Wenn dicke, ergraute Männer in langen Mänteln monotone Reden kalt in Mikrofone atmen und aufgebretzelte, ergraute Frauen in bestuhlten Räumen Interesse vorlauschen,
wenn nebelgraue Novembertage vom warmen Glanz endlos langer Lichter- und Menschenketten erhellt werden, dann handelt es sich um die jährlichen Feierlichkeiten zur Wiedervereinigung.
25 Jahre ist das jetzt her. So gesehen ist der Mauerfall gerade kurz vorm Ende seines Studiums und in der kritischen Selbstfindungsphase. Alle Partys mitgenommen, alle Drogen ausprobiert. Jetzt geht es so langsam ans Erwachsen werden. In dieser Hinsicht haben wir einiges mit dem Mauerfall gemeinsam: Einst Wendekind, jetzt konsumorientierter, chronisch verunsicherter und ständig sinnkriselnder Wendehals, das ist die dritte bis dreieinhalbte Generation Ost, zu der wir Re:marxler aufgrund unserer sozialistisch-revisionistischen Gesinnung im Blogtitel ja eindeutig zählen.
Das 25jährige Wende-Jubiläum ist jedenfalls ein geeigneter Anlass, um die Wiedervereinigung den betonharten Fakten des re:marxschen abgefakt zu unterziehen und ihre Notwendigkeit zu untermauern. [Achtung: Teilweise wird es politisch, manche Sätze beziehen sogar Stellung! Natürlich nach unseren Regeln, schließlich sind wir die junge Union unter den Pop-Linken.]
Das war:
Am 09. November 1989 hatte David Hasselhoff, auch wenn er sich mittlerweile gegen diese Vorwürfe wehrt, gemeinsam mit den Scorpions die Berliner Mauer und damit auch endgültig die angeknackste DDR-Diktatur niedergesungen – und somit endlich den Weg für ein Musical von Udo Lindenberg, das Aufblühen der Berliner Techno-Szene und einen pathetischen Hit von Marius-Müller-Westernhagen geebnet. Und so zerfiel sie, die Mauer, die Deutschland mehr als 28 Kalenderjahre getrennt und in BRD und DDR gespalten hatte. In diesem geschichtlich betrachtet kurzen Zeitraum haben sich die Einwohner beider Länder um gefühlte 1000 Jahre voneinander entfernt. Die BRD hing am Tropf der Alliierten, die DDR wurde von der Sowjetunion im wahrsten Sinne des Wortes sozialisiert. Die negativen Lebensumstände der DDR-Bürger, die es in keiner Weise anzuzweifeln gilt, führten letztlich zum deutsch-demokratischen Drang, die Blickrichtung von Ost nach West zu ändern. Zu einem nicht unerheblichen Teil verantwortlich dafür war eine gewisse Verblendung der Ostdeutschen, herbeigeführt durch die Annehmlichkeiten, die das Leben im Westen frohlockte: Bravo und Playboy, Levi’s Jeans und Coca Cola, Sexfilme und Südfrüchte, Bausparverträge und ohne Zweifel die Reisefreiheit.
(Das Beste aus Ost-, Classic-, und Wiedervereinigungshits und die schlimmsten Songss über den Mauerfall – um die lange Lesezeit etwas zu versüßen)
Woran wir uns eigentlich erinnern sollten:
Jedes Jahr am 9. November fragen wir einander gegenseitig: „Wo warst du, als die Mauer fiel? “
Und dann sagt man wehmütig verklärt klingende Sätze wie „Ich lag schlafend im Stubenwagen“ oder „Ich musste am nächsten Tag nicht in den Kindergarten“ oder „Ich hörte gerade meine David-Hasselhoff-Kassette“.
Irgendwo zwischen kurz vor der Einschulung und kurz vor der Kinderkrippe waren wir schließlich auch irgendwie ein wehrloser Teil der bröckelnden Diktatur, geplagt von einer entbehrungsreichen Kindheit in auswaschbaren Stoffwindeln (Pfui!) und dem akuten Liebesentzug unserer emanzipierten und herzlosen, weil werktätigen, Rabenmütter. Diese Kindheit hat uns selbstverständlich für immer traumatisch geprägt. Weil wir statt hippem Banane-Schoko-Brei nur von Mutti zerstampften Apfel-Zwieback-Matsch auf das VEB-Kombinat-Textima-Karl-Marx-Stadt-Lätzchen sabbern durften. Weil wir die durchweg graue DDR-Welt anstatt von der ledernen Rückbank eines windschnittigen VW Passat B2 nur aus den windigen Fensterschieben des elterlichen Trabbis heraus bestaunen konnten. Unsere frühkindliche Hoffnung auf ein besseres Leben und die winterlichen Fettreserven nährten und zehrten wir einzig aus den üppigen Westpaketen, die Tante Uschi regelmäßig aus West-Berlin schickte.
Woran wir uns tatsächlich erinnern:
Ehrlich gesagt: An nicht sooo viel, wären wir nicht ständig daran gezwungen uns an das zu erinnern, woran wir uns ja eigentlich gar nicht mehr so richtig erinnern können. Seit 25 Jahren feiert das wiedervereinigte Deutschland nun die Amerikanisierung des Ostens mit der immer gleichen Symbolik, die uns „Gesamtdeutsche“ an das erinnern soll, was die Geburtsjahrgänge ab 1990 nur noch von Erzählungen kennen. Sepiafarbene Stories aus der Sonnenallee, die nach fünf Underberg über Geburtstagstafeln mit Wachstuchtischdecken gespuckt werden.
Nein, wir können unsere finstere Herkunft nicht vergessen, denn neben den Zonen-Zoten von Onkel Horst sorgen auch die unzähligen Gedenkfeiern voller im Pathos ertrunkener Symbolhaftigkeit wie beispielsweise Lichterketten an ehemaligen Grenzen, dem Aufsteigen von Luftballons in Schwarz-Rot-Gold oder dem Einreißen künstlich aufgebauter Styropor-Mauern dafür, dass diese eigentlich fremden Erinnerungen unwillkürlich zu eigenen werden. Das Bild von tanzenden Menschen, die die Berliner Mauer mit Hämmern und Sicheln einreißen, hat sich derart fest in unser kollektives Bildgedächtnis gebrannt, dass wir manchmal meinen, die Bruchstücke des sterbenden Staates selbst in unseren Händen gehalten zu haben. Gleiches gilt für sämtliche Feierlichkeiten zu Kriegsausbrüchen, Kriegsbeendigungen, Kriegserklärungen, Kriegspausen. Das soll der Vermeidung zukünftiger Kriege dienen. Der Krieg trug ja letztendlich auch Schuld an der Mauer. Die Gegenwart zeigt aber irgendwie, dass permanentes Erinnern da eher weniger sachdienlich ist: Weil sich an anfänglichen Konflikten unbeteiligte Generationen zwangserinnern, entbrennen alte Fehden erneut. Manche erinnern sich ja heute noch – dank permanenter Erinnerung – an die „Geißelungen“ des Versailler Vertrags, um ihre Gesinnung zu rechtfertigen. Vielleicht sollte man sich mal daran erinnern und endlich aufhören sich andauernd zu erinnern – und stattdessen anfangen zu vergessen?
Das ist geblieben:
25 Jahre des Zusammenlebens von Ost und West sind ins Land gegangen. Die Party im November `89 war gigantisch, 79 Millionen Gänsehäute, ein ganzes wiedervereintes Volk im endlosen Freiheitsrausch. Der Kater aber hält bis heute. Selbst David Hasselhoff ist inzwischen aufgedunsen und hat ein Alkoholproblem, dennoch bleibt er der unangefochtene Kindheitsheld der halben Re:marx-Redaktion und Wendegeneration. Chemnitz heißt nicht mehr Karl-Marx-Stadt, zumindest nicht mehr offiziell, denn viele Ureinwohner wie Zugezogene scheinen den mit der Zuwidervereinigung einhergegangenen Verlust des sozialistischsten Städtenamens aller Zeiten auch über zwanzig Jahre nach der Wiederumbenennung noch nicht so recht verkraftet zu haben. Die ehemals Ost-Deutschen dürfen hinfahren wo sie wollen – und landen doch immer wieder an der Ostsee. Der Großteil der Fabriken, die einst die Lätzchen nähten, auf die wir sabberten oder die Autos bauten, auf deren Rückbänken wir herumkletterten, sind heute entweder sündige Techno-Clubs (siehe Berlin) oder sie stehen leer und verfallen. Ihre maroden Fassaden erinnern den Betrachter täglich daran, dass die blühenden Landschaften, die der kohl’sche Kapitalismus damals versprach, längst verwelkt oder nie wirklich aufgeblüht sind – im Osten, aber durchaus auch im Westen (siehe Ruhrgebiet). Der Geist der friedlichen Revolution wird entweder von den neuen Montagsdemonstranten missbraucht oder ist der Jugend gänzlich abhanden gekommen.
Geblieben sind uns aber immerhin Pfeffi, das Heckert, die Phudys, ausverkaufte Ost-Rock-Veranstaltungen in der Chemnitzer Stadthalle und der MDR. Aber auch der omnipräsente Stasivorwurf als besonders lautes Instrument der demokratischen Empörung, ein paar Nazis, die es zwar überall gibt, die jedoch besonders in den neuen Bundesländern als Sinnbild für eine anhaltende Perspektivlosigkeit gelten, vor allem jedoch unzählige unsägliche Ost-West-Klischees. Und: Die Erinnerungen der anderen, die immerwährend mantrahaft in ARD-Dreiteilern, Stasi-Thrillern, Buchpreis-Gewinnern, Diskussionen um die Linke, RBB-Ranking-Shows und MDR-Dokus aufgearbeitet werden.
Was am ewigen Ost-West-Klischee wirklich dran ist:
Die Mauer in den Köpfen muss weg, sagen immer alle, aber die Wahrheit ist: Die Mauer in den Köpfen ist immer noch da und sie wird es auch noch sein, wenn die Wiedervereinigung ihren Dreißigsten feiert. Die Wende definiert vor allem die Unterschiede und nicht die Gemeinsamkeiten von Ost und West. Und die entpuppen sich für alle Nachfolge-Generationen ehemaliger Ost- und Westbürger als volkseigene Altlast, die schwerer zu entsorgen ist als radioaktiver Müll in unterirdischen Salzstollen – Teilen deutscher Medien und Legionen von „Mauer-Eltern“ auf beiden Seiten, die permanent Fragen nach dem heutigen Unterschied zwischen Ost und West stellen, sei Dank. Vor fünf Jahren, als die Wende 20 wurde, behauptete Mutti Merkel, man könne nicht mehr unterscheiden, ob junge Menschen aus dem Osten oder Westen kommen. Die Wahrheit liegt wie so oft in Berlin Mitte: Von außen betrachtet sehen alle gleich aus. Gräbt man aber tiefer und wirft einen Blick unter die Oberfläche, lassen sich die Unterschiede nicht von der Hand weisen. Die bist jetzt 25 Jahre andauernde und noch nicht abgeschlossene Wiedervereinigung wurde schließlich von BRD- und DDR-Bürgern erzogen und sozialisiert. Das heißt, dass westdeutsche Jugendliche auch von westdeutschen Werten geprägt wurden. Und ostdeutsche Jugendliche wurden trotz aller westlichen Einflüsse größtenteils von ostdeutschen Werten geprägt. Das zeigt sich im Umgang mit anderen Menschen, im Umgang mit anderen Kulturen und vor allem auch im Umgang mit Geld.
Besonders deutlich werden diese anerzogenen Unterschiede, wenn die Kinder ehemaliger BRD-Bewohner anfangen in Städten wie Chemnitz zu studieren, weil man hier die Studienplätze hinterher geschmissen bekommt wie die Halloren-Kugeln im Discounter. Dann fallen plötzlich Sätze wie „Krass! Im Osten ist es ja gar nicht so schlimm.“ oder (eigene Erfahrung) „Ich bin erstaunt, dass die Hotels hier in jedem Zimmer Bad und Dusche haben. Ich dachte hier gäbe es nur einen Waschraum für die komplette Etage“. Es fallen aber auch Sätze wie „Hier sind die Menschen irgendwie viel authentischer als bei uns in Südwestdeutschland.“
Das war früher alles besser:
Natürlich absolut gar nichts. Denn dass es vielleicht einige wenige Dinge gab, die rückblickend betrachtet im sozialistischem System DDR tatsächlich besser – oder sagen wir lieber sozialer – waren als sie es heute in der liberalen Marktwirtschaft sind, darf man eigentlich gar nicht sagen, ohne vom westlichen Werte-Modell als ein von Ideologie verblendeter Systemverherrlicher angeklagt zu werden. Ja, die deutlich demontierte Republik war ein Staat, der Unrecht tat: Diktatur, Zensur, Schießbefehl, Stasi, Plattenbau, keine freien Wahlen, Asbest und niemals Bananen. Die eingesperrten DDR-Bürger hatten bekanntermaßen nichts, aber immerhin blieb ihnen das Westfernsehen und die Freikörperkultur an Ostseestränden. Und: Ein manchmal sogar glücklicher Lebensalltag fernab der Zwänge des damaligen, aber eben auch fernab der monetären Zwänge des heutigen Systems (das behaupten zumindest unsere Eltern).
Das könnte sein:
Das beste beider Welten. Kontinuierliche, gesunde (sprich: weniger größenwahnsinnige) Entwicklung aller unter dem schützenden Gebilde, das sich Staat nennt. Und zum 50. Geburtstag des Mauerfalls haben wir dann endlich vergessen, uns an all die Unterschiede zu erinnern.
Das wird wohl nichts mehr:
Das Beste beider Welten. Wir verwöhnten Wendekinder würden in einem Staat wie der DDR eingehen wie eine Pril-Blume. Trotzdem wissen wir vor lauter westlicher Freiheit manchmal gar nicht, was wir mit unseren Leben anfangen sollen. Wir alle schätzen Demokratie und Meinungsfreiheit und Austauschjahre in den USA und Warenpluralismus im Supermarkt und dass wir auf dieser Seite einfach schreiben können, was wir wollen. Immer mehr empören wir uns jedoch auch kollektiv darüber, was der uns stets als wohlständiger Freiheitsgarant verkaufte Kapitalismus eben auch ist: profitorientiert, egozentriert, konsumfixiert, rücksichtslos. Und so neigt der Westen dazu, das System des Ostens in seiner Gänze zu verteufeln (#Unrechtsstaat, #GauckgegenDieLinke, #dassinddochallesalteSEDler). Und der Osten neigt dazu, das damals als so lebenswert angestrebte System des Westens nach 25 Jahren Erfahrung am eigenen Leib zu verteufeln (#dashättsfrühernichgegeben, #damalswarallesbesser, #dieMauermusshin). Sich seines Verstandes zu bedienen und unter eingehender Analyse das Beste mehrerer Lebenswelten zu vereinen, Unterschiede zu respektieren, Gemeinsamkeiten zu fokussieren und somit auch mentale Mauern einzureißen ist bekanntlich im Allgemeinen nicht die Stärke des Menschen.
Deshalb muss man sich trotzdem daran erinnern, dabei gewesen zu sein oder daran erinnert werden, nicht dabei gewesen zu sein:
(jvk, ylh)