Die Post der Moderne: Was im März in Chemnitz geschah
Die Post der Moderne: Was im März in Chemnitz geschah

Die Post der Moderne: Was im März in Chemnitz geschah

Neulich haben wir uns an dieser Stelle noch über den Januar als Montag aller Monate beschwert. Dann kam der Februar mit seinem leider absehbaren Nazi-Scheiß, dann der März mit seiner leider absehbaren Pandemie, und mittlerweile weiß man:
Verglichen mit jetzt war der Januar ein lauwarmer Sommerabend auf dem Weindorf. Jetzt ist jeder Tag wie ein Montag in Chemnitz: alles zu, außer die Supermärkte. Jetzt weiß man kaum noch, welcher Wochentag gerade ist, oder welche Jahreszeit, oder überhaupt, welches Jahr. Jetzt fragt man sich, wann die 2020er Beschissenheitskurve endlich abflacht und bekommt keine tröstliche Antwort in Aussicht gestellt. Jetzt versteht man plötzlich Exponentialfunktionen. Jetzt hat man Angst vor dem Vakuum, das bleiben wird, und vor den Ideologien, die da hineinwirken wollen. Jetzt denkt man sehnsüchtig an eine Zeit im Februar zurück, als provinzielle Stadtfest-Streitereien den Chemnitzer Diskurs bestimmten und man Popcorn kauend vor den Kommentarspalten saß. Jetzt ist man froh, wenn es überhaupt ein Stadtfest gibt. Jetzt hat man alle Chemnitz-Stimmungsschwankungen, die man sonst über das Jahr normalverteilt hat, an nur einem Tag, ach was, in nur einer Stunde. Jetzt erholt sich die Natur — zum ersten Mal seit hundert Jahren wurden wieder Delfine in der Chemnitz gesehen, der steinerne Wald taut langsam auf und man hat seit Ewigkeiten mal wieder klare Sicht auf den Gipfel des Lulatsch. Jetzt ist ganze Welt wie Chemnitz: menschenleer. Man klickt sich durch Bildergalerien von dystopisch leeren Städten und findet es auch ein bisschen poetisch, weil man das so in seiner Chemnitz-DNA hat.

Chemnitz hingegen ist voll, und zwar mit Witzen darüber, dass die Stadt eigentlich wie immer ist. Nämlich gern zuhause, zeitig im Bett, wie leer gefegt. Oder darüber, dass man hier den Sicherheitsabstand nicht halten muss, weil man sowieso allein auf der Straße ist, dass Social Distancing schon 2002 im Chemnitzer Halbkreis erfunden und dass hier glücklicherweise schon immer viel in Supermärkte investiert wurde — scheinbar in weiser Voraussicht, dass Supermärkte eines Tages die neuen Clubs sein würden. Der Supermarktbesuch ist mittlerweile der einzige Anlass, sich mal wieder richtig schick anzuziehen, man muss am Türsteher vorbei, man will sich auch mal wieder in der Szene sehen lassen und im Supermarkt-Radio laufen dieselben Dadrock-Hits wie Freitagabend im Atomino. Böse Bloggerzungen würden jedenfalls behaupten, dass das Jahr 2020 nicht von den FYRE-Festival-Dudes, sondern eindeutig vom Chemnitzer Ordnungsamt global organisiert wurde:
Das Nachtleben liegt im Tiefschlaf, draußen gemeinsam Spaß haben ist plötzlich so uncool wie der vorderste Platz im Bus (???), für das geplante „Ballspielen im Park-Verbot“ und unser penibel kultiviertes Ruhebedürfnis haben uns vor ein paar Jahren noch alle ausgelacht, und die Polizei anzurufen, wenn sich mehr als eins Menschen gleichzeitig unbefugt laut auf der Straße aufhalten, ist jetzt nicht mehr kleinbürgerlich, sondern „solidarisch“. Einzig die „Frische Luft und Flaschenbier“-Empfehlung widerspricht der Runkelschen Vision einer vom Leben desinfizierten Stadt,  man kann nicht alles haben.
Einerseits ist man selbst gelangweilt von diesen ewig leeren Witzen, andererseits ist Humor der letzte, gefährlich rutschige Strohhalm, an den man sich derzeit noch klammern kann. Und außerdem: Wer kann sich bei Schlagzeilen wie 

Wird Chemnitz zur Geisterstadt?“
„Zuhause bleiben lohnt sich“
„Coronakrise in der Region: Innenstädte menschenleer“
Chemnitz im Ausnahmezustand“ (leeres Bild von der Innenstadt)

schon selbstkontrolliert die alten Chemnitzkamellen verkneifen?
Wir nicht. 

Marktplatz, leer

Diese Krise ist für alle, aber für jeden anders beschissen. Man darf dankbar sein, wenn das schlimmste „Problem“ ist, dass man paar Wochen lang nicht bei El Mina essen und im Balboa Bier trinken kann und Homeoffice in seiner gigantisch günstigen Chemnitzer Altbauwohnung machen muss. Man darf dankbar sein, wenn man gesund bleibt. Man darf diese „Bleib gesund“-Floskel, die sich jetzt alle virtuell zurufen als wärs das neue „Gönn Dir“ ist, sinnlos finden, wenn man chronisch krank ist. 

Im Nährboden der allgemeinen Verunsicherung gedeihen die seltsamsten Coping-Mechanismen: Flatearther verschwören sich gegen Flatcurver, Boomer haben plötzlich Kettenbriefe für sich entdeckt, dabei waren die schon zu selbstgeschriebenen Zettel-Zeiten nicht cool, aber Boomers gonna boom. Das populäre Chemnitzer Streetwear-Label GERMENS, das zwei unpopuläre Dinge im Namen vereint, nämlich Deutschland und Männer, macht in Kunst-Comedy und Solidaritätsbanner. Käse Maik lässt „FCK CORONA“-Sticker drucken, wir sind alle gerettet. Im Schlossviertel singen Menschen „Hallelujah“ von den Balkonen, es ist schlimm. Für die Menschen in den Lagern auf Lesbos singt niemand, jeder ist sich schließlich gerade selbst der Nächste, wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht, von wegen.
Singles beneiden Paare, Paare beneiden Singles. Introvertierte behaupten, sie hätten die Zeit ihres Lebens, romantisieren das Alleinsein, portraitieren sich selbst als einsame Wölfe im Edward Hopper Gemälde, endlose Selbstfindungsspaziergänge, endlich misanthropische Bögen um alle Menschen machen, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen.
Wir behaupten, das ist gelogen. 

Weil Chemnitz ohnehin Introversion in Stadtgrenzen ist, scheint man die Ausgangsbeschränkungen hier mit entsprechender Gelassenheit und dem unerschütterlichen Chemnitz-Pragmatismus hinzunehmen. Durch die perfekte Dorf-Stadt-Struktur ist das Quarantäne-Leben hier von Natur aus wesentlich weniger entbehrungsreich als beispielsweise in Berlin. Zuhause bleiben, Ruhe aushalten, das kann man in Chemnitz, das hat man jahrelang trainiert, jetzt ist diese seltsam stille Superpower endlich gefragt. Im Prinzip war es nie besser in Chemnitz zu sein als jetzt. Abgesehen natürlich davon, dass (Sub-)Kultur, Gastronomie und Einzelhandel in ein künstliches Koma versetzt wurden — für die war es ohnehin nie leicht in der Stadt. 

Innere Klosterstraße, leer

Das Leben geht trotzdem weiter, nur anders, deshalb passieren auch nach wie vor Sachen:
Stellt euch vor, es ist Niners-Aufstieg, aber niemand darf hin. Stellt euch vor, es ist Fassmann-OB-Kandidatur, aber niemand kommentiert. Stellt euch vor, es wird Frühling, und niemand eskaliert. Stellt euch vor, es ist „Revolution Chemnitz“ Urteil, aber keinen interessierts. Stellt euch vor, es ist Meth-Ranking, aber euch sind die schlechten Witze ausgegangen, und zwar zurecht.

Stellt euch vor, es ist vorbei, und alle gehen hin:
In unserem Kopf ist dann jeden Tag Woodstock in Chemnitz, zwei Wochen lang durchgehend draußen, jeden Abend betrunken, zelten auf dem Hartmannplatz, Hippiescheiß unter freiem Himmel, und überall ist wie Italien, das gesunde Italien, Menschenmassen bis spät abends auf der Straße, vor den Bars, in den Cafès und Parks, so laut, dass Miko Runkel nachts nicht mehr schlafen kann. 

2 Kommentare

  1. kai

    der blog ist die nadel -oder besser die perle- im (chemnitzer) heuhaufen. ich bin tatsächlich durch zufall drauf gestoßen und genieße jeden post. überbordende phantasie beim texten, stilsicher und humorvoll.
    ein chemnitzer highlight!

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