Unknown Pleasures – Kultur im sächsischen Manchester. Teil eins: Die Chemnitzer Filmwerkstatt.
Unknown Pleasures – Kultur im sächsischen Manchester. Teil eins: Die Chemnitzer Filmwerkstatt.

Unknown Pleasures – Kultur im sächsischen Manchester. Teil eins: Die Chemnitzer Filmwerkstatt.

Es gibt Großstädte, in denen tobt das kulturelle Leben auf den Stra… Also, es gibt Großstädte.
Und es gibt Chemnitz. Chemnitz ist Chemnitz. Ein städtisches Dorf/eine dörfliche Stadt, in der etwa 240.000 Einwohner im absoluten Einklang mit der Stille leben. Wie in einem urbanen Kloster mit eingeklagter Ruheoase und angebautem Rentnerparadies, dessen Keller-Gewölbe und Geheimgänge jedoch zu einer himmlischen Party-Hölle führen können – wenn man sie nur kennt. Es scheint, als wären die meisten Menschen, die hier leben, schon vor Jahren ins subkulturelle Zölibat getreten, um tagtäglich der allmächtigen Arbeit zu frönen. (Oder um an auserwählten Orten [Zenti, Netto in Bernsdorf] den Konsum hochprozentiger Getränke zu zelebrieren) Die süßen Sünden des frivolen Stadtlebens (Clubs, Bars, Musik, Unterhaltung) gilt es dabei weitestgehend auszublenden. Eine Stadt, vereint im Glaube an die Ertüchtigung – und im Bedürfnis nach nächtlicher Naherholung. Anders als im exhibitionistischen Hipster-Vergnügungspark Berlin, wo man sich gerne als hedonistischer Techno-Lustmolch, selbstoptimierter Startupper oder freischaffender Medienirgendwas mit veganer Bio-Chai-Latte und Dauergästeliste stilisiert, definiert sich das drecksche Industrieloch Chemnitz über die fleißige, bodenständige Arbeiterseele mit dem großen Rückzugsbedürfnis. Industrielle Introspektive statt subkulturelles Schaulaufen. Trotzdem ist der gemeine Chemnitzer heimlich stolz auf sein geliebtes „sächsisches Manchester.“

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Aber mal ganz ehrlich: Manchester hat(te) Joy Division. Factory Records. The Smiths. Oasis. United und City. The Haçienda, acid house, Ravekultur und natürlich Take That.
Chemnitz hat(te) zwar die AG Geige, das Voxx, re:marx, Blume, Rumpelspielchen, No Divas, Crystal Mett, Kraftklub und den CFC, und natürlich hört sich Unknown Pleasures nirgendwo besser an, als in den leeren Straßen der ewig grauen Stadt – dennoch zeugt der Versuch, ernsthafte kulturelle Parallelen zwischen Chemnitz und den 24 hour party people der großen englischen Schwester ziehen zu wollen, von fortschreitender Grenzdebilität oder zumindest chronischer Verzweiflung. Dort Madchester – hier Chemnix. Vermutlich wird es hier nie passieren, dass, entgegen des jüngsten nächtlichen Traumes der Autorin, Arcade Fire am Silvesterabend zusammen mit Kraftklub ein Konzert in der Stadthalle spielen. Vielleicht kann man hier auch nicht jeden Tag in fünf verschiedenen, ausgesprochen geilen Clubs bis zur Besinnungslosigkeit feiern.

IMG_4000Aber im Grunde ist das alles gar nicht so schlimm. Denn dafür kann man hier ganz andere Sachen: Zu sich selbst finden. Den Überblick behalten. Geld sparen. Abends auf der Straße meditieren und dabei ungestört Joy Division hören. Mit den Assis vorm Netto einen heben. Und vor allem: Kulturelle Angebote wirklich wertschätzen.

Schließlich sind jene hier zwar wesentlich knapper als in anderen Großstädten, aber gerade deswegen auch umso wertvoller. Lange Rede, wenig Sinn: Wir wagen eine Bestandsaufnahme: Wie geht’s der (Sub-)Kultur in Chemnitz? Wie funktionieren Film, Theater, junge Kunst, Labels, Bands und DJ-Dasein in der Stadt der Epoche, die man zwar Moderne nennt, die aber seit Ewigkeiten schon wieder vorbei ist?

Den Auftakt macht die Filmwerkstatt, ein Verein, der sein Vereinsdasein zwar weit weg vom Schuss, im fernen Siegmar, fristet, der aber dennoch immer wieder ins Zentrum der städtischen Aufmerksamkeit rückt. Und das vollkommen zurecht. Zum Beispiel kürzlich, als ein Film von Olaf Held mit dem Deutschen Kurzfilmpreis ausgezeichnet wurde.
Die Chemnitzer Filmwerkstatt ist auf drei Säulen gebaut: der eigenen Filmproduktion, der medienpädagogischen Jungendarbeit und unserem unangefochtenem Lieblings-Clubkino Siegmar. Wir treffen uns mit Ralf Glaser, dem Produktionsverantwortlichen, auf eine Tasse Tee und fragen ihn:

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Ralf Glaser bei der „Arbeit“. Er möchte lieber nicht erkannt werden.

 Was genau macht ihr hier eigentlich?
Das ist im Prinzip ganz einfach: Hier kann jeder versuchen, sein eigenes Filmprojekt zu realisieren. Wir stellen Technik, Schnittplätze, Personal. Je nach Wunsch und mitgebrachter Erfahrung stehen wir den Filmemachern beratend zur Seite oder helfen Fulltime. Wir beantragen finanzielle Förderung und helfen bei der Produktion. Und dann veranstalten wir regelmäßig Workshops, zum Beispiel Drehbuch- oder Animationsworkshops, aus denen  auch oft neue Projekte geboren werden.

Nach welchen Kriterien entscheidet ihr, welche Filme gefördert werden und welche nicht?
Unser Vorstand liest die eingereichten Drehbücher und entscheidet dann, welche davon finanziert werden. Es gab da mal die Regel, dass jeder Filmemacher vorab drei kurze Filme gemacht haben musste, bevor wir sein Projekt finanzieren, aber da sind wir nicht ganz so streng. Dann mache ich die Kalkulation und stelle anschließend Anträge bei mehreren Förderern. Das ist mittlerweile allerdings relativ schwierig und wir bekommen meistens ohnehin weniger, als wir beantragt haben. Deshalb fördern wir nur maximal zwei Filme pro Halbjahr, versuchen aber auch viele neue Sachen ohne großes Geld zu produzieren.

Olaf Helds „short film“ wurde kürzlich mit dem Deutschen Kurzfilmpreis ausgezeichnet…
Das ist schon eine kleine Erfolgsgeschichte. Der Film hatte Premiere in Dresden, läuft aber inzwischen auch bei Wettbewerben in Bogota, also in Kolumbien und in Belgien. Wir haben für den Film mittlerweile auch einen Verleih gefunden, den Kurzfilmverleih Hamburg ,und er läuft als Vorfilm in verschiedenen Kinos. Dann hat er natürlich noch diesen Preis gewonnen, die Lola, die es ja als Deutschen Filmpreis sozusagen auch in „groß“ gibt – aber das hier ist die für Kurzfilme, die extra verliehen wird. Es gab insgesamt zwölf Nominierungen in verschiedenen Kategorien wie Dokumentation, Spielfilm, Animation oder Experimental-Film. Und Olafs Film hat in der Kategorie Spielfilm bis sieben Minuten gewonnen.

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Was ja sicherlich mit einem gewissen Geldbetrag verbunden ist.
Allein für die Nominierung gab`s 15.000 Euro, die haben sich mit Gewinn dann nochmal verdoppelt. Aber davon fahren wir jetzt natürlich nicht fett in den Urlaub oder so, das wird alles in einen neuen Film investiert, über den wir auch regelmäßig Rechenschaft ablegen müssen.

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Die Lola von oben.

Wo wir gerade über schöne Erfolgsgeschichten reden, hast du da vielleicht noch ein paar mehr auf Lager?
Jan Soldat ist zum Beispiel so eine Erfolgsgeschichte. Sein aktueller Film, Der Unfertige, lief gerade bei den Filmfestspielen in Rom, frühere Filme von ihm liefen auch schon im Kurzfilmwettbewerb der Berlinale. Seine Sachen sind allerdings oft ziemlich umstritten. Manche Zuschauer verlassen da schonmal fluchtartig und empört die Vorführung. Es gab sogar mal eine Anzeige gegen uns, wegen dem Vorführen inzestuöser Inhalte oder so ähnlich, die natürlich großer Quatsch war und deshalb auch abgewiesen werden konnte.
Ansonsten muss man sagen, dass derzeit an jeder deutschen Filmhochschule ein Filmwerkstätter untergebracht ist. Eine Dozentin der Filmhochschule Babelsberg meinte mal, man müsse mittlerweile schon von der „Chemnitzer Schule“ sprechen, anstatt von der Berliner. Das glaube ich zwar nicht so richtig, aber es ist trotzdem schön zu hören.

Wie ist die Filmwerkstatt denn überhaupt entstanden?
Das war im Frühjahr 1991. Das Kulturamt hatte Kontakt mit mir aufgenommen, weil zwei Filmemacher aus Manchester ein Zwei-Städte-Projekt mit arbeitslosen Jugendlichen realisieren wollten…

Und dann haben sie dich einfach so angerufen?
Na ja, ich hab ja schon zu DDR-Zeiten als – damals hieß das noch so – Amateurfilmer gearbeitet und mehrere 16mm-Filme gedreht. Und anscheinend ist mein Name irgendwie  hängen geblieben. Auf jeden Fall war das damals ein ziemlich einmaliges Projekt, da gab`s auch EU-Gelder für. In beiden Städten fanden dann, 1992 war das, Workshops mit Jugendlichen statt, bei denen sie in verschiedenen Kursen Sachen wie Regie, Kamera und Schnitt gelernt haben. Am Ende stand dann ein 45minütiger 16mm-Film, der So What hieß – und unser Verein war geboren.

Die Idee des Vereins entsprang bereits aus der Jugendarbeit heraus und auch heute ist diese ja ein ziemlich wichtiger Bestandteil eurer Arbeit. Was genau machen die Jugendlichen denn bei euch?
In erster Linie gehen wir an Schulen und veranstalten dort Workshops, einige Jugendliche kommen aber auch zu uns. Das kann im Rahmen von Projektwochen passieren, mit Arbeitsgemeinschaften, aber auch in den Unterricht eingebunden sein. Gemeinsam planen wir dann Filmprojekte, verteilen die Aufgaben von der Drehbuchgestaltung bis zur Rollenverteilung, wer steht vor der Kamera, wer dahinter. Die Schüler brauchen dabei natürlich etwas mehr Betreuung und Hilfestellung als die erfahrenen Filmemacher, die sonst zu uns in die Werkstatt kommen.

Welche Themen bewegen denn die Jugendlichen bei diesen Projekten so?
Das sind meistens die typischen Jugendthemen, Dinge die sie berühren. Zum Beispiel haben drei Mädels neulich ein Musikvideo gedreht, bei dem sie selbst gesungen und auch alles selbst getextet haben, das war klasse. Aber auch Sachen wie eine kleine Horrorgeschichte mit einem Clown, die auf einem Zeltplatz spielt oder eine Dokumentation über die Demo vom 07.Oktober 1989 in Chemnitz, bei der die Jugendlichen auch Zeitzeugen befragt haben – da war die Premiere hier bei uns auch restlos ausverkauft.

Das ist ja eine ziemlich spannende Sache…
Also Komödien machen die Jugendlichen hier fast gar nicht. Es ist ziemlich beeindruckend zu sehen, was sie alles so verarbeiten, und wie sie es tun. Vor allem Stress, Leistungsdruck, auch Mobbing sind beliebte Themen und das oft in Kombination mit dem Thema Selbstmord. Das ist fast schon erschreckend, ich meine, die sind ja alle erst 16, und trotzdem spielt Leistungsdruck schon so eine entscheidende Rolle in ihrem Leben.

Puh.
Und diese Selbstmord-Geschichten sind eh so ein typisches Chemnitz-Ding. Darüber hatten wir schon einige Projekte, das Thema kommt immer wieder.

Oh Gott. Na hoffentlich ist nicht nur Selbstmord ein typisches Chemnitz-Ding, sondern auch so was erhellendes wie Kultur – wie würdest du denn im Allgemeinen das Entgegenkommen der Stadt in Bezug auf eure Arbeit bezeichnen?
Das ist super. Und die finden auch ganz toll, was wir hier machen. Unsere Einrichtung wird ja auch von der Stadt mit gewissen Kulturbeiträgen gefördert, und das ist, soweit ich weiß, relativ einmalig. Das gibt es nicht überall, eigentlich kaum. In Leipzig haben sie zum Beispiel das cinemabstruso, aber die erhalten keine Förderung. Also, das ist schon eine tolle Sache hier!

Sachsens Madchester, Joy Division und adoleszente Selbstmordgedanken. Irgendwie passt das am Ende doch alles ganz gut zusammen. Das ist aber noch lange kein Grund dafür, hier jetzt ein trübes und morbides Bild der ruhigsten Großstadt der Welt zu zeichnen. Im Gegenteil: Vereine wie die Filmwerkstatt sind stets ein lebensrettender Hoffnungsschimmer am Horziont.
Für alle Herbstwinter-Depressiven haben wir deshalb auch noch folgenden Veranstaltungstipp:
Am 21.12 veranstaltet die Filmwerkstatt im Clubkino Siegmar eine Kurzfilmnacht, die gleichzeitig auch eine Werkschau über alle in diesem Jahr hier entstandene Kurzfilme ist. Der Kinobesuch dürfte sich also lohnen.

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