nachtwandeln aber aus Gründen einer übersteigerten Empathie mit sich selbst. Kleingärtner zum Beispiel, die ihre Lauben vor Lauch-Langfingern schützen und um ihre Beete beten, in denen noch deutscher Kohl gedeiht, bald aber Kichererbsen wachsen werden – wenn wir nicht aufpassen. Wenn wir uns nicht wehren.
In Sachsen gibt es Bürgerwehren wie Kleinwaffen-Scheine: In Klingenthal zum Beispiel, dem müde röchelnden Kaff am Fuße des Aschberges (sozusagen der Schicksalsberg Sachsens), direkt an der tschechischen Grenze, wo die Menschen so reden wie Orks grunzen und die Polizisten ihr eigenes Crystal schmuggeln. „Ich trau mich ohmds a nimmer naus“: Das Problem kennen viele Sachsen – und sexy Sächsinnen erst rechts.
„Klingenthal passt auf“, so heißt das im Vogtland. In Chemnitz, im Herzen des mittleren Ostens, heißt sowas dann „Heimat und Tradition“, „Je suis Sachse“ (das gibt es natürlich nicht, wird aber als Parole auf den entsprechenden Seiten gepostet), „Initiative Heimatschutz“, „Wir sind (Erzgebirgisches Kaff eurer Wahl)“ oder einfach nur Bürgerbewegung Pro Chemnitz. Die wiederum träumen von einem Bundesstaat Sachsen, singen die erste Strophe der Nationalhymne und wähnen in Chemnitz einen terroristischen Gefährder – und sie sind so etwas wie die offiziellen Bürgerwehrpaten der Stadt: Ebersdorf und Kappel haben sie schon lange zu ihren Heimatschutzgebieten erklärt, im Februar erstmalig auch den wohl berüchtigsten und gefährlichsten, dunkelsten und dreckigsten Stadtteil in ganz Chemnitz: den Kaßberg, den wir natürlich mit althochdeutschem Esszett schreiben.
Anfang März, es ist kalt in Deutschland. Kalt und dunkel, vielleicht regnet es auch.
Wir sind wieder Wehr.
Nous sommes Zenti! Je suis Conti.
Wir sind jetzt eine Bürgerwehr.
Wir kaufen uns ein Schießgewehr.
Wir von re:marx scheuen weder Anonymität noch perverse Peinlichkeiten – deshalb haben wir uns – in kugelsichere blaue Mülltüten gehüllt – in den schrecklichen Schlund der Chemnitzer Nacht gestürzt, um uns gegen Bürgerwehren zu wehren. Um herauszufinden, was man in Chemnitz als Bürgerwehr eigentlich so zu tun hat und wie es sich anfühlt, irgendwelche wundgelegenen Sicherheitssorgen durch die kalte Märznacht spazieren zu tragen.
Es folgen Bericht und Eindrücke einer schwer besorgten Nacht.
19:33 Uhr. Wir sind der Kaßberg: Für Bio-Bier und Boho-Bauten.
„Ist der Kaffee regional?“ Das ist Frage, die man in den unzähligen kleinen Cafès des glorreichen Gründerzeitviertels wohl am häufigsten stellt. Was also kann man auf dem Kaßberg schützen wollen? Dass der Kaffee regional bleibt und die Kinder auch, und dass die prächtigen deutschen Jugendstilportale in Zukunft nicht von schnörkeligen Arabesken beschmutzt werden? Als selbsternannte Sachsen-Schützer starten wir unseren Nachtspaziergang in unserem Heimat-Getto, im bohèmen Brennpunkt Kaßberg. Wir nennen uns „Die Besorgten“, um später darüber anzügliche Witze machen zu können, und wir tragen die allerneueste Bürgerwear – modische polizeiblaue, schusssichere Westen, die von bengalischen Kindern aus Mülltüten gefertigt wurden. Das schweißt zusammen, das demonstriert Macht über die kriminelle Unberechenbarkeit der Nacht.
Wir sind bewaffnet.
Gewappnet für die Nacht.
Sinnbefreites Sicherheits-Spazieren als seelisches Heilmittel gegen die innere Unsicherheit.
Damit die Einwohner hier nachts endlich wieder ruhig schlafen können.
Unsere Taschenlampen sind der einzige Lichtblick auf den menschenleeren Straßen, unsere Mülltüten rascheln leise in der Nacht. Hier, auf der Weststraße, traut sich schon lange keiner mehr nach 16 Uhr aus dem Haus. Zu hoch ist das Risiko, dabei frische Luft zu schnappen-
Wir kreuzen die Reichsstraße – nichts Verdächtiges in Sicht, allerdings ist auch keiner da, der verdächtig sein könnte. Nur wir sind hier, wir ,“Die Besorgten“, tragen unsere Sorgen spazieren wie ein wimmerndes Kind.
Mitten in einer Wohnsiedlung halten wir an. Wird hier auf offener Straße angebaggert? Wir alarmieren umgehend die Sittenpolizei und stellen den notorischen Ficki-Ficki-Baggerer („Rohrleitungsbau“) zur Rede, doch der versteht natürlich kein Deutsch. Die Chemnitzer Oberbürgermeisterin empfiehlt jungen Frauen übrigens stets eine Baggerarmlänge Abstand zu dubiosen Gestalten wie dieser.
19:45 Uhr. Wir sind der Kaßbergfuß: Ein Schnaps für alle und alle Schnäpse für einen.
Ein klammes Gefühl erklimmt den stolz-geschwollenen Brustkorb, als wir die Treppen beim aaltra hinab in die Chemnitzer Unterwelt steigen. Wir nennen uns „Hipsterschutz und Sufftradition“, das L steht für stark dezimierte Gefahr.
Die Straßen sind so leer wie die Köpfe der Bürgerwehr-Ronnys.
Unterwegs begegnen wir einem Verbündeten in Sachen Lärmschutz und Dezibel-Sicherheit: Des Deibels Fasskeller.
Wir sind versorgt.
Mit Bratkartoffeln und Jägerschnitzel. Fettig, deutsch, klassisch und herrlich traditionell. Heimatgefühl, das auf der Zunge zergeht.
Doch der Sittenverfall ist ganz nah, wir können ihn schon riechen.
20:04 Uhr. Wir sind der Wall: remarx sagt NEIN! zum Alkoholverbot in der Innenstadt.
In Chemnitz grenzt ein Problemviertel an das nächste. Kaum hat man den Kaßberg-Abstieg unbelästigt überstanden, steht man am Wall – dem prachtvollen Assi-Boulevard der Stadt, der Schnaps-Elysees von Chemnitz. Auch hier sind Frauen nur noch im „Forever Fitness“ wirklich sicher. Gerade deswegen gilt es, unsere Werte zu verteidigen: Leberwerte, Blutzuckerwerte, Alkoholgehalt – alles, was unser Abendland so schön sicher machte.
Anfang März, es ist kalt in Deutschland. Kalt und dunkel, vielleicht regnet es auch.
Wir sind besoffen.
Endlich haben wir auch andere Menschen getroffen. Menschen, die bei Rot über die Ampel gehen und abends einfach nur so vorm Rewe stehen.
Menschen, die vom Staat vernachlässigt werden. Menschen, die genug eigene Probleme haben. Sie betteln um Feuer, sie können sich nicht mal mehr eigene Kippen leisten, sie müssen Prepaid-Karten bei Aldi kaufen.
Armes Deutschland!
20:38 Uhr. Wir sind der Stadthallenpark: Gegen Rumlungern und Abhängen auf grünen Flächen.
Der Görlitzerpark von Chemnitz ist so etwas wie die Feuerprobe für jede fackeltragende Bürgerwehr: Im Sommer tummeln sich hier unkontrolliert Jugendliche und Drogendealer, es wird gepöbelt, geprügelt, gesoffen und nicht Deutsch gesprochen, die Polizei hat längst den Überblick verloren. Eine steife Bürgerstreife ist gefragt, um den Stadthallenpark wieder zu einem sicheren Herumlunger-Land zu machen.
Doch im Winter liegt hier nur der Schnee von gestern.
21:88 Uhr. Wir sind die Innenstadt. Für eine sichere, menschenberuhigte Zone.
Wir rufen die Polizei.
Verdächtige Personen halten sich im Innenstadtbereich auf, sie fassen der Stadt ungefragt in den Intimbereich, sie klauen Ruhe und Beschaulichkeit.
Die Polizei kommt nicht.
Tumulte in den Straßen.
Die Lage ist kaum noch überschaubar.
22:18 Uhr. Wir sind die Zenti. Heimat, Bier und Tradition.
Endstation Zenti – der Kölner Hauptbahnhof von Chemnitz war zuletzt immer mehr in die Schlagzeilen geraten. Schlägereien, Suff, Nahverkehr. Sozialer Brennpunkt statt asoziale Haltestelle.
Laute Schreie zereißen die beschauliche Stille der Chemnitzer Nacht.
Wir rennen. Wir werden gebraucht.
Vor dem MacDonalds steht eine Traube sehr junger Menschen – das bedeutet Ausnahmezustand in Chemnitz. Sie stehen einfach draußen, rauchen, schieben auf ihren Smartphones, manche sprechen Arabisch, andere Sächsisch, einige grölen unverständlich.
Wir gehen dazwischen. Lösen die brandgefährliche Ansammlung wahlloser junger Leute im Handumdrehen auf, mit dem Buch und der Gitarre und dem Buttermesser. Unser Kampfhund Ronny treibt die Menge mit wütendem Gekläffe auseinander. Die potenziellen Kriminellen flüchten sich in ihre Nachtbusse, die sie zurück auf den Sonnenberg oder ins Heckert bringen.
Wir brauchen keine Polizei, keinen Staat. Wir sind die Zenti! Wir sind Chemnitz. Wir sind „Die Besorgten“, nous sommes unis. Re:marx sagt NEIN! zu einer belebten Innenstadt. Für mehr Sicherheit. Für mehr Ruhe. Für ein verbessertes Friedhofsgefühl in Chemnitz.
Anfang März, es ist kalt in Deutschland. Kalt und dunkel, vielleicht regnet es auch.
Wir sind sicher.