Es gibt Chemnitz-Momente, an denen klebt die Tristesse so klischeehaft wie Frakturschrift-Aufkleber an ostdeutschen Autos – und es gibt den Schlüpfermarkt im November.
Der November ist gemeinhin der Monat, in dem sich Chemnitz kampflos selbst aufgibt: Im Sommer hat die Stadt wirklich alles gegeben und war sogar ziemlich erfolgreich dabei, jetzt ist sie ausgelaugt und müde und will einfach nur ungestört traurig aussehen. Vor allem aber will sie, dass bald Weihnachten ist, weil sie dann die Trostlosigkeit mit bunt blinkenden Lichterketten ausleuchten oder feierliche Weihnachtsmusik wie einen Kitsch-Filter drüber legen kann.
Nun also endlich wieder Schlüpfermarkt, mitten im harten Chemnitzer Herbst, es könnte eine perfekte Parodie auf die Provinzialität der Stadt sein, aber Chemnitz meint das ernst. Der „Schlüpfermarkt“ fand jetzt – wie alle krassen Festivals – fast zwei Jahre lang nicht mehr statt, und heißt so, weil es hier einmal im Monat statt frischem Obst und Gemüse frische Schlüpfer und schicke Kittelschürzen zu kaufen gibt.
Der Schlüpfermarkt heißt in Chemnitz fast ganz offiziell so und ist damit quasi ein bisschen wie die Bazillenröhre (dirty Assoziation not intended). Es gibt Menschen, die den UNESCO-Weltkulturerbe-Titel für den Schlüpfermarkt fordern, und es gibt Parteien, die ihn während der Pandemie unbedingt „retten“ wollten, also die AfD. Der Einsatz der AfD für den Schlüpfermarkt ist wiederum seltsam, denn die meisten Händler:innen sind gar nicht richtig „deutsch“, also zumindest nicht im rassistischen AfD-Verständnis von „Deutschsein“. Viele stammen aus arabischen Ländern, aus Tschechien, vom Balkan, aus Vietnam oder sogar aus dem Vogtland und man hört hier verschiedene Sprachen, die sich im feinen Nieselregen miteinander vermischen – der Schlüpfermarkt ist mit Abstand das Internationalste, das die europäische Kulturhauptstadt Chemnitz seit Titelgewinn zustande gebracht hat.
Wir waren schon mal auf dem Schlüpfermarkt in Gefahr, aber das ist fünfeinhalb Jahre her und war vor der Pandemie. Auf dem Blog haben wir ihn damals als Chemnitzer Burning Man beschrieben und Chemnitz als das Florida des Ostens, zumindest Letzteres stimmt immer noch, vielleicht auch mehr denn je. Vor der Pandemie war der Schlüpfermarkt das einzig wahre Chemnitz-Festival, bei dem Rentner:innen regelmäßig am Pantoffelstand eskalierten und vor Apotheken Schlange standen wie sonst nur die GenZ vor Bubble-Tea-Läden, bei dem mehr Pillen geschmissen wurden als auf der Fusion, bei dem man ganz offiziell „Teile ab 50 Cent“ kaufen konnte, bei dem massig Bananenkisten gestapelt wurden und nie jemand nachfragte, ob da wirklich nur Schlüpfer drin waren, und bei dem die Polizei meistens nur tatenlos zusah. Während im Stadthallenpark im Zuge von Miko Runkels gnadenlosen „War on Drugs“ sogar unschuldigen Hecken der Prozess gemacht wurde, galt der Schlüpfermarkt selbst für unseren strengen Zucht- und Ordnungsbürgermeister irgendwann als eine nicht mehr kontrollierbare Partymeile, eine Art Frankfurter Bahnhofsviertel von Chemnitz.
Wie alle wichtigen großen Chemnitzer Festivals, also splash!, Kosmonaut und (h)ARTbeat, hatte es auch der Schlüpfermarkt nicht immer leicht in der Stadt: Er sollte schon mehrfach aus der Innenstadt verbannt werden, er sah einigen Stadträt:innen zu billig aus, brachte zu viel ungestümes Treiben in die edle Innenstadt, und man kann froh sein, dass er noch nicht nach Ferropolis umgezogen ist.
Doch jetzt ist diese verdammte Pandemie und November noch dazu, und die Schlüpfermarktgänger, die damals unbeschwert vorm Feinripp-Stand ausgerastet sind und sich hemmungslos um den Spitzengardinen-Wühltisch gedrängt haben, sind heute Risikogruppe und dementsprechend vorsichtig beim Feiern geworden. Es läuft auch gar keine Musik mehr und weder die Panflöten-Indigenious-People noch die singenden Saxofone sind am Start, vermutlich wurde schon wieder Tanzverbot über Chemnitz verhängt wegen der dunkelroten Inzidenz. Vom einstigen Rollatoren-Rave, vom legendären Doppelheartbeat, vom beigen Anorak-Abriss ist also vor allem eins geblieben: Eine ziemlich leere Innenstadt. So leer, dass nicht mal hinter den Markt-Ständen Verkäufer:innen zu sehen sind und die Schlüpfer oft völlig unbeaufsichtigt vom Chemnitzer Novembernebel ausgelüftet werden. Und auch wenn sich hier und da immer noch Spuren der Verwüstung erkennen lassen und hin und wieder leere Pillenpackungen am Rande des Marktgeschehens rumliegen und man nach wie vor Teile ab 50 Cent kaufen kann: Die wilden Jahre sind erstmal vorbei, der Exzess macht Pause, auf dem Schlüpfermarkt wird nur noch zurückhaltend eskaliert. Vielleicht sind wir aber auch nur zur falschen Zeit am richtigen Ort, denn es ist später Nachmittag – der Herbst des Alltaglebens – und viele Rentner:innen gehen bevorzugt vormittags feiern.
Geblieben ist jedoch die Billigware, die ausgebeutete Arbeiter:innen unter schlechten Bedingungen in Bangladesch nähen mussten, und die in Massen auf dem Markt hängt, an jedem Stand dasselbe, aber was macht das schon für einen Unterschied zur Fast Fashion, die wir alle täglich tragen. Vielleicht ist der Schlüpfermarkt jetzt zwar nicht mehr das Chemnitzer Burning Man, dafür hat er jedoch eine neue Qualität entwickelt, er ist jetzt die Chemnitzer Fashion Week. Wer wissen will, wie der Stille-Mitte-Schick 2021 aussieht, dem Menschen vom New Yorck Gebiet bis Gablenz derzeit so begeistert hinterher rennen, der geht hier her. Welchen Beige-Ton trägt man jetzt im Wartezimmer, mit welchen Gardinen schützt man sich vor dem neugierigen Blick des Nachbars, welches angesagte Pantoffel-Paar kann man später noch problemlos bei GEMS weiterverkaufen, welche Tasche passt am besten zu meiner Busreise nach Tirol, welche Betablocker ballert man jetzt zum Frühstück? Wir haben uns deshalb mal etwas genauer bei den Labels umgesehen und folgende Trends der Wintersaison 21/22 für euch gescouted:
- Wachstuchtischdecken mit bunten Weihnachtsmustern
- Nachtwäsche in zarten bis kräftigen Pastellfarben
- Steppjacken in satten Herbsttönen und mit wilden Blumenmustern
- filigrane Plauener Spitze
- praktischer Feinripp für Sie und Ihn
- Jogginghosen, wie sie Karl Lagerfeld hassen würde
- Strass, Strass, Strass – das Crystal Meth der Modebranche
- gefüllter Baumkuchen im Café Türmer
- fünf Würste a 12 Euro von Salami Richter
- schlecht gefakte Yakuza-Sweater und andere Nazi-Sachen
Der Schlüpfermarkt geht eben mit der Chemnitzer Mode, und die bewegt sich gerne zwischen peppigen Beigetönen und Normcore Nazi-Fraktur. Wer irgendwas dazwischen sucht, kauft sich am besten ein Glitzer-Shirt mit dem Namen einer anderen Stadt drauf.
Und so kann die Stadt Chemnitz „europäische“ Kulturhauptstadt sein wie sie will, kann sich mit wichtigtuerischen Kunstkram dekorieren, kann behaupten, fast wie eine richtige Stadt zu sein, kann sich mit bunter Kreide toleranter schminken, kann versuchen, sich in eine Urbanität zu zwängen, die ihr am Ende gar nicht richtig passt. Aber das hier, das ist das echte Chemnitz.
Einfach wieder köstlich!!!!!