Bisher galt der Kaßberg als unerreichbarer Gipfel der Gutbürgerlichkeit: Hier logiert die Spießigkeit in denkmalgeschützen Altbaupalästen und macht einen auf alternativ, doch sobald nur ein kleiner Kratzer aufs mit Mandelbutter polierte Fischgratparkett gerät, ist die Anzeige raus. In Hoffnung auf ein hipperes Leben und im Trugschluss, diese Hood sei mit Heat gepflastert, ziehen gerade immer mehr Menschen auf den Brühl. Doch die Wahrheit ist: Der Brühl ist mittlerweile nicht nur fast genauso spießig wie der Kaßberg, er ist dabei auch noch wesentlich teurer. Wir haben beide Stadtteile im ultimativen Showdown der beiden Chemnitzer Prenzlauer Berge gegeneinander antreten lassen – und auf wichtige Spießigkeitspunkte wie Statussymbole, Trinkverhalten, Maskottchen und Kuchenpreise gecheckt. Das Ergebnis wird euch schockieren!
Kaffee und Kuchen: Beide Stadtteile sind vor allem für eine Sache berühmt: hier befinden sich die einzigen und deshalb auch teuersten Cafés in Chemnitz. Was in München oder richtigen Städten der Mietspiegel ist, sind in Chemnitz die Kuchenpreise, und bei 15 Euro pro Tortenviertel kann es schon mal passieren, dass das alt-adelige Kaßberg-Geld nicht mal mehr für ein simples Cappuccino-Cookie-Gedeck reicht. Dann muss man sich beschämt beim Bäcker um die Ecke einen normalen Filterkaffee holen und sich damit in einem entlegenen Hinterhof verstecken. Die Atmosphäre der beiden Kuchen-Mekkas könnte jedoch nicht unterschiedlicher sein: Im Dreamers wird der handgemahlene Fair-Trade-Kaffee mit derart viel positiver Good-Vibes-Only-Energie aufgeschäumt, dass das anonyme Melancholiker-Herz den heimlichen Wunsch hegt, mit einer Boombox aufzumarschieren und erstmal ganz laut Nick Cave zu pumpen. Bei Emmas Onkel hingegen ist man wenigstens noch ehrlich unfreundlich und hat ein Kinderwagenverbot im Inneren verhängt – ein bisschen wie Wiener Kaffeehaus-Schmäh, aber eben als stilvoll kultivierte Chemnitzer Café-Verschmäh.
Fazit: Beide Viertel halten sich für super angesagt, können aber jeweils nicht mehr als zwei bis drei akzeptable Cafés vorweisen und setzen stattdessen auch Kuchen-Klassismus – uncool. Deshalb bekommen beide jeweils einen Flat-White-Spießerpunkt: Brühl 1, Kaßberg 1.
Einkaufen: Sowohl der Brühl als auch der Kaßberg eignen sich perfekt als Lebensraum für Leute, die nervös werden, wenn sich im unmittelbaren Umfeld von 500 Metern kein bonziger Edeka befindet. Nirgendwo fühlt sich das deutsche Großeinkaufsbürgertum wohler, als im Einkaufsparadies Garten Ede. Zwar wurde der Brühl-Edeka jüngst vom authentisch-räudigen Innenstadt-Eden zum schicken Style-Supermarkt gentrifiziert und schonungslos mit Avocados bemalt als wäre man auf dem Prenzlauer Berg, das kaschiert aber nicht, dass man hier seine Hafermilch bei NSU-Unterstützern kauft. Damit sich der Kaßberg nicht vom restlichen abgefuckten Nazi-Pathos der Stadt abgehängt fühlen muss, hat er sich auch ein kleines Nazi-Imbissbüdchen vor den Weststraßen-Edeka gezimmert, wo man in Corona-Hochphasen einschlägige Verschwörer ungestört beim maskenlosen Glühwein-Protestsaufen beobachten konnte.
Fazit: Coole Leute kaufen eh bei Lidl und Nazis müssen überall raus, deshalb keinen Punkt für beide: Brühl 1, Kaßberg 1.
Maskottchen:
Seitdem der Berliner Bär auf den Brühl gezogen ist, um sich undercover als „Brühl Bro“ bisschen was zur teuren Mitte-Miete dazu zu verdienen, gilt der Brühl offiziell als neues Berlin und damit auch als völlig durchgentrifiziert. Der Brühl Bro hat seinem Viertel damit sozusagen einen echten Bärendienst erwiesen. Dass sich der elitäre Kaßberg jetzt natürlich wieder über die Bemühungen des Brühl Bros lustig macht, ist vermutlich nur dem Neid geschuldet, als Maskottchen keinen kumpelhaften Kater namens „Kaßberg-Kek“ oder überhaupt irgendwas vorweisen zu können.
Fazit: Maskottchen sind peinlich. Noch peinlicher ist es aber, als bevölkerungsreichster Chemnitzer Stadtteil gar kein Maskottchen zu haben. Auch wenn sich der Kaßberg offensichtlich zu fein ist, seine Vorzüge in ein monströses Plüschkostüm zu packen, gibt es hier genau deswegen Punkte für beide: Brühl: 2, Kaßberg: 2.
Essen:
Essen ist angeblich der Sex des Alters, und weil Chemnitz sehr alt ist, kann man hier auch ziemlich gut essen. Der Kaßberg überzeugt vor allem mit seiner Döner-Dichte (Darin, Yusuf, Yaman, u.v.m.), was man vom Brühl nicht behaupten kann. Dafür schlägt die brühlsche Star-Pizza wiederum die eher traurige Helenen-Hof-Pizza, vor allem mit indischem Essen. Was auf dem Brühl das Status-Steak vom Fleischladen, ist auf dem Kaßberg die kalte Cateringplatte von Feinkost Häusler — dort gibt es auch einen sehr leckeren Mittagstisch zu Preisen, die auf dem Brühl als Billigfleisch-Dumping-Preise gelten würden. Und wenn der Brühl mit seinen raw-veganen Kuchenslices und beeindruckenden Burgern mal wieder einen auf Food-Fame macht, kann der Kaßberg mit instafreundlich inszenierten Hoang-Tellern kontern. Für gewöhnlich speist man auf dem Kaßberg aber eher bürgerlich-solide bei Ronny’s, Caruso, Onkel Franz oder in der Weinstube . Auf dem Brühl diniert man eher etwas internationaler und hält viel auf Überflussgesellschafts-Begriffe wie „Whole-Food“, „Slow-Food“ oder „Peace-Food“. Das Schalom ist zwar wirklich toll (und teuer), aber es kann passieren, dass man dort völlig unvorbereitet auf Uwe Steimle trifft. Weil der Brühl die ganze Zeit den unverhohlenen Kaßberg-Neid im Nacken gespürt haben muss, hat er sich nun erbarmt und leistet direkt vor Ort Katastrophenhilfe für Lifestyle-vernachlässigte Stadtteile: Auf dem Kaßberg gibt es für das Brühl-Gefühl jetzt eine Fusion aus Dreamers und Fleischladen, und das auch noch in einer alten Garten-Kneipe, nämlich der ehemaligen Puppenstube.
Fazit: Essen ist immer geil, deshalb vergeben wir hier jeweils einen Spießigkeitspunkt: Kaßberg 3, Brühl 3.
Trinken:
Der Brühl fühlt sich zwar als längste Theke der Welt, hat aber eigentlich nur eine richtig gute Bar: Die Einbahnstraße. Kleiner Scherz, wir reden natürlich vom alten CAB. Der Kaßberg hingegen stellt sich nachts gerne tot, hat aber eigentlich mehrere akzeptable Alternativen im Saufangebot: Im Monk (rip?), Maroon, aaltra, in der Weinstube und bei Emmas Onkel kann man durchaus angenehme Abende verbringen, und hat dabei eventuell sogar etwas weniger Inszenierungsdruck. Zumindest muss man hier nicht cool, sondern einfach nur reich (Emmas, Maroon) oder alternativ (aaltra, monk) aussehen.
Was beide Szenekieze eint, ist ihre ausgeprägte Stammtisch-Kultur, die dazu führt, dass sowohl vor der Weinhandlung, als auch im aaltra, vor der Haamit sowie vorm Balboa immer die selben Leute sitzen und trinken. Erfahrene Chemnitz-Profis haben deshalb ein neuartiges Kneipenquiz etabliert, bei dem es darum geht, schon vorher zu erraten, wen man gleich wo treffen wird. Am Ende führen hier doch alle Wege in die Einbahnstraße.
Fazit: Auch wenn das Balboa ein absoluter Safe-Space mit den stadtbesten Drinks ist, kann es den Brühl nicht davor retten, sich diesen Spießigkeitspunkt zu schnappen. Wir können es selbst kaum glauben, aber der Kaßberg hat einfach mehr trinkfeste Stammtische? Brühl: 4, Kaßberg: 3.
Lärmbeschwerden:
Kommen wir zur Achillessehne der Szeneviertel-Achillen: Es ist schon lange kein Geheimnis mehr, dass man im Sommer auf dem Kaßberg nur stillschweigend freisitzen und sich flüsternd betrinken darf. Das Lärmbeschwerdeformular kommt hier meist schon mit dem Mietvertrag, und wenn es ausnahmsweise mal zu leise ist, kann man vom Kaßberg aus bequem auf Verdacht Lärmbeschwerden gegen den Brühl einreichen. Muss man aber gar nicht, denn das macht der Brühl schon alleine: Er nennt sich zwar Mischviertel und pflegt seine Sperrstunde erst ab 23 Uhr, das ändert aber nichts daran, dass die Menschen, die hier 10 Euro pro Quadratmeter zahlen, abends um zehn dann auch endlich mal schlafen wollen. Am Ende ist der Kaßberg aber vielleicht doch das lautere Kulturmoloch und hat über den Sommer ein ganz neues Lärmbeschwerde-Level erreicht: Hier ziehen Menschen in die „Tanzende Siedlung“ und wollen am Ende doch nur Silent Disco. Da wird es zukünftig wohl schwer für das Haus Arthur und das aaltra mit ihrem unerträglichen Biergartengebrüll und dem lästigen Theaterlärm.
Fazit: Netter Versuch, Brühl, aber dieser Spießigkeitspunkt muss an den Krassi gehen: Brühl: 4, Kaßberg: 4.
Öko-Bilanz:
Der Kaßberg besitzt zwar einen hauseigenen Bio-Laden, in dem man saftige Brühlpreise zahlt, und viele alte Karreebäume, dafür hat hier aber fast jeder drei SUVs, was ehrlich gesagt ökologisch eher nicht so gut ist. Dass die Luft auf der Weststraße immer dünner wird, liegt nicht nur an der Höhenlage und Hochnäsigkeit des Kassis, sondern auch an seinen chronisch verstopften Straßen. Auf dem Brühl ist die Autodichte durchaus geringer und man kann sich hier noch frei bewegen, ohne permanent Angst davor haben zu müssen, dabei von wutblinden Parkplatzhirschen überfahren zu werden. Baumtechnisch sieht es eher betonwüstig aus, auch wenn der bei Travelgrammerinnen beliebte Kirschblüten-Hanami einmal im Jahr davon abzulenken versucht. Dafür sitzen hier die Grünen, und selbst das Unkraut in den Beeten wird bei „Direkt im Feld“ zu überteuerten Bio-Gewürzen weiterverarbeitet.
Fazit: Das S in SUV steht zwar für Spießigkeit, aber weil diese Bewertung eigentlich überhaupt keinen Sinn macht, gibt es Punkte für beide: Kaßberg 5, Brühl 5.
Statussymbole:
Chemnitz ist auf den ersten Blick keine Status-Stadt: Porsche, Bling Bling oder Gucci-Bags sind hier zum Glück egal. Auf dem zweiten Blick ist Chemnitz die schlimmste Status-Stadt überhaupt, denn Status ist hier der Schotter, den man sich im Garten anhäuft, der Zweit-SUV, für den man sich verschuldet, oder das demokratisch-bunte Mikroprojekt, das man von der Stadt finanziert bekommt.
Auf dem Kaßberg zählen Kinderwagen mit Smoothie-Halter, das Original-Parkett von 1912, kleine französische Hunderassen, Weinexpertise, das gigantische Scheidungstrampolin im Hinterhof, künstlerische Tätigkeiten wie Trommeln, Klavierspielen oder Ölmalerei, Vintage-Supreme-Shirt aus dem GEMS und ein Parkplatz für den Pick-Up nach 18 Uhr. Vor allem geht es hier aber darum, wer am meisten interessante Bücher in seine Verschenkkiste packen und nachts am ruhigsten schlafen kann.
Auf dem Brühl wiederum misst man sich am eigenen E-Roller, an der Anzahl der ganzen Cheesecakes, die man sich im Dreamers leisten kann und an der Dicke der Fatbike-Reifen, mit denen man rücksichtslos über den Boulevard heizt. Wahlweise besitzt man hier ein Hausprojekt mit Rebel-Art-Fassade oder einen CWE-finanzierten Krach-Laden. Lasst euch nichts erzählen, denn auf dem Brühl kommt es definitiv auf die Größe an, und zwar auf die Größe des Stammtisches, mit dem man vorm Balboa auftrumpfen kann. Wenn man es dann noch zum eigenen Drink in der Balboa-Karte schafft, darf man sich offiziell Brühl-Größe nennen.
Fazit: Statussymbole sind spießig wie Sau, deshalb gibt es hier natürlich Statuspunkte für beide: Kaßberg 6, Brühl 6.
Cultur/Akteursdichte:
Auf den Kaßberg zieht man eher wegen seiner wohlfühligen Wohnkultur als wegen irgendwelcher anderen kulturellen Vorzügen, denn mal ehrlich, abgesehen vom Haus Arthur/aaltra, gibt’s hier keine. Dafür haben sich hier viele alteingesessene Legenden und Pioniere des Chemnitzer Kulturlebens für ihren Alterssitz niedergelassen und meckern aus dem stuckverzierten Elfenbeinturm heraus über die neue Akteurs-Generation. Manchmal gibt es ein Straßenfest auf dem Kaßberg, also den Einhundertmeter-Markt, bei dem es aber eigentlich nur darum geht, welches Haus auf der Franz-Mehring-Straße am besten seinen nutzlosen Krimskrams verscherbeln kann.
Der Brühl hat es da ein bisschen besser, man könnte schließlich die Chemnitzer Oper und die Kunstsammlungen großzügig dazuzählen, außerdem befindet sich hier mit dem Bandbüro das Epizentrum der Chemnitzer Popkultur und es gibt nicht nur ein, sondern gleich zwei Straßenfeste im Jahr. Der Brühl wurde vom Kosmos dieses Jahr eindeutig bevorzugt, was man nur auf ausgeprägten Chemnitz-Klüngel zurückzuführen kann, aber wegen sowas ist der Kaßberg längst nicht mehr sauer. Hier hat man es sich schön im eigenen Wohlstandsnest bequem gemacht und will auch gar nicht mehr so richtig runter vom hohen Ross äh Berg.
Fazit: Sorry Kaßberg, aber die Lorbeeren, auf denen man sich hier schon länger ausruht, sind auch irgendwann verwelkt. Diesen Spießgkeitspunkt hast du dir redlich verdient: Kaßberg 7, Brühl 6.
Inszenieren:
Auf dem Kaßberg inszeniert man am allerliebsten alternative Rotweinseligkeit in Altbaupalästen. Aber auch schickes Sitzen mit Himbeer-Weiße-Schokolade-Tarte und Maxi Cosi vor Emmas Onkel, handgehäkelte Makramee-Mobilees mit Hang zur Esoterik, intellektuell verstopfte Bücherregale und geistreiches Geigen- und Gedankenspiel sowie sonnige Dachterrassen mit neu glänzendem Webergrill zählen hier noch was.
Auf dem Brühl geht es eher darum, wie hoch man seine Socken ziehen, wie cool man sein Spumoni-Glas vorm Balboa schwenken und wie lässig man auf den Dreamers-Treppen sitzen kann. Andererseits kann man hier auch noch mit Fatbike-Swag, Drum-N-Bass-Boombox-Gedröhne, fescher Mether-Fashion oder mit seiner „Heil Hitler“-grölenden Nazi-Gang auffallen – was den Brühl zu einer perfekten Mischung aus Kaßberg und Sonnenberg macht.
Fazit: Trotz des mehr und mehr kulturvierten Yuppietums ist der Brühl immer noch wesentlich diverser als der Kaßberg. Wir vergeben hier trotzdem jeweils einen Spießerpunkt für beide: Brühl 7, Kaßberg 8.
Finales Fazit: Kaßberg gegen Brühl – das ist ein bisschen wie altes gegen neues Geld, alte gegen neue Spießigkeit, Möchtegern-Bourgeoisie gegen Wannabe-Yuppietum. Trotzdem gewinnt der Kaßberg das harte Duell der beiden Chemnitzer Prenzlauer Berge, wenn auch mit einem marginalen Vorsprung von einem Punkt. Beide Hoods halten sich für jeweils hipper als die andere, sind in Wahrheit aber ähnlich spießig und irgendwie auch ein bisschen durch, allerdings nicht so durch wie der Sonnenberg. Wer echtes Spießbürgertum leben will, sollte jedoch nach Adelsberg ziehen, und von dort aus einem goldenen Eigenheim heraus auf den bedeutungslosen Kaßberg-Brühl-Plebs herabschauen.
Der einmalige Umstand, dass ein Stadtviertel bei einer Bürgerabstimmung mit 66% freiwillig für lauter (dB) und länger lauter gestimmt hat, sollte höher bewertet werden für den Brühl. Das ist ziemlich einmalig in Chemnitz.
Kuchen gibts aufm Brühl aber auch für weniger als den Gegenwert eines Kleinwagens 😉 z.B. samstags im Katz und Maus oder im Cafe Grundmanns und darüber hinaus natürlich das geilste Softeis der Stadt im IceEis Pinguin. Und auch mit Lärm kann man hier mittlerweile gut umgehen. So gabs bei der letzten Beats@KarlsKopf Party vor 3 Wochen keine einzige Beschwerde. Wenn man den Brühl etwas weiterfasst und als Quartier versteht gibts hier wohl auch die höchste Kneipen und Restaurantdichte nach der Fressmeile, Verzeihung „Kneipenmeile“ Innere Klosterstraße. Wir brauchen uns wahrlich nicht verstecken. Nur im Bewusstsein der Chmeintzer muss das noch deutlicher werden, damit auch wirklich Leben in die Bude kommt.