Die Post der Moderne: Die Wahrheit über Chemnitz
Die Post der Moderne: Die Wahrheit über Chemnitz

Die Post der Moderne: Die Wahrheit über Chemnitz

Es wird dunkel in Chemnitz. Und die einzige Reaktion darauf ist ein resigniertes Schulterzucken – war Chemnitz nicht schon immer das kalte Herz von Dunkeldeutschland? Aber dieses Mal ist es anders dunkel, dieses Mal ist es wirklich dunkel, die Politik passt sich der Stimmung an, und die ist schon länger gedimmt. Der Lulatsch, einst der Leuchtturm der letzten Chemnitz-Hoffnung, bleibt aus, die leuchtende Liebe vom „I Love C“ erlischt, zurück bleibt eine orientierungslose Stadt, die ohne ihr IloveC plötzlich wieder dem Selbsthass überlassen wird und einsam durch die leeren, dunklen Straßen irrt. Und am anderen Ende stehen die Freien Sachsen und strecken ihre rechten Rattenfänger-Arme aus. 

Im Sommer hatte die Hitze alles lahmgelegt, im Sommer war man mit Sommersachen beschäftigt, also vor allem mit Schwitzen, und damit, schwitzend vor Bars zu sitzen und Spumoni zu trinken. Im Sommer ist Chemnitz ohnehin eine andere Stadt, ja man könnte sagen, sie ist regelrecht belebtJetzt, wo die Hitze weg ist, legt sie die Wunden frei, die die ganze Zeit da waren. Jetzt kommt die Ohnmacht nicht mehr von der Wärme, sondern wieder vom Weltgeschehen. Jetzt ist es plötzlich zu kalt, um sich die Stadt in den regional in China produzierten „I Love C“-Badeschlappen schön zu schlurfen. Jetzt muss man sich warm anziehen, weil der Wutwinter kommt und die Heizkosten-Erhöhung, weil der Wohlstand wankt. Jetzt marschiert ein Teil der Chemnitz-Wahrheit, den man so gerne verdrängt, wieder montags mit Martin Kohlmann durch die Stadt. Schulterzucken. 

Das Volk ist wütend. Aus Prinzip, auf Verdacht, weil das zur Tradition gehört in Ost-Ost-Ostdeutschland. Also wimmert es mit ostdeutscher Traditionswut in der Stimme über die Spritpreise und fährt trotzdem jeden Meter mit dem Auto. Also nutzt es jeden gegebenen und manchmal vielleicht auch berechtigten Empörungs-Anlass, um montags den Nazis hinterher zu spazieren. Schlimm. Aber irgendwann hat man alles schon zu oft gesehen, gelesen, gehört, sich daran gewöhnt und langsam kickt die Resignation rein wie die lokalpatriotische Line C, die man vorm IloveC-Fotopoint zieht. Wir schreiben immer wieder denselben Text. Energiekrise heißt auch, dass die eigene Energie zu erschöpft ist für die kleinen und großen Katastrophen dieser Zeit. Schulterzucken.

Ein anderer Teil der Chemnitz-Wahrheit marschiert auch, und zwar als Hype durch die Medien. Chemnitz, einst von deutschen Leitmedien ungefähr so viel beachtet wie der Chemnitzer Hauptbahnhof im Fahrplan des DB Fernverkehrs, hat sich vom hässlichen Städtlein zum grauen Schwan gemausert, Chemnitz ist plötzlich auf jeder dritten Tagesschau-Infokachel und mindestens ein Mal pro Woche im Fernsehen. Zwar meistens nur als Symbolbild für Nazi-Probleme oder den abgehängten Osten, aber egal, wir nehmen hier alles mit, was geht.
Die überregionalen Medien lieben die Geschichte von der Nazi-Stadt, als gäbe es nichts anderes Spannendes über Chemnitz zu erzählen, und vielleicht stimmt das ja auch: Chemnitz. Graue Platten, düstere Musik, Spannungsaufbau. Vielleicht kommt ja gleich ein zahnloser Baseballschläger-Fascho um die Ecke, das wäre ein gutes Bild. Mh, keiner, na dann schnell noch mal die Bilder von 2018 einblenden. Und so reproduziert man immer wieder dasselbe Bild: Chemnitz als finsteres Naziloch, in dem die Sonne nie scheint, außer als Schwarze Sonne auf den kampfsportgestählten Oberarmen der permanent durch die Stadt marodierenden Faschobanden. 
Chemnitz selbst liebt die Geschichte von der Nazi-Stadt auch, weil sie einfach gut klickt, weil es der Chemnitzer Minderwertigkeitskomplex liebt, wenn er regelmäßig „Guckt mal, wie scheiße es bei uns ist“, in die Welt schreien kann, obwohl es auch anderswo scheiße ist. Weil man damit Kulturhauptstadt werden konnte, nur um sich jetzt auf der bequemen „Stille Mitte“-Erzählung auszuruhen, mit der man die Nazi-Problematik, die ja trotzdem reell ist, weiter beschwichtigen kann. Die Mitte findet man in Chemnitz vor allem am Rand – in einer Stadt, die hauptsächlich aus Randgebiet und kaum aus Zentrum besteht. Jetzt fangen wir auch schon wieder damit an, re:marx ist bei „Chemnitz“ und bei „Medien“ übrigens mitgemeint.

Die überregionalen Medien lieben aber auch die Geschichte von der mutigen Macher:innen-Stadt, der europäischen Kulturhypestadt, der deutschen Solarhauptstadt, der Trendmetropole to be, in der die Mieten so günstig sind, dass sie bei Christian Lindner schon unter „Gratismentalität“ fallen würden. ChemnitzDas florierende Szeneviertel Brühl, der pulsierende Sonnenberg, wo fünf junge Menschen am stadtweit einzigen Halb-Späti cornern , wenn das so weitergeht mit Chemnitz, wird „Macher“ wirklich noch Jugendwort des Jahres, wer jetzt nicht hierher zieht, ist selbst Schuld. Chemnitz, die unterschätzte Unbekannte, immer edgy, immer ungeschminkt, immer ein bisschen räudig, aber mysteriös, die fast jeden nach fünf bis zehn Jahren Eingewöhnungszeit dann doch noch um den ausgestreckten Mittelfinger wickelt. Eine Stadt wie eine coole Kettenraucherin, die im Club die ganze Nacht lässig im Halbdunkel an der Wand lehnt, aber niemals tanzen geht.
Chemnitz selbst liebt diese Geschichte nicht ganz so sehr, Chemnitz ist da skeptisch, weil Chemnitz nicht daran glaubt, dass sich dieses Chemnitz durchsetzen wird – und das ist ein Problem. Wilder Gedanke: Wenn Chemnitz die Geschichte vom coolen, progressiven Chemnitz mehr glauben und vor allem endlich mal umsetzen würde, dann würden sich die Nazis hier irgendwann vielleicht gar nicht mehr so wohl fühlen. Je größer der Minderwertigkeitskomplex, desto mehr Nazis, die sich mit ihrer Ideologie darin einnisten und die ewige Opfermentalität mit plumpen Parolen befeuern, und je mehr Nazis und daraus resultierende „hier ist alles grau und schlimm“-Mentalität, desto größer wird der Minderwertigkeitskomplex und desto weniger stabile Menschen kommen freiwillig hierher – es ist ein Teufelskreis.
Vielleicht wird es Zeit, dass Chemnitz in den überregionalen Medien wenigstens ab und zu mal eine andere Geschichte über Chemnitz erzählt: Über das jüdische Erbe, über Geflüchteten-Arbeit, über migrantische Perspektiven, über die Bedeutung von Fatbikes für den passiv-aggressiven Nahverkehr, den Umgang mit der Überalterung, über Vereine wie Athletic Sonnenberg, über Edvard Munchs wilde Chemnitz-Jahre, über Klimaschutz, schlechtes Stadtmarketing, das Chemnitzer Modell, das internationale Kinder- und Jugendfilmfestival Schlingel, irgendwas Neues eben.
Die Wahrheit über Chemnitz ist jedenfalls, dass beides stimmt und dass beides eben auch nicht stimmt, dass sich diese beiden Erzählungen irgendwo in der Mitte treffen, irgendwo auf dem Weg zwischen finsteres Naziloch und aufstrebende Trendmetropole, dass es hier natürlich ein Problem gibt, aber dass man hier (zumindest aus weißer, privilegierter Perspektive) eigentlich ziemlich gut und durchaus auch unbeschwert leben kann. Die Wahrheit ist aber auch, dass Chemnitz am Ende wahrscheinlich nur eine durchschnittliche ostdeutsche Stadt wie viele andere ist. Find a city that can do both: Vielleicht ist es Chemnitz, vielleicht ist es Rostock, vielleicht ist es Gera.

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