Ein schönes Konzert findet in Chemnitz mindestens einmal wöchentlich statt, natürlich je nach dem, was genau man als schön empfindet.
Wer kuschelige Folklore und große Gefühle in kleinen Räumen mag, kann sich im aaltra einlullen, mit echt gefühltem Befindlichkeitsfolkpop bespucken lassen und dabei vielleicht das ein oder andere frisch gezapfte PU-Tränchen vergießen.
Wer cool ist und die Intro oder zufällig Mitglieder einer (über-)regional agierenden Band kennt, steht an der Bar im Atomino und trägt ein fliederfarbenes Unknown-Basics-Sweatshirt.
Wer cool ist und die Intro kennt, dabei aber rotzigen Chuzpe beweisen will, steht halblässig verkrampft im Tesla rum.
Wer im Herzen Punk oder vom Phänotyp her Hardcore ist, fährt mit dem Klapprad bis ins AJZ oder ins AC17. Wer generell geschmacklos ist, blüht im Flowerpower auf.
Wer ausgewiesener Popkulturkenner und etwas mutiger, also experimentell und so, und überwiegend in Nischen heimisch ist, geht einfach ins Weltecho zu HGichT oder einem Montagskonzert.
Wer alt ist, klatscht in der Stadthalle bei der großen PinkFloydQueenKaisermaniaLedZepplinPhuddys-Revivalshow sture Vierviertel-Takte in die Welt.
Wer gebildet und alt ist wartet damit bis zum vierten Satz.
Wer gerne Avocados isst, sitzt bei noch untapezierten Indieperlen gemütlich im Lokomov.
Ein Konzertbesuch zur richtigen Zeit könnte das Kulturprofil schärfen, das man nach außen hin penibel poliert und pfleißig pflegt, weil es die längst diagnostizierte Chemnitz-Krankheit so verlangt. Bester Fall: Man kennt die Band, also persönlich. Zweitbester Fall: Man kennt die Band schon lange aus der Spex und aus seiner glorreichen Vergangenheit als Musikredakteur bei Radio UNiCC, wo man damals deren erste EP ablehnte, wobei die natürlich am besten war. Normalfall: Man kennt die Band vong Facebook her und hat sich vorm Konzert mal einen Song auf Soundcloud angehört. Chemnitz-Fall: Man hat noch nie von der Band gehört, aber drei bis vier coole Leute poppen in der Teilnehmer-Liste der Facebook-Veranstaltung auf und deshalb geht man hin, weil sonst auch nichts weiter los ist und außerdem hat Felix zugesagt, aber acht Euro Eintritt sind echt viel zu heftig, ach naja, vielleicht bleib ich doch lieber zuhause oder frage mal den Veranstalter, den ich zufällig kenne, nach Gästeliste, ich schreib auch was auf meinem Blog darüber, Fotos vielleicht, ja das klingt gut, okay, geil ich komme.
Am Einlass sitzt entweder ein bunter Zylinder, ein gelangweilter Andrè-Gymnasiast/ Sek II, oder ein stämmiger Sachse, der ein Hot Water Music-Shirt mit „Und du machst also mit heißem Wasser Musik?“ kommentiert. Der Eintritt kostet durchschnittlich acht Euro. Oder man zahlt solidarische eins bis fünfzehn, oder kapitalistische zehn. Bei letzterem gehen die meisten wieder, sind schwer empört und kotzen hörbar Beschwerden in die Nacht. Kultur darf alles, außer kosten.
Manchmal gibt es Vorverkauf, das ist das, wo man die Karten vorher und etwas billiger kauft. Grundsätzlich macht das in Chemnitz aber niemand, weil das niemand als Notwendigkeit empfindet, außer natürlich im Atomino spielt Casper feat K.I.Z.
Immer gibt es Gästeliste, und darauf hat man auch zu stehen, außer jedoch, man hegt schlimmes Mitleid mit der schwer kulturmasochistischen Szene, die ja irgendwie auch ein bisschen selbst Schuld an ihrer Misere ist, und zückt sein zehneuroschweres Portemonnaie, um kurz als Gönner, Kenner und Heilsbringer zu gelten.
Der Club ist im Zweifel immer halb leer. Oder total leer, das Gegenteil von ausverkauft halt, nie aber halb voll. Es gelten folgende Richtlinien:
Zehn Gäste: Ein trauriger Abend.
Fünfundzwanzig Gäste: Eigentlich ein trauriger Abend, was vom Veranstalter jedoch akut verdrängt wird, weil ist doch gar nicht so schlecht. Also für Chemnitz!?
Sechzig Gäste: Ein guter Abend.
Hundert Gäste: Ein historischer Tag.
Dazwischen gibt es nichts.
Die Konzerte beginnen erst halb zwölf statt wie angekündigt um neun, weil die Veranstalter vorher noch zwei Stunden lang sehnsüchtig zur Tür schauen, in der Hoffnung, dass doch noch jemand kommt, was nur selten passiert. Statt der Erlösung folgt nun die kulturelle Entblößung: Man ist ziemlich allein in einem nackten Raum.
Die Gäste stehen entweder an der Bar und reden so viel und so laut, dass man den fragilen Gesang des zartbesaiteten Indie-Elfen kaum noch hört, oder sie stehen schüchtern schweigend im berüchtigten Chemnitzer Halbkreis und hören zu oder denken gerade über ihre verkokste Beziehung zum Barkeeper nach.
Der Halbkreis gilt als Chemnitzer Phänomen, ist aber – zumindest was Konzerte mit wenig Gästen angeht – eine universelle Erscheinung. Er beschreibt eine Conti-Loch-große Lücke, die zwischen Bühne, also Band, und Publikum klafft und eine nahezu unerträgliche Distanz schafft. Ein Vakuum, in das sich nur ab und an ein esoterischer Eintänzer verirrt.
Als Ursache des Chemnitzer Halbkreises wird eine starke Introvertiertheit vermutet, die sich im Publikum einschleicht, wenn sich im betreffenden Veranstaltungsraum nur 15 Gäste befinden. Die dadurch entstehende Intimität führt sowohl zu einem Rückzug ins Innere als auch zu einem Rückzug aus dem Konzertraum. Eine plötzlich aufkeimende Angst vor zu viel Nähe sowie das immanente Gefühl der Bloßstellung fördern das Bedürfnis, sich am Rand zu verstecken, an der Bar zu betrinken oder ganz schnell wieder nach Hause zugehen.
Die Emotionen schwanken jetzt so stark wie die Zitrone im Gin-Glas.
Musik ist ja ganz viel Gefühl, Mathe und Physik. Bei einem Konzert fühlt man im besten Fall Euphorie, Ekstase, ja sogar Glück oder Rührung, oft auch Vorfreude. Bei einem Konzert in Chemnitz ist das anders. Vor Beginn herrscht hier die nackte Angst, die Angst vor dem Desaster-Abend, davor, Augenzeuge des Kulturverfalls zu werden. Sie befällt überkompensierenden Veranstalter wie hypersensiblen Gast gleichermaßen. Ein Warnsignal des Gehirns, den Abend doch lieber sein zu lassen und stattdessen irgendwas bei Netflix zu machen. Ein Signal, das meistens ignoriert wird. Man geht trotzdem hin, und nur selten wird es besser. Zwar legt sich die Angst irgendwann wieder, doch treten Fremdscham und Mitleid an ihre Stelle. Fremdscham für die Gleichgültigkeit der Chemnitzer, Mitleid mit den armen Musikern. Oft fühlt man sich dabei auch noch ziemlich verloren und weiß vor lauter Leere gar nicht, wie und wo man sich jetzt am besten hinstellt und ob man tanzen darf. Oder weinen soll.
Grund für die gähnende Leere und die im Halbkreis taumelnde Tristesse ist häufig, dass Chemnitzer Konzertveranstalter in erster Linie eigene Geschmacks-Interessen verfolgen. Sie buchen, was ihnen gefällt, aber nicht, woran ein breiteres Publikum Gefallen finden könnte. Auf Gefälligkeiten zu verzichten ist natürlich arschcool, aber wer in der Nische sitzt, wird nicht mit Geldscheinen werfen. Psychedelik-Perkussiv-Paule im frickeligen Nineties-Fummel würde selbst im überhippen Berlin nur in einen halbvollen Kreis blinzeln.
Hier ist die Wahrheit und ja, sie tut weh: Der Chemnitzer Veranstalter veranstaltet Veranstaltungen insgeheim nur für sich und die Leute im Backstage-Bereich. Er will eigentlich gar nicht, dass viele Gäste kommen. Er will einfach nur in Ruhe künstlich Gestresst-Sein für Nichts und einen Nervenzusammenbruch, und dabei die geilste neue Underground-Musik hören. Er will auch gar kein Geld verdienen, er will einfach nur irgendetwas bedeuten für die Stadt, in der alles so bedeutungslos scheint.
Die andere, noch viel schmerzhaftere Wahrheit aber ist, dass kleine Konzerte einfach nicht mehr funktionieren. Denn wie sagte Nietzsche bereits: „Indie ist tot.“
Der VeranstalterIn ist entweder total dicht und beschimpft das kaum vorhandene Publikum und die Stadt an sich, streitet sich mit dem Clubchef um die Aufteilung der erbärmlichen Einnahmen, macht irgendwas illegales im Backstage oder ist selbst gar nicht anwesend, weil noch verkatert vom Vortag. Andere wiederum machen nüchtern die Kasse, mit leidenschaftslosen Schulterzucken und resigniertem Gesichtsausdruck. Wieder nur zehn zahlende Gäste. Nächstes Mal wird’s vielleicht besser. Die Stadt hat sie fest im Griff.
Re:marx weiß, was es heißt, permanent verzweifelt zu zählen, zu warten, zur virtuellen Tür zu schauen. Zwar zählen wir keine Besucher, dafür aber Facebook-Likes, was in etwa das Gleiche ist: Likes sind die Einlass-Strichliste des Bloggers. Zwanzig sind ein Desaster, 50 irgendwie okay, hundert historisch. Aber wir wollen mehr. Mehr Schmerz, mehr Stress, mehr Walkie Talkies, mehr Wut, mehr Verzweiflung und noch viel mehr Resignation. Kurzum: Endlich wieder echte Gefühle! Wir werden also Konzerte veranstalten, beziehungsweise einfach nur ein bisschen so tun als ob, und zwar ab dem 14. Februar 2017, im Unknown-Basics-Sweater im Atomino.
Dabei werden wir absolut nichts besser machen als die anderen.
Die Stadt hat uns fest im Griff.