Chemnitzer Einkauf.
Chemnitzer Einkauf.

Chemnitzer Einkauf.

Unser neues und liebstes Kneipenspiel ist das Erraten der unbekannten Adresse eines Gegenübers anhand der Fußminuten zu ALDI, NETTO und EDEKA. Bernsdorfer machen uns dabei bisweilen durch ihre naive Unkenntnis der Tatsache, dass es zwei NETTO in ihrem Stadtteil gibt, die größten Schwierigkeiten, während Kaßbürger durch ihre starke EDEKA-REWE-Polarität schnell zu erraten sind.  „5,5,10“, das ist leicht als Bodelschwinghstraße identifiziert. „15,1,1“, das muss die Wartburgstraße sein, während „14,1,1“ die Dittesstraße ist. Doch nicht nur der Wohnort eines Chemnitzers lässt sich mithilfe der Supermärkte aufschlüsseln, nein, der gesamte Charakter wird dem Kenner offenbar. Bereits die Betonung der stets in zwei Handklatschern sauber als zweisilbig zu klassifizierenden Ladennamen lässt uns die Zu- oder Abneigung erkennen, die unser zu analysierendes Opfer für den genannten Supermarkt in sich trägt – und auf sein Wertesystem schließen. Beginnen wir dazu unsere Reise sanft auf der hinteren Limbacher Straße, einer Zwischenwelt aus Kaßbergidyll und Tscheljabinsk. Wenn wir die Stadt auf diesem Weg betreten, staunen wir immer wieder über die Vielfalt an scheinbar willkürlich platzierten Märkten.

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Es verwundert nicht, dass uns der emotionale Tiefpunkt dieser Reise genau bei NORMA neben der TOTAL-Tankstelle ereilt. Dieser Laden liegt, um seine gesellschaftliche Salonunfähigkeit und soziale Einordnung grotesk zu unterstreichen, vier Meter unterhalb des Limbacherstraßenniveaus (welches bekanntermaßen bereits niedrig ist) in einer Art Senke, die von Geografen auch als das „Death Valley“ von Chemnitz bezeichnet wird. Steigen wir also hinab in diese Hallen, die von nur einer Kassiererin und einem Security betrieben werden. Als positiv erleben wir gleich die tschechischen Biere, die es hier in leberfreundlichen Zweiliterflaschen gibt. Obst und Gemüse sind in kleinen Mengen vorhanden sowie eine erlesene Auswahl von Fischprodukten in Büchse und Aspik.

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Die Schokoladenweihnachtsmänner sind mit den Schokoladenosterhasen auf unnatürliche Weise vermischt und in einem Pappaufsteller neben den Gummistiefeln und dem Wandhakensortiment (99 teilig) plaziert. Wir begegnen hier den nachschubholenden Korn- und Biertrinkern vom NORMAparkplatz, den freundlichen älteren Leuten von der Limbacher, den Meffern und, am interessantesten, den Gescheiterten des angrenzenden Kaßbergs. Diese müssen einen geografisch-sozial großen Abstieg vornehmen, durch Heimlichkeit bemüht ihre EDEKAwürde zu wahren, um mit einem solarbetriebenen Taschenrechner die Preise ihres Einkaufs zusammenrechnend am Existenzminimum einzukaufen. NORMA ist das Sternburg Export, das ich an verregneten Dienstagen in der ZUKUNFT bestelle, mit den Worten „ein SternburgER bitte“ um eine Axt im Toleranzempfinden der Punks zu sein. Wie zum Hohn singt den so abgestiegenen gebeutelten Franz-Mehrings, Henrietten und Walter-Oertels auf dem Heimweg der finanziell unerreichbare REWE hinterher, wenn sie bergan steigen:

Und seine Zweige rauschten,
Als riefen sie mir zu:
Komm her zu mir, Geselle,
Hier findest Avocado Du’!

Den Aufpreis, den man für hellere Ladenbeleuchtung, das größere Angebot und besseres Sehen-und-Gesehen-werden bei REWE gegenüber NORMA zu zahlen hat, beträgt beim leckeren Leipziger Käsesalat übrigens genau 30 Cent.

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NETTO wird von Laien gerne mit NORMA gleichgesetzt, doch weit gefehlt, NORMA hat keine Dosentomaten. NETTO hat außerdem einen dunkeln Bruder, vom Autor genannt darkNETTO (der mit dem Hund!). Diesen Laden hat noch nie jemand betreten (außer der Autor zu Sylvester 2014, um Pombären und Orangensaft zu kaufen). Betreten wir darkNETTO umgibt uns nicht Dunkelheit sondern ein von Haruki Murakami oft beschriebenes surreales Gefühl einer LIDL-EDEKA Vereinigung. Ein Zwitterwesen, das nichtmal die geschlechtsneutrale Lokomovtoilette verstehen kann. NETTO Marken-Discount (wie der gelbrote normale NETTO korrekt zu bezeichnen ist) hält sich dagegen im Hintergrund, beliefert die Ausgestoßenen mit Dosenbier der Marke Schloss sowie feinsten Kornspezialitäten, vollautomatisch aufklappenden Stand-Wäschekörben und einer größeren Obstauswahl als NORMA. NETTO ist für alle, die zu NORMA wollen, sich aber nicht hineintrauen. Während NORMAisten bereits alle Hoffnung haben fahren lassen, träumt der NETTOgänger im Stillen von Höherem, und so ist es nicht verwunderlich, dass sich die Luxuskonkurrenz oft in Blickweite der NETTOeingangstür befindet. Die Kunden sehen sich in einer Durchgangsstation, die, wie wir wissen gleichermaßen bei REWE oder NORMA enden kann, ebenso wie die Durchgangsstudenten entweder in Leipzig enden oder doch eben nur in Kohren-Salis. NETTO ist deswegen nicht nur wegen seiner extremen Präsenz der für Chemnitzer typischste Supermarkt, um dieses verhasste Wort zu benutzen, sondern eine Metapher für „naja ist ja nicht für immer, ist halt billig und ich hab eh in der Nähe gewohnt“. Für „Schloss Hefeweizen“ aus der Dose zu 29 Cent in den schweren frühen 2010er Jahren ist der Autor lebenslang zu Dank verpflichtet.

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LIDL ist so ausdruckslos und nichtssagend wie Spagetti im Vapiano nach dem H&M Shopping. Während der Kaßberg-LIDL einfach langweilig und durchschnittlich ist wie ein Ikea-Kronleuchter an der vier Meter hohen Altbaudecke , bietet uns der weithin gefürchtete da von vielen Ausländern aufgesuchte Sonnenberg-LIDL Szenen, wie wir sie sonst nur in großen Städten überall erleben können. Der übliche Rat an Chemnitzüberdrüssige, die echtes, authentisches Stadtflair suchen, muss also folgerichtig „Sonnenberg-LIDL“ lauten. Manche berichten ehrfurchtsvoll, dort gleichzeitig türkisch und russisch gehört zu haben. Die Etymologie von LEGIDA ist damit wieder fraglich.

Der rötere Konkurrent wirbt mit saloppen Slogans und versucht sein Dorfimage abzulegen, ist aber trotzdem stets leer und kalt wie die Studentendisko. „Erstmal zu PENNY“ ist eher stöhnend als munter gedacht, da wir ihn nur mit Mühe an den seltsamsten Orten auffinden können. Die Atmosphäre bleibt aber trotz Bemühungen um Kumpelhaftigkeit noch bürgerlich-beklemmender als das AALTRA, auch wenn wir das angebotene Dosenbierangebot jederzeit einem gezapften „PU“ vorzuziehen haben, wollen wir uns nicht den nächsten Tag verderben.

LIDL und PENNY ähneln insgesamt einem Mittdreißiger in kariertem kurzen Hemd der im Diebels sitzt und Bier trinkt (PENNY hat ein Tribal-Tattoo mehr auf dem Arm). Die LIDL und PENNY Käufer kennen kein NORMA und NETTO, sie kennen kein EDEKA, kein REWE, sie kennen aber ihren Platz in Gesellschaft und Supermarkt und der ist eben „erstmal bei PENNY“. Tatsächlich gibt es genau wie bei Fußballfans, die im Herzen das gleiche mögen, eine starke Rivalität. LIDL-Menschen haben bisweilen Vorurteile, und zwar die allerschlimmsten, über PENNY-Menschen, und umgekehrt. Sowas entsteht, der Vorgang ist weltweit bekannt, immer bei Dingen die sich sehr ähneln.

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ALDI steht sozial, und jetzt kommt die Überraschung, kurz vor REWE. Der Preis spielt dabei keine Rolle, natürlich ist ALDI noch immer gefühlt der Billigste. Aber war ALDI zwar dadurch lange ein einfaches Gesprächsthema um sich über alles Niedrige und Arme und Würdelose und Verkommene zu stellen, indem man es als unter-seiner-Würde abtat, hat es sich heimlich an allen und allem vorbeigewandelt, wie auch unsere Stadt selbst sich gegen alle Widerstände von grau-veraltet-lahm zu grau-veraltet-lahm-kulturhauptstadt-in-spe gewandelt hat. Im Kaßberg-Altendorf-ALDI treffen wir regelmäßig auf die klügsten Professoren und die reichsten Industriellen der Stadt, kurz, die oberen Zehn. In Chemnitz bietet es sich an, statt der üblichen oberen Zehntausend oder der oberen Zehnprozent lediglich von den oberen Zehn zu sprechen. Wir finden sie alle in diesem ALDI versammelt, mürrisch im Februar die abgelaufenen Zimtsterne betrachtend. Verachten wir auch das 8er-Pack Billigjogurt mit Fruchtmatsch, so sind wir ungleich dankbarer für den sogenannten Weichkäse und die gepfefferten Pistazien.

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EDEKA gehört zusammen mit REWE zum höchsten, was in Chemnitz zu denken und zu erreichen ist. Das Verhältnis von Kaufkraft und Preis steht hier diametral auf dem Kopf, sind es doch gerade die Studenten und Studentinnen, die ihr EDEKA-Image und ihr REWE-Selbstverständnis mit der gleichen Intensität pflegen wie sonst nur ihr Instagram-Profil. Wie jeder weiß, gibt es nur eine Sache, die häufiger diskutiert wird, als „ich zieh nach Leipzig, dort ist mehr los“, nämlich: „ja klar ist EDEKA teuer, aber wenn man nur die ja! Produkte kauft kommste aufs gleiche raus“. Es ist dabei noch nicht das letzte Wort gesprochen, welcher Markt der Höhergestellte sei, aber während wir zu EDEKA den Kaßberg hinaufsteigen müssen, begeben wir uns zu REWE die Barbarossastraße hinab. Der EDEKA Gänger sucht den REWE nur im Notfall auf, welcher nur dann Eintritt, wenn der pinke Glasflaschensmoothie ausverkauft ist.

Je heruntergekommener die Person, desto wahrscheinlicher ist die EDEKA-Treue. Dies verwundert uns, versprüht doch gerade EDEKA den Charme von Kleingarten und Eicherustikal. Sogar politisch höchst engagierte ContainerInnen suchen bevorzugt EDEKA für ihr sparsames die-Sachen-sind-alle-noch-gut Vergnügen auf, denn auch und insbesondere der/die Homo ContainerInn hat den allerhöchsten Anspruch an alles. Wir sind amüsiert über die moralischen Schwierigkeiten, die durch die neu eingeführten Selbstbedienungskassen für die EDEKA Zielgruppe entstehen und sehen bereits ein REWE Umdenken am Horizont. Ein weiteres EDEKA Phänomen ist die sogenannte Kühltruhenverlegenheit. Chemnitz ist zwar groß genug für EDEKA, aber auch klein genug um jedesmal mindestens eine unangenehme Begegnung mit einem Menschen der Vergangenheit bereitzuhalten, und mit grauenhafter Sicherheit immer an den Kühltruhen. Verhaltensforscher beobachten dabei die Volvicverstecksuche sowie die Vorbeistreifbegrüßung of shame. Ein weiterer Pluspunkt für NORMA: unmöglich hier überhaupt irgendwem zu begegnen.

Was haben wir vergessen? Kaufland, Marktkauf, die werden überwiegend von VW Bus fahrenden Grillfeste organisierenden Stadtrandfamilien aufgesucht und von allgemein Schnauzbärtigen.

Wer sich noch nicht entschieden hat, noch nicht den eigenen Traumsupermarkt gefunden hat, oder einfach noch nie darüber nachgedacht hat, dem wird nun endlich geholfen: re:marx bietet eine kostenlose psychoanalytisch aufwendig erstellte Infografik zur eigenen Charaktereinordnung an und wünscht angenehmen Einkauf.

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