Ganz früher, vor einem Jahr ungefähr, galt es noch als Sensation, wenn Chemnitz mal in einem anderen Fernsehen als dem Sachsen Fernsehen zusehen war. Ganz ganz früher, vor zwei Jahren ungefähr, hat man noch euphorisch Buzzfeed-„Artikel“ namens „Warum Chemnitz das bessere Zwickau ist“ geteilt, hat direkt ein Public Viewing veranstaltet, wenn irgendwo jenseits des MDR ein Beitrag über die Stadt lief und ist fast ausgerastet, wenn der Lulatsch auch nur drei Sekunden lang im Morgenmagazin gezeigt wurde. Heute ist man froh, wenn man von der eigenen Stadt länger nichts gehört hat: Unsere Post der Moderne für den März. Einem Monat, in dem Freud und Leid so nah beieinander lagen wie Sonne und Regen. Aber immerhin gab’s viele Regenbögen.
Anfang März waren wir bei den Niners. Eigentlich waren wir nur zufällig dort, um mal wieder unseren Sporthorizont zu erweitern, sind aber direkt in ein Hochsicherheitsspiel gestolpert. Rund um die Markthalle war alles mit Polizei gepflastert, es sah aus wie im September 2018. „Werdet ihr schon sehen, wer da in der Halle ist“ sagt ein Polizist verdächtig, und wir denken erstmal an eine Horde prügellustiger Nazi-Hools, wie man das in Chemnitz halt so denkt. Dann lacht der Polizist und macht vor seinem Schritt die Raute.
Angela Merkel war auch da. Und Kretschmer und die Oberbürgermeisterin und wer in Chemnitz eben noch so Wirtschaftsrang und Politik-Namen hat. (Geht zum Basketball, nicht zum Fußball?)
Angie wurde jedenfalls beklatscht wie an guten, alten CDU-Parteitagen, Kretsche hat wild zur Musik genickt (hätte aber vermutlich sofort die Halle verlassen, wenn Kraftklub gelaufen wäre), das Spiel war auch ganz gut, ja es war ein euphorischer Sonntag in Chemnitz. Nicht nur, weil wir live erleben durften, wie Merkel auf das Marxkottchen trifft, sondern weil „Angie, Angie“-Rufe durch die Hartmann hallten, und das in Chemnitz, wir wiederholen: IN CHEMNITZ, einself. Ein Sonntag, an dem wir uns gefühlt haben wie in einer anderen Stadt, zu einer anderen Zeit, sagen wir wie [Bonn] 2009 und nicht wie Chemnitz 2019. Was wäre wohl passiert, wenn die Bundeskanzlerin spontan den CFC besucht hätte, haben wir uns danach gefragt – eine Rhetorische Frage, die Antwort kannte man ja schon.
Wenn andere Städte Trauer tragen, tragen sie Schwarz, wenn Chemnitz Trauer trägt, hängen einige noch ein reichsflaggiges Rot-Weiß mit ran. Mit der Aktion rund um den verstorbenen Vorzeige-Hoonara Haller hat sich der CFC quasi selbst mit begraben – und Chemnitz endlich mal wieder deutschlandweiten Fame gebracht, nachdem wir hier fast schon vergessen hatten, was Nazis überhaupt sind.
Man weiß gar nicht was schlimmer war: Die schwarz-weiß-rote Pyro-Choreografie mit extra altdeutscher Fraktur-Schrift, Frahn und das „Support Your Local Hools“-Shirt, wie tief das ganze Dilemma in den städtischen Strukturen verwurzelt ist, dass aus genau dieser rechten Ecke auch der braune August-Mob kam, die peinliche Strafanzeige gegen Unbekannt, mit der sich der Verein als Erpressungs-Opfer darstellt oder das geheime Chatprotokoll, das kurz danach auftauchte und eine ganz andere Geschichte erzählt. Die lächerliche Pressekonferenz, die Ausreden, das Mimimi, wie hilflos die „normalen“ CFC-Fans wirkten, die Toleranz-T-Shirts, das fehlende Katzen-Maskotzchen, das die Gesamtsituation sicher problemlos aufgelockert hätte, die populistischen Facebook-Posts, die in unseren Timelines aufploppten oder das vom allgemeinen Welt- und Chemnitzgeschehen schon völlig abgestumpfte Schulterzucken, mit dem man auf den ganzen absurden, traurigen, peinlichen Scheiß reagierte. #Weißdochjeder #wastutihrdennjetztallesoempört.
Dass der CFC ein (im Wortsinn) gewaltiges Problem mit der rechten Fanszene hat, war fast jedem klar, und fast jeder hat das jahrelang hingenommen, als ließe sich das Problem im neuen Stadion besser aussitzen. Der Verein hat versucht, das eklige Braun mit freundlichen Himmelblau zu überpinseln – hat aber nichts gebracht, weil es nie was bringt, wenn man einfach nur ein bisschen drüber malt. Irgendwann kommt das hässliche Hakenkreuz eben doch wieder zum Vorschein. Das gilt leider auch für die Stadt allgemein. Was dann zuletzt beim CFC geschah, außer die 4:2 Niederlage bei Lok Leipzig, können wir auch nicht mehr sagen, wir haben den Überblick und die Lust verloren. Vielleicht war das Ganze ja gut für irgendwas, haben wir kurz gedacht, vielleicht werden endlich mal die richtigen Konsequenzen konsequent gezogen. Lol, haben wir dann gelacht – denn am Ende hat die ganze Sache vermutlich wieder gar nichts gebracht.
Das Stadtfest ist offiziell abgeschafft und Chemnitz kann endlich Europäische Kulturhauptstadt werden. Das ist eine gute Nachricht, mindestens so gut wie die, dass etwa 3000 junge Menschen zum Friday for Future durch die Innenstadt gelaufen sind, und Pro Chemnitz bestimmt ganz grün vor Demo-Neid ward. Einige Chemnitzer finden die gute Stadtfest-Nachricht aber doch nicht so gut wie wir. Es ist nahezu erstaunlich, wer da jetzt alles den angeblich so schweren Verlust des Stadtfestes beklagt. Wir wiederholen: DAS STADTFEST, einself! Das bedeutet billige Bummsmusik ballern und Bier bechern und in der Augustglut ein bisschen die Provinz rauslassen. Das ist Dresden-Niveau, wenn überhaupt. Berlin zum Beispiel braucht gar kein Stadtfest, Berlin hat den Karneval der Kulturen, und wenn man beim Motiviationscoach eines gelernt hat, dann sich immer nach oben zu orientieren. Think big Chemnitz, think big!
Auf dem Chemnitzer-Stadtfest waren doch ohnehin kaum Chemnitzer, sondern vor allem Flacherzler aus der umliegenden Metropolregion, vergessene Popstars und Stadtfest-Groundhopper aus Zwickau, kurz Partytouristen. Die CWE arbeitet jedenfalls an hoffentlich zeitgemäßeren Alternativen, und wenn wir uns was wünschen dürften, dann bitte was ohne Menschen, Musik und klirrende Gläser – Ruhe! Oh ja. Drei Tage Silent City in der Innenstadt mit Silent Disco und Silent Sitting, einem neuen Kneipen-Konzept, bei man schweigend sitzt und säuft, das wäre fein, das wäre brillant, das wäre unser stiller Weg zur Kulturhauptstadt.
Zum Schluss noch was zum Stichwort drübermalen: Die CWE versucht Chemnitz jetzt gemeinsam mit unseren Top-Influencern zu instagrammisieren – das ist erstens wie gentrifizieren, nur digital, und zweitens ein bisschen so, als würde man versuchen, aus einer einfachen, ehrlichen Butterstulle ein abgefahrenes Avocado-Toast mit pochiertem Ei zu machen. Dabei weiß man tief im Herzen, dass nichts geiler ist, als frisches Brot mit dick Butter drauf, auch wenn die Avocadoschnitte schöner aussieht. Erst neulich musste in Kalifornien ein Mohnfeld gesperrt werden, weil es von rücksichtslosen und likegeilen Grammern zertrampelt wurde, und es ist natürlich anzunehmen, dass Chemnitz nun ähnliches droht. Unter @Chemnitz und dem leider beliebigen Hashtag #MehrAlsDas, der übrigens schon von Bodybuildern und Vincent Weiss Fans besetzt ist, findet man jetzt Travelporn-Bilder vom Mandelbäumchen vor der Stadthalle, das den ahnungslosen Influencern als Chemnitz-Hanami verkauft wird. Dabei ist der wahre Chemnitz Hanami doch immer erst zur Kirschblüte Mitte April vorm räudigen Innenstadt-Edeka, wo sich die Trinker und Druffis unter der rosa Blütenpracht prügeln. Ein Kontrast, wie ihn nur Chemnitz kann. Wenn die Social Media Welt davon erstmal Wind bekommt, werden vermutlich tausend Instagrammer und asiatische Großreisegruppen nach Chemnitz kommen, um tausend gleiche Fotos davon zu machen, die Stadt muss ganze Straßen wegen Überfüllung sperren, die Autofahrer drehen am Lenkrad, die üblichen Probleme der Stadt sind wie weggefiltert. Geniale Idee, eigentlich. Schaboo, CWE. Wir starten aber trotzdem schon mal präventiv unsere bewährte Gegenkampagne #makechemnitzgreyagain, damit unser Chemnitz schön hässlich bleibt.