Die Post der Moderne: Seltene Ereignisse
Die Post der Moderne: Seltene Ereignisse

Die Post der Moderne: Seltene Ereignisse

In Schweden wurde kürzlich ein gigantisches Aufkommen seltener Erden (über eine Million Tonnen) gefunden. Das sind spezielle Metalle, die arme ausgebeutete Kinder in China schürfen müssen, damit wir den ganzen Tag auf teure Smartphone-Displays starren und uns auf Twitter für unseren moralisch perfekten WM-Boykott feiern lassen können. In Chemnitz hingegen wurde für 2023 ein gigantisches Aufkommen seltener Ereignisse (14) angekündigt. Das sind Veranstaltungen in der Innenstadt, die länger als bis 22 Uhr gehen und wegen denen arme, lärmgebeutelte Anwohner:innen unerträgliche Großstadt-Qualen leiden müssen, damit wir auf dem Hutfestival zu Schifferklaviermusik Ringelreihe tanzen können.
Jedenfalls ist es eine wunderbare Ironie, dass die Stadt, der man gerne ab 18 Uhr hochgeklappte Bürgersteige nachsagt, Innenstadtveranstaltungen als „seltene Ereignisse“ anpreist, aber natürlich liegt Chemnitz damit mal wieder voll im Trend.
Seltene Ereignisse sind aktuell nämlich allgegenwärtig: Halbblauer Himmel und ungraue Laune zum Beispiel sind derzeit zwei sehr seltene Ereignisse, der Komet C/2022 E3 ist auch ein ziemlich seltenes Ereignis. Und wann hat man zuletzt eine stabile Aussage von Michael Kretschmer gehört? Okay, das ist kein seltenes, sondern ein sehr unwahrscheinliches Ereignis. Ein geselliger Montagabend in Chemnitz jedoch, oder ein Sven Schulze Gruppen-Foto, auf dem sich mehr als eine Frau in der letzten Reihe versteckt, eine Fahrradstraße, die länger als 200 Meter ist, eine menschliche Meldung aus Einsiedel — alles seltene Ereignisse. 

Dabei könnte Einsiedel selbst auch so ein seltenes Ereignis sein, aber Einsiedel ist leider nur ein Dorf wie viele andere in Sachsen, ist wie Kriebethal, wie Laußig, wie Strelln — Einsiedel ist ein ziemlich häufiges Ereignis. Die Gemeinde gehört zum rechten Randgebiet von Chemnitz und wurde 2015 berühmt, als dort Geflüchtete im ehemaligen Pionierlager untergebracht wurden, woraufhin die eingefleischte Empathie-Einöde Einsiedel ihren abgeschiedenen Namen zum Pogrom äh Programm machte: Mahnwachen mit passiv-aggressiven Gedächtnis-Kerzen und „Wer schützt unsere Kinder?“-Schildern am Straßenrand, Blockaden, Brandanschlag, Reichsflaggen, Hakenkreuze, der ganz normale sächsische Bürgerprotest eben. Nachdem die Geflüchteten weg waren, versank auch Einsiedel wieder in der Randgebietsversenkung und war nur noch bei Ausflügen in den Goldenen Hahn und horrenden Chemnitzer Wahlergebnissen relevant. Die AfD holte hier zur Bundestagswahl 31% der Zweitstimmen, so viel wie nirgendwo sonst in Chemnitz.
Jetzt ist Einsiedel wieder da und es ist, als wäre es nie weg gewesen: Einsiedel sagt mal wieder Nein, und Nein heißt Nein zum Heim. Nein zur Solarenergie in der Landwirtschaft, Nein zum minimal veränderten Rouladen-Rezept im Dorfgasthof, Nein zum 21. Jahrhundert, Nein zu Menschlichkeit und Empathie.
Insgesamt 300 Menschen sollen in den nächsten Monaten im ehemaligen Pionierlager untergebracht werden. 41 sind schon da, genauer elf Männer, zehn Frauen und 20 Kinder (!), alle aus dem ewig verwundetem Afghanistan, Ortskräfte der Bundeswehr und Angehörige. In Einsiedel hat man wenig Verständnis dafür, dort sind not-leidende Menschen selbst schuld an ihrer Misere, außer natürlich die Deutschen an 1945. So berichtete die Freie Presse im Dezember von der Einwohnerversammlung: „Unter den etwa 180 Besuchern herrschte überwiegend Unverständnis über ihre Aufnahme. Die Ortskräfte hätten doch gewusst, dass sie als Kollaborateure gelten und Probleme bekommen, wenn die Taliban den Krieg gewinnen, sagte ein älterer Mann. Ein anderer wollte wissen, ob auch ältere Kinder einer Sicherheitsüberprüfung unterzogen wurden.“
Für die Ukrainer:innen, die vergangenes Jahr kurzzeitig im Pionierlager untergebracht waren, wurde zwar noch vorbildlich gespendet, aber erstens waren die weiß und christlich und zweitens hielt die Solidarität auch nur bis zur ersten Gaspreiserhöhung.
Wo Unmut in der braungetrübten Kloßbrühe brodelt, sind die Freien Sachsen natürlich nicht weit, um die Bürgersorgen für ihre Nazi-Zwecke heiß aufzukochen. So geriet ein furchtbarer Flyer-Fake zum Thema Einsiedel in Umlauf, der aussah wie von der Stadt Chemnitz mit dem ILoveC-Paint-Programm gemacht, vom „Diversity-Booster“ faselte und der vor allem einen erschütternden Verdacht weckte: Auch Nazis würden insgeheim gerne gendern.
Wahrscheinlich wird Einsiedel bald wieder versuchen, sich krampfhaft von seinem schlechten Ruf zu distanzieren, aber eben nicht von den Nazis, die dort Hass schüren, Proteste organisieren und Lügen-Flyer verteilen. Dabei sollten die Einsiedler:innen eigentlich froh über jeden Zuzug sein: Schließlich will NIEMAND freiwillig nach Einsiedel – es wäre kein Wunder, wenn die Geflüchteten demnächst anfangen, gegen ihre Unterbringung in diesem blaubraunen Nest zu demonstrieren.

Zurück zu den seltenen Ereignissen: Dazu gehört auch die seltsame Sparpolitik der Stadt, bei der sich sowohl Finanzlöcher als auch plötzliche Geldberge auftun und wieder verschwinden wie in populären Mystery- und Mafia-Serien. Bei den Sparplänen der Stadt zeichnet sich jedenfalls eine  deutliche Tendenz ab: In die Zukunft wird in Chemnitz nicht investiert, an der Zukunft wird in Chemnitz lieber gespart. Zu den seltenen Ereignissen gehören aber natürlich auch Rankings, in denen Chemnitz gut beziehungsweise überhaupt irgendwie abschneidet. Ein Großstadtranking, das die Wohn-, Lebens-, Arbeits- und Wirtschaftssituation in deutschen Städten mit mehr als 100.000 Einwohner:innen untersucht hat, sieht Chemnitz auf dem „absteigenden Ast“ – was die vorsichtige Frage aufwirft, ob Chemnitz jemals auf dem aufsteigenden Ast war. Wobei: Beim Thema Nachhaltigkeit sieht es für Chemnitz im Ranking zum Beispiel gar nicht so schlecht aus. Bei sozioökonomischen Aspekten allerdings schon: Zu wenig Neugründungen, zu geringe Steuerkraft, zu hohe Jugendarbeitslosigkeit, zu alt. Und beim Thema Immobilienmarkt landet Chemnitz sogar ganz hinten, letzter Platz: Zu günstige Mieten, zu wenige Nachfragen auf Eigentumswohnungen,  zu wenig tanzende Siedlung, kurz: zu wenig gentrifiziert. Und plötzlich fühlt es sich wieder ganz schön cool an, auf dem absteigenden Ast zu sein. 

 

Ein Kommentar

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.