Hilfe, die Touris sind da!
Hilfe, die Touris sind da!

Hilfe, die Touris sind da!

Wenn früher Touristen nach Chemnitz kamen, dann waren das meistens Dortmundnazis auf Dienstreise, Eisenbahn-Nerds auf der Suche nach dem großen Reichsbahnabenteuer oder Menschen, die sich auf dem Weg nach Dresden irgendwie verfahren hatten. Nach dem Kulturhauptstatjahr ist alles anders. Die Einheimischen liegen nachts wach und können vor lauter Rollkofferklackern nicht mehr schlafen, überall ist es voll, ständig hört man andere Sprachen, droht man, in Touristenfallen zu tappen. Eine neue Situation, die den Chemnitzer:innen völlig fremd ist. Viele sind überfordert: Was tue ich, wenn ich Touristen begegne? Wie erkenne ich die überhaupt? Was antworte ich, wenn sie mich nach einem guten Café fragen? Wir helfen euch dabei.

Woran erkenne ich Touristen?

Wenn ihr in Chemnitz Menschen seht, die immer wieder stehen bleiben, sich umgucken, Stadtpläne, schlecht gedruckte Zettel aus der Touristinformation oder Google Maps in der Hand halten und dabei weder Camp David noch Yakuza und auch nicht Engelbert Strauß tragen, dann handelt es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um Touristen. Oder um fiese Investoren, die euren schäbigen Sonnenberg-Altbau gentrifizieren wollen. Touristen bewegen sich bevorzugt in Grüppchen (auch Großgruppenbildung möglich) durch die Stadt und tragen immer pragmatische, manchmal auch modische Rucksäcke. In der Hauptreisezeit (April bis September) rechnen wir mit einem erhöhten Aufkommen von E-Bike-Tourern, die man zuverlässig an ihrer Profi-Radfahrermontur erkennt und auf keinen Fall mit „European-Peace-Ride“-Männern oder Jan Ullrich verwechseln sollte. Ob auch Kreuzfahrt-Touristen von Rostock, Hamburg, Genua und Venedig in Bussen nach Chemnitz gekarrt werden, wissen wir noch nicht. Aber 2025 ist alles möglich. Woher die Touristen kommen, erkennt man auf den ersten Blick nur schwer — außer sie sprechen Englisch, dann sind sie aus Berlin. Oder sie sind aus Dresden, dann erzählen sie es einem sofort.  

Wo treffe ich Touristen?

Was haben der Trevi-Brunnen, der Eiffelturm, die Sagrada Familia und das Gerümpel in Opas alter Garage gemeinsam? Genau: Alle sind absolute Touristen-Magnete. Weil Chemnitz bekanntermaßen nur drei Sehenswürdigkeiten hat – nämlich den Marktbaum, das Rosterfahrrad an der Zenti und das neue Conti-Loch neben dem Tietz – trifft man Touristen an eher ungewöhnlichen Orten. EEs kann passieren, dass sie am Harthweg aufschlagen und begeistert auf DDR-Garagen zeigen, als handele es sich um das sächsische Pompeji. Oder dass sie vornehm bei Feinkost Häusler sitzen, als wäre es der Gosch auf Sylt, weil man dort beim authentischen Wurstgulasch den besten Blick auf die Majolika-Häuser hat. Manche lassen sich freiwillig von Menschen in Richard-Hartmann-Gründerzeitkostümen durch die Stadt führen oder fahren auf den Kaßberg, um dort in der einzigen Buchhandlung der Stadt nach dem Gesamtwerk von Georg Trakl zu fragen. Immer wieder sieht man sie Rebel-Art-Fassaden fotografieren oder den heruntergekommenen Hot-Super-Hasen auf dem Brühl. Neulich sollen sogar Touristen auf der Franz-Mehring-Straße aufgetaucht sein und euphorisch „Oh look, it’s the monk“ gerufen haben. Da schwillt die stolze Kaßbergbrust. Aber wahrscheinlich waren sie nur froh, endlich eine geöffnete Kneipe gefunden zu haben. 

Begeisterung und Hilflosigkeit: 

Touris erleben in dieser Stadt gemeinhin zwei Gefühlslagen, die sehr gegensätzlich, aber für Chemnitzer Einheimische dennoch kaum nachvollziehbar sind. Die eine ist Begeisterung, viele Touristen finden Chemnitz nämlich total schön. Das wiederum überfordert die minderwertigkeitskomplexgeplagten Chemnitzer:innen, die dann oft sarkastisch werden oder klassische Imposter-Syndrom-Sätze sagen. Die andere ist Hilflosigkeit: Zum Beispiel, wenn sie verzweifelt an verschlossenen Museumstüren rütteln, obwohl im Internet steht, dass das Gunzenhauser aktuell noch dicht ist. Oder wenn sie orientierungslos vor der Hartmannfabrik herumwandern, weil schon nach 17:30 Uhr ist. Wenn sie unter der Woche mittags einen Kaffee auf dem Kaßberg trinken wollen oder sich auf den ausgestorbenen Brühl verirren, weil sie irgendwo gelesen haben, dass das angeblich ein cooler Kiez sein soll. Das wiederum belustigt die Einheimischen: Was haben diese Touristen denn bitte hier erwartet? 

Welche Arten von Touristen gibt es? 

Leipziger Akteure: Die Backpacker unter den Kuha-Touristen, weil niemand weiß, ob und wie weit sie überhaupt kommen, wir sagen nur RE6. Viele von ihnen stranden am Ende oft ganz woanders, zum Beispiel in Geithain, dem Bali Nordsachsens. Ähnlich wie Backpacker oder deutsche Influencer in Kapstadt haben Leipziger Akteure oft eine gewisse Hybris im Gepäck: In Chemnitz sich bisschen die Kunstszene aneignen, aber wissen: Zuhause, in der Plagwitzer 70-Quadratmeter-Wohnung für 1600 Euro kalt, da ist es doch am schönsten.

Berliner:innen, die mal Nazis sehen wollen: Fahren nach Chemnitz wie andere ins Krisengebiet – irgendwie in der Hoffnung auf eine spannende Nazi-Geschichte, mit der sie sich dann später in Friedrichshain Applaus abholen können, während sie in der sonntags in der Schlange für Sauerteigbrot anstehen. Sind dann total empört, wenn ihnen tatsächlich drei Nazis über den Weg laufen und erzählen in der Sauerteigbrot-Schlange, dass man auf keinen Fall nach Chemnitz fahren kann. 

Westdeutsche Kultur-Touristen: Meist gut gepflegte Best-Ager oder Düsseldorfer:innen in gutem Tuch (Kaschmir, Tweed, Seide), die wegen der Kunst hier sind. Buchen Purple-Path-Kutschfahrten und Villa-Esche-Führungen, interessieren sich außerdem für Karl Schmidt-Rottluff, die Architektur und gehen ins Ballett, die Oper oder über den Kaßberg. Sind meistens ziemlich begeistert von der Stadt. Kulturschock-Potenzial, wenn sie zum ersten Mal einen Garagen-Hof sehen,  Slum für Autoschrauber.  

Maker-Touristen: Fantasie aus der Bewerbungsphase, existieren nicht. Niemand kommt nach Chemnitz um ein Wort zu laubsägen oder einen Apfelbaum zu pflanzen, wirklich niemand. 

Jan Böhmermann: Millennial-Ableger des E-Bike-Tourers, weiß offensichtlich nicht, dass man in Chemnitz stilecht mit dem Segway oder mit einem überdimensionierten Pick-Up befährt. Will als überregionaler Journalist wahrscheinlich auch Nazis sehen, was kein Problem sein dürfte, und seinen E-Roller in ein Chemnitzer Gewässer schmeißen, wir empfehlen den Stadthallenbrunnen. 

White-Lotus-Leute, aber in Chemnitz: Boykottieren New York und Miami wegen Donald Trump, und haben sich stattdessen ein Apartment im Mindset-Ressort „Die Fabrik“ gebucht, wo sie in der Rooftopbar bei Champagner, Kokain und Visionen den Million-Dollar-Sunset über Schönau genießen. Ausflug mit dem Porsche auf den Sonnenberg ins „Alexxanders“ und zum BitCoin-Stack nach Schneeberg.  

Tagestouristen aus dem Erzgebirge: Unterscheiden sich von Chemnitzer Einheimischen eigentlich nur dadurch, dass sie Chemnitz für ein graues, dreckiges Moloch halten und die moderne Kunst- und Kulturwelt noch viel weniger verstehen. 

Typische Touri-Fragen und wie man sie richtig beantwortet: 

Habt ihr hier auch einen richtigen Kiez?: Wenn die Frage von jemandem aus Dresden kommt, einfach nicht beantworten. Auch nicht auf den Brühl schicken, das deprimiert die Touristen nur. Empfehlt einfach den Sonnenberg oder Kaßberg. Also den Kaßberg. Also die eine Straße.

Wo gehts zum Stadtzentrum? Wahrscheinlich die am meisten gestellte Frage. Falls sie euch jemand stellt: Nicht lachen. Nicht die Augen rollen. Einfach zum Marktbaum schicken. 

Wo können wir denn hier (auf dem Kaßberg) schön Mittagessen gehen? Wenn ihr sie nicht zu „Onkel Franz“ schicken wollt, bleibt nur noch das Turmbrauhaus.

Was sind das denn für komische Teller dort?  „Das ist unser neuer Marktbrunnen.“ (Wenn ihr gerade in der Stadt seid) oder „Das ist das alte Meißner, das die Nachbarn aussortiert haben“ (Wenn ihr gerade auf dem Kaßberg seid.)

Do you speak English? Achtung! Nicht direkt Leute verprügeln, nur weil ihr auf Englisch angesprochen werdet. Ihr könntet zum Beispiel auch einfach auch ein freundliches „NO!“ zurück blaffen. 

Was ist das denn für ein Turm? „Das ist der Wirkbau-Turm, er war Vorbild für den Campanile in Venedig.“ 

Wie lange dauert meine Kaffee-Bestellung noch?  „Deinen trockenen Kuchen hast du doch schon vor zehn Minuten bekommen, jetzt müssen wir nur noch die spezielle Bohne rösten und den Kaffee mit unserer Slow-Drop-Brew-Technik zubereiten, da wirst du ja wohl noch mal ne halbe Stunde warten können, oder?“

Wird das dort abgerissen oder gerade neu gebaut?: „Das wird gebaut und sieht auch nicht viel hässlicher aus als die Neubauten in deinem schönen München.“ 

Wie komme ich denn jetzt zurück nach Leipzig?: „Am besten über Dresden, dauert etwas länger, aber Sie haben ja Urlaub.“ 

Könnt ihr eine Ramenbar empfehlen?: „Nein, aber wir haben ungefähr 300 andere gute vietnamesische Restaurants, die auch Ramen anbieten.“ 

Haben Sie das Gesamtwerk von Georg Trakl? „Ja natürlich, wollen Sie die Habermas-Schmuckausgabe auch noch gleich mitnehmen?“ 

Ideen, wie ihr aus dem Touri-Ansturm Kapital schlagen könnt: 

  • Bruchstücke einer alten Badfließe als „original Majolika-Kachel“ verkaufen 
  • Alte getrocknete Gartenkräuter als „Seltenen Silberlindenblüten-Tee vom Marktbaum“ verscherbeln  
  • Eine Matratze in Opas alte Garage legen und als „einmalige Übernachtungsmöglichkeit in originellem Tiny House wie zu DDR-Zeiten“ bei Airbnb reinstellen 
  • Bier-Kronkorken lassen sich wunderbar als „Original Purple-Path-Bruchstücke“ feilbieten 
  • „Polster & Pohl“-Dependance in Köln gründen und scharenweise Kunstinteressierte nach Chemnitz karren 
  • Jochen-Schweizer Eventgutscheine „Ostalgie-Adventure“ für 371 Euro (ist aber nur der Garagen-Parcours)
  • Leere Fit-Flaschen nicht sofort in den Plastikmüll werden, sondern zum hundertfachen Preis als „mundgeblasene Roter Turm“-Miniatur verkaufen 
  • Kleiner illegaler Straßenstand mit überteuertem Maker-Bedarf (Lötkolben, Laubsäge, Heißklebepistole, Washi-Tape, Filz)
  • Tassen und T-Shirts mit den Konterfeis wichtiger Kuha-Männer bedrucken 
  • Uber-oder historische Kutschfahrten nach Leipzig anbieten 

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