Die Post der Moderne: Was im Januar in Chemnitz geschah.
Die Post der Moderne: Was im Januar in Chemnitz geschah.

Die Post der Moderne: Was im Januar in Chemnitz geschah.

Der Januar ist der längste Monat des Jahres, ein nie enden wollender Montag, und jetzt endlich vorbei: Chemnitz hat einen Tiger weniger, ein paar Lausbuben mehr und endlich wieder Charisma. Die Post der Moderne ist zurück – jetzt regelmäßig als Monatsrückblick.

Die Substanz des Monats:  Chemnitz ist eine abgasaffengeile Autostadt, quasi das sächsische Los Angeles, und gilt als die Wiege des deutschen Parkhauses. Die Fußwege sind nicht etwa leer, weil hier niemand wohnt, sondern weil hier jeder Auto fährt, als gäbe es keinen Technobus mehr.  Deshalb schmeckt die Chemnitzer Luft auch immer ein bisschen dunstig nach Diesel und nach dem Krebsrisiko, das so schön auf der Zunge prickelt, wenn man am Ampelstau vorbei schlendert und tief ein- und danach schwarze Feinstaub-Brocken wieder ausatmet. Weil Chemnitz gemeinhin als Peking des Ostens gilt, war die Feinstaubbelastung zu Silvester hier dezent höher und stieg auf 670 Mikrogramm pro Kubikmeter.  Zum Vergleich: Die karg besiedelten Ökohippiehochburgen Leipzig und Dresden lagen mit lächerlichen 90 Mikrogramm weit abgeschlagen hinter Chemnitz, das sich endlich mal gegen die beiden durchsetzen konnte und sich dem Traum von der Kulturhauptstadt-Medaille ein kleines bisschen näher böllerte. Klimaforscher und weltweite Wissenschaftler rätselten derweil, wie es in einer Stadt namens Rußchams zu derart hohen Werten kommen konnte, und machten Böller dafür verantwortlich. Gemessen wurde der Wert jedoch an der Leipzigerstraße, die bekannt ist für ihr ausgeprägtes Feinstaubmilieu, weil sie ständig als Ersatzspur für die dauerkaputte Reichsbahnanbindung nach Leipzig herhalten muss. Wir vermuten: Die explodierten Feinstaubwerte lagen gar nicht am Geböller, sondern daran, dass selbst in der Silvesternacht viel zu viele Autos unterwegs waren. Vermutlich wurden die meisten Chemnitzer Böller einfach während der Fahrt zum nächstgelegenen Mäcces schön aus dem SUV heraus gezündet — das ist erstens viel sicherer und zweitens muss man dabei nicht raus an die frisch verpestete Luft.

 

Die Gentrifizierung des Monats:  Für den Großteil der Chemnitzer bleibt das Thema Gentrifizierung ein urbaner Mythos aus einer fernen Großstadt-Galaxie. Denn in Chemnitz  steigen zwar die Gehälter, aber nicht die Mieten, und das macht die Stadt zur gefühlt einzigen Metropolregion weltweit, in der man sich das Leben noch leisten kann. Blöd nur, dass sie sich ausgerechnet jetzt als Kulturhauptstadt bewirbt, was bedeutet, dass spätestens in sieben Jahren alle hier her wollen und die Eigentumswohnungen am Kaßberg knapp werden, weil Berlin vorbei und die Sachsenbrücke im Leipziger Zetkinpark wegen Überlastung im Elsterflussbett versunken ist. Vermutlich ist das dann aber auch egal, weil der Leerstand so groß ist, dass halb München hierher ziehen könnte, ohne dass die Wohnungen jemals knapp werden würden. Weil es miet der Gentrifizierung einfach nicht so richtig klappen will, probiert man sie in anderen Bereichen aus. Im Nahverkehr zum Beispiel, wo unter dem Dreckmantel der Barrierefreiheit die Zenti modernisiert wird und alteingesessene Bus- und Bahnlinien vom Technopark verdrängt werden. Oder im Kulturbereich, in dem sie ja unbedingt Hauptstadt werden will: Deshalb gibt es Veranstaltungen wie „Mehrwert Mensch“ – Bewerbung der Stadt Chemnitz als Europäische Kulturhauptstadt 2025“. Und weil man bei der Bewerbung ja auf Bürgernähe und Partizipation setzt, fand die schwermenschelnde Veranstaltung mit Vorträgen und der Vorstellung eines noch nie gesehenen 3D-Laser-Druckerprojektes nicht in der bürgernahen Stadthalle, sondern im Chemnitzer Hof statt, für 22 Euro Eintritt. Einen Preis, den man mit Sekt und Dessertbuffet künstlich in die Höhe getrieben hatte. Wenn es mit dem Brühl schon nicht klappt, dann eben mit der Kulturhauptstadt.

Die Bauvorhaben des Monats: Der Chemnitzer Innenstadt fehlt es ja gemeinhin an Flair, nicht aber an Ideen, diesen chronischen Charisma-Mangel auszugleichen: Denn was könnte einer Innenstadt mehr Charakter verleihen als 238 Supermärkte? Deshalb, und weil ein Rewe, ein Aldi, ein Konsum und der authentische Edeka für unsere bescheidenen Konsumbedürfnisse einfach nicht ausreichen, baut sich die Stadt erstens noch einen gigantischen Supersimmel und zweitens noch einen weiteren Rewe auf den Getreidemark – weil dort aktuell noch zu viele Bäume stehen, wird es höchste Parkeisenbahn, den nächsten lieblosen Betonbrocken ins Stadtbild zu klotzen.
Den ambitionierten Bauplänen rund um die „neue Johannisvorstadt“ fällt indes eine der wichtigsten subkulturellen Institutionen der Stadt zum Opfer: Der Döner-Drive-In. Der kleine Glaskasten  mit dem schönen Neonlicht, den Kunstpalmen und den viel zu fettigen Soßen soll abgerissen und an anderer Stelle wiedereröffnet werden.  Der Besitzer weigert sich vehement und konnte die Frist etwas herauszögern. Immerhin ist der Döner ein Dreh- und Angelpunkt des Nachtlebens, der einzige Späti der Stadt, an dem wir alle schon dehydriert Döner verdrückt, Lebensmittelvergiftungen kultiviert und unvergessliche Chemnitz-Momente erlebt haben. Jetzt soll er einem Gebäudekomplex weichen. Ganz aus Beton, also vermutlich, denn das ist die Substanz, aus der die Chemnitzer nun mal gemacht sind.  Kulturhauptstadtträume aber werden aus Dönern und scharfer Soße gemacht.

MRB des Monats:
Während uns allen entgangen ist, dass der Chemnitzer Hauptbahnhof im November in Berlin mit einem internationalen Architekturpreis für die trostloseste Eingangshalle ausgezeichnet wurde, begegnen uns im lokalen Newsfeed mittlerweile fast täglich Horrormeldungen aus der gruseligen Geisterbahn nach Leipzig, auf die es wegen eines 86-minütigen Schwarzfahrer-Vorfalls  Ende Dezember im vergangenen Monat heftige Kritik geschneeregnet hat. Und weil wir gerade beim Thema Schnee sind: Anfang Januar wurde erneut ein Zug auf dem Weg von Leipzig nach Chemnitz gestoppt – wegen eines Pulvers, das verdächtig weiß im Frauenabteil herumlungerte. Vielleicht waren es einfach nur die herrenlosen Amphetaminreste eines IfZ-Mechanikers, vielleicht war es kunsthistorischer Farbstaub, den Ingrid Mössinger beim Pendeln vergessen hat, vielleicht war es auch eine ernstgemeinte Drohung gegen die beschissenste Bahnverbindung seit Erfindung der Dampflok. Wahrscheinlich waren es aber nur Traubenzuckerkrümel, die ein von der Höllenfahrt geschwächter Gast versehentlich verstreut hat.

Runkel des Monats:
Der ausgewiesene Ordnungsbürgermeister, überzeugter Überwachungskameramann und  Faschingsfan möchte sich zum diesjährigen Chemnitzer Karnevalsreigen als selbstironischer Sheriff verkleiden. Im großen Kriminalitäts-Interview mit der Freie Presse hat er auf die seltsam tendenziöse Frage, ob seine Frau abends noch alleine  in die Stadt gehe, gesantwortet: „Ja, aber so etwas gibt es ja nicht nur im Stadtzentrum. Dass es in einer Großstadt an einem so zentralen Ort wie beispielsweise der Zentralhaltestelle nicht immer reibungslos zugeht, ist doch das Normalste der Welt.“ Amen.

„Lausbuben“ des Monats: Unser Chemnitz und Karl-Marx-Stadt hat es mal wieder in die internetionale Presse – also auf Spiegel Online – geschafft, Grund: Das Nazi-Gekritzel an der kurdischen Bäckerei auf dem Sonnenberg. Im recht differenzierten Artikel tauchen leider wieder Nachbarn auf, die von „Lausbubenstreichen“ sprechen, das ist die offizielle  sächsische Verniedlichungsform von Nazis.  Einer dieser Lausbuben hat dann kürzlich bei einer Demonstration gegen die anstelle der Stadthalle geplanten Community-4-You-Moschee den Hitlergruß gezeigt, denn so begrüßt man sich nun mal klischeegemäß in Ostdeutschland.

Was sonst noch geschah:
Das Leben ist ein ewiger Kreissaal und eine einzige Abstiegsgefahr, das weiß man auch beim spielerisch wie finanziell ewig-insolventen CFC. Und weil Stadien wie die Community-4-You-Arena als die Tempel, die Kirchen der Neuzeit gelten, die sich durch perversen Abseits-Handel finanzieren, kann man im CFC-Stadion jetzt auch heiraten und in den Umkleidekabinen ein Kind zeugen, das dann neun Monate später im CFC-Kreissaal des Flemming-Krankenhauses geboren und seines Lebens nicht mehr froh wird. Für das Sax, den beliebten Szeneclub an der Leipzigerstraße, hat sich dieser ewige Kreis jetzt für immer geschlossen. Das Sax reiht sich damit in die lange Liste in Chemnitz elendig verreckter Clublegenden ein, Tag24 schreibt vom „Ende einer Ära„, das N’Dorphin hält die Trauerrede und ganz Chemnitz weint dicke Tequilapartytränen.

 

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