Früher war Auto-Tuning ein Großereignis für Leute mit tiefergelegten Freizeitinteressen und fragwürdigen Felgenfetischen, die sich regelmäßig im größtmöglichen Parkhaus ihrer Stadt trafen, um Speziallacke anzurühren, Motorhauben mit Wolfsmotiven airzubrushen und natürlich für die Sexy Carwash-Show. Auto-Tune war auch das, was Xzibit damals bei „Pimp my Ride“ gemacht hat, der zweitbesten MTV-Show nach „Cribs“: Pools und Cocktails-Bars und bombastische Bassanlagen in Kofferräume einbauen und Menschen mit dem simplen Satz „Hey, I’m Xzibit, and I’m here to pimp yo `ride“ zu Tränen rühren.
Heute ist Autotune der Stoff, aus dem große Youtube-Hits und die Stimme von Cher gemacht sind: Automatische Tonhöhenkorrektur, das klingt nach betrunkenen Handy-Tippfehlern, wurde aber einst entwickelt, um schiefe Stimmchen im Studio wieder gerade zu biegen. Mittlerweile werden vor allem Rap-Tracks inflationär damit aufgepimpt, mit der Konsequenz, dass ein Großteil der Musik immer mehr nach einem Rummelbesuch auf Gras, oder schlimmer, Opioiden, klingt. Das heißt dann Cloud Rap, weil es direkt aus der Internet-Cloud in die Downloadordner tröpfelt — und am Cloud Rap scheiden sich auf dem diesjährigen Kosmonaut nicht so sehr die Geister, sondern eher die Alter, die Alters, die Eltern oder was auch immer der autokorrekte Plural davon ist. Weil wir super gern über Dinge berichten, von denen wir absolut keine Ahnung haben, Basketball-Spiele zum Beispiel oder eben Deutsch-Rap, haben wir uns dieses Jahr aufs Kosmonaut gewagt, um mit Festivalberichterstattung krass abzureißen, obwohl wir schon mindestens Ende Zwanzig sind. Am Ende sind wir auf dem Kosmonaut zwar als Musikkritiker gescheitert, aber als Influencer und auch als Chemnitzer gewachsen.
Nun war das Kosmonaut bisher immer mehr KIZ als KFZ, eine Mischung aus (Indie-)Rock und Rap, quasi Kraftklub als Festival — und damit relativ einzigartig in der deutschen Festivallandschaft. Einzigartig schön dabei auch noch, weil der See immer verlockend glitzert und die Waldwipfel sanft rauschen und Kiffeschwaden zwischen den Bäumen hängen und alles so aussieht wie sich ein Astrid Lindgren Roman liest und man anfangen möchte, spontane Romantik-Gedichte über Rabenstein und Chemnitz allgemein zu rappen. So hat es sich definitiv auch dieses Jahr wieder angefühlt — nur mit dem Line-Up war es für alle Ü25 anscheinend ein bisschen so, als würde man mit dem alten Diamant-Rad zum Tuner-Treffen fahren, um dort Luft aufzupumpen und zwischen dem Sub-Woofer-Gewummer die Fahrradklingel auszuprobieren.
„Entschuldigung, können Sie uns bitte sagen, wer das ist?“, fragen wir Freitagabend, als der geheime Headliner anfängt. Andere fragen gar nicht erst, sondern nehmen direkt den nächsten Bus nach Hause oder den Notausgang zur Siggi-Stage. Die Ärzte sind nicht der geheime Headliner, das haben zwar alle heimlich gehofft, aber niemand wirklich geglaubt, Cher ist auch nicht die geheime Headlinerin, Herbert Grönemeyer auch wieder nicht, wobei wir ja immer noch schwer dafür wären, einfach weil „Bochum“ fast wie Chemnitz ist.
RIN ist erst der geheime Headliner und danach Bausa, der hat aber erst einen richtigen Hit, dann Haiyti, immerhin mal eine Frau, die kennen sogar wir, und dann Cro und zum Schluss Casper + Marteria + Feuerwerk, die aber nur mit einem einzigen Lied 1bisschen sauclevere Promo vong neuem Album her machen. Ein Festival im Festival sozusagen, das kann man mega meta geil finden oder megamäßig doof, je nach dem, ob man vor oder nach dem Jahr 2000 geboren wurde, je nach dem auch, was man vorher erwartet hat.
Die Leute, die wir so kennen, sind jedenfalls alle schwer entsetzt. Sie sagen Sachen wie: „Das ist ein neues Level der Enttäuschung“ oder „Wir alle haben schon mal versagt als Veranstalter in Chemnitz, aber das übertrifft alles.“ Sie wollen richtige Headliner, Iron Maiden zum Beispiel oder Marius Müller Westernhagen oder so, was man halt in unserem Alter so hört. Sie wollen was zum Mitsingen, denn sie sind alle schon weit über 20. In ihren Rachefantasien treten Tocotronic als Geheimer Headliner auf und zeigen dem juvenilen Party-Mainstream den intellektuell-verkopften Zeigefinger.
Die Kids im Shuttlebus aber finden’s geil. Sie sagen Sachen wie: „Alter, war das fett“ und „Die mussten ja was machen nach letztem Jahr, jetzt haben sie mal richtig einen rausgehauen“ und „Kosmo“, sie haben gerade ihr Abi gemacht und wollen studieren, Sozialpädagogik vielleicht. Sie verfügen über diese modernen Konzentrationsspannen, die jetzt alle haben und die nicht mehr über 45 Minuten Netflix-Serie hinaus gehen – in einer Zeit, in der man Musik eh fast nur noch im Skip- oder Shuffle-Modus konsumiert, ist das Konzept mit den multiplen Headlinern eigentlich perfekt.
Auf Facebook, dem Netzwerk der Silver Surfer, etablieren sich RINfall-Wortspiele, jemand schreibt, „selbst Nickelback wäre besser gewesen“, andere sprechen vom „Autotune-Playback-Massaker“, einzig Marteria, Casper und auch Cro (wie CROatia bei der WM, sinnlose Anmerkung der Red.) kleben kleine Trostpflaster auf die gebrochenen Festivalherzen. Auf Instagram hingegen, dem Quell der ewigen Jugend, wird die Headlinershow durchweg gefeiert. Das Problem ist: Alle haben irgendwie Recht. Die Kids sind zu jung für Rock’n Roll und der Rest ist zu alt für Cloudrap, die einen wollen mehr Hip Hop, die anderen wünschen sich wieder mehr Gitarrenmusik, manche wollen bei Drunken Masters ausrasten, andere endlich mal eine echte Band als Geheimen Headliner, und all das ist im Bezug aufs Kosmonaut berechtigt. Genauso wie die Kritik an den sexistischen Song-Texten der beiden Teilzeit-Headliner RIN und Bausa, die bei einem Festival, das sich sonst so deutlich gegen jede Form der Diskriminierung positioniert, doch eher fehlplatziert wirken. Aber das ist ein ganz anderes, leidliches Thema. Vielleicht hat das Kosmonaut ja ein Zielgruppen-Problem, vielleicht liegt das alles auch nur an der Altersstruktur der Stadt.
Und so wird am Samstag, dem ersten Tag nach Freitag, überall um uns herum die Headliner-Geschichte diskutiert, während der großartige Olli Schulz einen grenzgenialen „Pennsylvania“-Wortwitz macht, der selbst uns alten Wortwitzhasen den Schnapsatem raubt. Uns ist das irgendwann alles zu anstrengend, wir haben nachts im Bus schmerzlich verstanden, dass nicht das Line-Up zu jung oder zu schlecht ist, sondern wir zu alt oder zu Indie sind, wir raffen RAF Camora nicht, wir werden vier Wochen brauchen, um uns von diesem Wochenende zu erholen. Deshalb haben wir das Projekt seriöse Festival-Berichterstattung aufgegeben und wollen jetzt Influencer werden, das kann man auch mit Ende Zwanzig noch sein, da muss man nur noch den ganzen Tag lang Produkte in die Kamera halten und sich mit nichts mehr kritisch auseinandersetzen, das klingt nach einem guten Zukunftsmodell, auch für re:marx. Als (Musik-)Kritiker sind wir gescheitert, jetzt ist es Zeit, endlich mal Spaß zu haben, und das vielleicht sogar in Chemnitz.
Weil wir fette 12k Cent mit Google verdient haben, geht es uns an diesem Wochenende ausnahmsweise mal nicht ums Geld. Wir sind schon reich wie ein Scheich und deshalb wollen wir gemeinnützig influencen, uns ehrenamtlich für Chemnitzer Vereine in Not einsetzen. Andere Influencer tragen Blumenkränze auf dem Coachella, wir tragen einen CFC-Schal auf dem Kosmonaut — erst nur ironisch, dann, weil uns kalt ist und weil wir ohne den Schal gar nicht mehr reden können.
„You’ll Never Walk Alone“ steht auf dem Schal, ein Fan-Song, der bekanntermaßen 1966 in der Chemnitzer Südkurve erfunden wurde, und es stimmt: Die Leute lachen, die Leute gucken irritiert bis angewidert, die Leute laufen vorbei und grölen „Jawohl, CFC“. „Ey, nimm den Schal ab“, ruft ein Mädchen verzweifelt, „nimm bitte einfach den Schal ab!“. „Ich sammle spenden für Chemnitzer Vereine in Not“, sagen wir. „Ja geil“, sagt ein anderes Mädchen, „mein Vater ist Sponsor für den CFC, ich unterstütz das voll“. Spenden will trotzdem keiner. Trettmann mischt grauen Beton, wir schwenken den Schal, Kraftklub machen Randale, wir bleiben stabil stehen und schwenken den Schal. Scheiß auf Autotune, hier geht’s um Chemnitz und mehr Chemnitz geht nicht. Endlich wissen wir, wie gut sich influencen anfühlt: Plötzlich sollen wir während einer Karaoke-Performance auf der Bühne mit dem Schal zu Justin Bieber wedeln, Feine Sahne Fischfilet füllen uns mit den Worten „Hey, cooler Schal. Schnaps?“ ab, Leute wollen den Schal dringend nachkaufen und am Ende haben wir dank des Schals auf dem Kosmonaut ganz viele neue Freunde gefunden und vermutlich auch ganz viele neue Feinde gemacht. Zum Schluss wird der Schal zu einer Art selbsterfüllenden Prophezeiung, denn irgendwann bekommen wir Halsschmerzen. Erst hat er sich wie Fremdkörper angefühlt, wie ein Dreißigjähriger bei RIN, dann wollen wir ihn nie wieder ablegen, denn er hält uns warm wie der Erlkönig sein Kind.
Und dann wird uns klar: Es ist die friedliche Mischung aus Coachella und CFC, die das Kosmonaut so schön macht, denn im Kern ist es ein Festival für alle: Für Glitzer-Kids und Metall-Shirt-Träger, für Punk-Poger und Trash-Trapper, für internationale Insta-Models und Chemnitzer CFC-Fräser, für Bingo-Spieler und Bong-Raucher, für adoleszente Autotuner und drüber dreißigjährige Diamantradfahrer und für alle Generationskonflikte dazwischen. Die sind jedenfalls alle da, und es wäre gut für die Stadt, wenn das so bleibt. Denn auf dem Kosmonaut wird Chemnitz zur betonbefreiten Zone, ohne die dauergrantigen AfD-Wähler-Visagen, ohne die stadtspezifische schlechte Laune und endlich auch mal mit vielen Touristen.
Also schauen wir himmelblau beschalt in den Mond und hoffen, dass die Cloud-Rap-Wolken irgendwann wieder lila werden und ganz schnell Richtung Splash! ziehen. Jeder Trend stirbt schließlich irgendwann mal, nur die Hoffnung auf einen megageilen Geheimen Headliner nie.
Nun, nach dem Lesen dieser Grütze weiß man wer dafür verantwortlich ist, dass Chemnitz so hohe Rückstände von chrystalmeth im Abwasser hat…
splash! schreibt man so.