Jugendliche. Das waren doch die, die in den Bravo Foto-Lovestorys von früher immer Liebeskummer geschoben und übertrieben cool Kaugummi gekaut haben? In Chemnitz weiß man das scheinbar nicht mehr so genau, denn in Chemnitz sind Jugendliche so selten wie Menschlichkeit und Empathie in den Aussagen von Friedrich Merz.
Kinder und Jugendliche zwischen 6 und 17 Jahren machen hier nicht mal zehn Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Zum Vergleich: Die Altersgruppe der Boomer und Halb-Boomer gönnt sich neben dem obligatorischen „jetzt erstmal ein Steak“ auch saftige 25 Prozent des Chemnitzer Bevölkerungsanteils. In Zahlen heißt das konkret: In Chemnitz gibt es knapp 24.000 Kinder und Jugendliche und mehr als doppelt so viele, nämlich circa 61.000 Menschen im besten aller Alter.
Chemnitz boomt nicht, Chemnitz boomert – und festigt seinen Ruf als Stadt, in der man ungestört alt sein kann. Jugendliche sind dabei eher eine Last: Sie nerven mit ihrer lästigen Musik und ihrer lässigen Kleidung, sie taggen unsere herrlichen grauen Platten voll, sie lungern nicht nur, nein sie kleben sogar auf unseren schönen Straßen rum und bremsen mit ihren Tempolimit-Forderungen den Feinstaub-Fordschritt aus, sie sind allgemein das, was Chemnitz nie war: jung.
Kein Wunder also, dass sie in den Zukunftsplänen der Stadt genauso wenig existieren wie Frauen in den Kulturtüftler-Garagen der Makermacher. Wenn man im Bid Book nach Projekten und Ideen für Kinder und Jugendliche sucht, findet man fast nichts und muss hoffen, dass die Chemnitzer Jugend zumindest im Geiste schon so alt ist, dass sie sich für antiquierte Apfelfeste und peinliche Paraden begeistern kann. In der Stillen Mitte ist einfach kein Platz für eine laute Jugend.
Das ist auch den Rotstiftmäusen im Rathaus aufgefallen, weshalb sie die einzig logische Konsequenz ziehen, nämlich ohne Sinn und Verstand Gelder da zu kürzen, wo man sie als komatös schlummernde Boomertown eben am wenigsten braucht: Bei der Kinder- und Jugendarbeit.
Das Geld ist knapp in Chemnitz, also vielleicht. Genaues weiß man nicht, außer dass die Stadt so gut wie jedes Jahr zufällig geheime Sachsenschatz-Reserven unter der Bazillenröhre findet, die dann ganz dringend für etwas wirklich Wichtiges gebraucht werden, zum Beispiel, wenn Kulturlurch Marcel eine neue Zahnprothese benötigt oder der Hutfestival-Hut sprechen lernen möchte.
Doch Sparstrumpf-Svenni, von der alten Arbeiterstadt Chemnitz aus gewohnter SPD-Tradition zum Oberbürgermeister gekrönt, entpuppt sich immer mehr als eiskalter Kürzer, als FPDler im SPD-Pelz, als Wirtschafts-Fürst, Soziales second. Wer weiß, vielleicht macht ihn das ja auch zur Stimme der Generation FDP-Erstwähler:innen, er weiß jedenfalls: Die Sozialpolitik muss sterben, damit der Markt regeln kann. Gemeinsam mit Kämmerer Ralph Burghardt (ja genau, CDU) und Kultur- und Sozialbürgermeisterin Dagmar Ruscheinsky hat er nun aus heiterem Himmel Kürzungen anberaumt, von denen der Stadtrat nichts wusste. Die Streichliste ist lang: Betroffen sind zwar teilweise nur einzelne Projekte, betroffen sind aber auch alle acht Kinder- und Jugendzentren der Stadt, also Anlaufpunkte für sozial benachteiligte Familien in Stadtteilen, in denen soziale Unterstützung besonders wichtig ist, betroffen sind also Familienzentren und Jugendklubs an den vergessenen Rändern der Stadt, betroffen sind auch Integrationshelfer:innen, geplant sind außerdem weitere zusätzliche Kürzungen bei der Geflüchtetenarbeit, obwohl diese eigentlich wichtiger ist denn je. Betroffen sein wird wahrscheinlich auch die Kulturhauptstadt.
Dort, wo man jetzt die soziale Unterstützung abzieht, entsteht vielleicht ein Vakuum, in das rechte Rattenfänger hineinwirken und in dem Problemspiralen nur noch größer und schwindeliger werden, und das nimmt man schulterzuckend in Kauf, Hauptsache unserem Kaufhof geht’s gut.
Später regt man sich dann wieder auf, wenn Jugendliche zu hart herumlungern und zu krass mit Bierflaschen klirren, dann beschwört man wieder ein zweites El Salvador am Wall herauf, wo mafiöse Messerstecher mit Macheten hantieren und Kokain-Kriege um den ILoveC-Fotopoint führen, dann lebt man wieder den reaktionären Fiebertraum, der sich natürlich nur mit harten Runkelstyle-Restriktionen und nicht mit gezielter Sozialarbeit heilen lässt.
Am Ende ist das wahrscheinlich aber alles nur halb so wyld. Für die zehn verbliebenen Jugendlichen bleiben noch genug supercoole Alternativen – das in Chemnitz von Lars Fassmann handgeschöpfte Modewort „Macher“ ist bei der Wahl zum Jugendwort des Jahres schließlich nicht umsonst auf Platz drei gelandet. Denn mal ehrlich: Wer als Teenager das Weindorf und die Kaiser Mania nicht feiert und nicht mit bescheuerten Hüten durch die Stadt ziehen, sich auf dem Schlüpfermarkt um Yakuza-Fakes prügeln oder in einer DDR-Garage ordentlich am C löten will, sollte lieber gleich nach Leipzig ziehen. Kann man schon so machen, wenn man als Stadt nicht nur die Zukunft, sondern auch sich selbst komplett aufgegeben hat.
Wie es sich für einen echten Boomer gehört, ist auch in Chemnitz die Angst vorm Fortschritt größer als die Angst vorm eigenen Aussterben. Dazu passt auch, dass der Fortschritt (in Form eines neuen Mobilitätsplans) von den gefährlichen Klimakriminellen der AfD, Pro Chemnitz, FDP und CDU im Stadtrat härter ausgebremst wird als ein resistenter Raser von Tempo 50 auf der Autobahn. Am Mobilitätsplan haben verschiedene Verbände und Institutionen, Wirtschaft und Politik, ja sogar Chemnitzer Bürger:innen jahrelang rumgemakert , aber er scheitert so zuverlässig am Stadtrat wie der DFB an einer stabilen Haltung. Dabei will er gar nicht viel: ein bisschen mehr klimafreundlichen Verkehr für die Stadt, mehr Bus und Bahn, mehr Fahrrad und Fuß, den Anteil des Autoverkehrs auf 30% reduzieren, konsequent Tempo 30 für alles, was man Innenstadt nennen kann. Kurz: Chemnitz könnte eine moderne Großstadt werden. Aber Chemnitz will gar keine moderne Großstadt werden, sondern lieber eine antiquierte Autostadt bleiben, Chemnitz will Feinstaub zum Frühstück fressen, will seine dreckige Rußchams-Identität am Gaspedal weiter pflegen. Chemnitz glaubt nicht daran, dass dieses Chemnitz eine Zukunft hat. Chemnitz ist klima-egal. Aber wehe, wenn bei der nächsten Flöha-Flut der wertvolle Webergrill weggespült wird, dann kullern wieder traurige Wohlstandstränen durchs Tal des Jammerns.
Zum Schluss wollen wir wie immer doch noch bisschen versöhnliche Happy Vibes versprühen, schließlich ist Advent, und Chemnitz ist endlich wieder wer: Man kann uns unsere MRB nehmen und unsere Bazillenröhre, man kann uns die Zukunft nehmen und unsere Ehre, den Lulatsch abschalten und die Jugend in richtige Städte vertreiben, die Brie-Preise bei Käse Maik können sich verdoppeln und das Leid der Welt kann sich verzehnfachen, aber unser Weihnachten nimmt uns niemand. Denn wenn’s um Weihnachten geht, sind wir Dresden, Annaberg, New York und Coca Cola in einem. Wir haben den schönsten, den größten, den besten, also Weihnachtsmarkt, Weihnachtsbaum und uniformierten Erzgebirge-Aufmarsch – wir sind einfach Weihnachtsstadt von Welt.
Und überhaupt: Wittenberg ist nur nicht Paris, weil ja Chemnitz schon Paris ist. Und Tokio außerdem bald dazu, denn Chemnitz, besser gesagt der wiederbelebte Kaßberg, bekommt bald sein erstes Katzencafé. Skeptiker:innen werden jetzt natürlich wieder sagen, dass Leipzig schon ZWEI Katzencafés hat, aber das ist natürlich nur der Neid darüber, dass man in der Provinz noch echte Freude und Aufregung über sämtliche Neueröffnungen empfindet und noch nicht komplett Konsum-angestumpft ist.
Vielleicht glaubt die Stadt nach dem Gewinn des Kulturhauptstadttitels, dass sie die ganzen Kulturbudgets streichen kann, weil das jetzt die EU bezahlt?
Aber dafür können die Jugendlichen ins Katzencafé gehen. Hoffentlich darf man da wenigstens rauchen.
Und wenn es nur wegen des Feinstaubs ist.
Haha, scheiße wie immer. Also Chemnitz.
Ihr wart super. Danke fürs Erklären. Mehr muss man nicht wissen.
Bin froh, dass ich der Stadt entdlich entkommen konnte.
absoluter banger, hat meinen abend gerettet