Ein altes Chemnitzer Sprichwort sagt: „Eine Stadt sollte in ihrem Leben drei Dinge tun: Ein Kellnbergerhaus bauen, einen Marktbaum pflanzen und einen Maker zeugen.“
Seitdem nun also Anfang November auf dem Chemnitzer Markt ein Baum gepflanzt wurde, ist Chemnitz endlich die perfekte Stadt und mindestens so alpha wie all die Männer, die ein Haus gebaut, einen Baum gepflanzt und, ganz wichtig, einen SOHN gezeugt haben. Aber weil Chemnitz immer noch Chemnitz ist, treibt die Baumpflanzung natürlich seltene Blüten in den kommunalen Kommentarspalten: Die Chemnitzer:innen sind wie immer unzufrieden mit ihrem Baum. Chemnitz gilt generell als sehr baumkritische Stadt: Wie oft wurden hier schon unschuldige vogtländische Fichten als „Krücken“ oder „Krüppel“ beschimpft, nur weil sie nicht dem erzgebirgischen Weihnachtsbaum-Maß-Index entsprechen? Dass nun ausgerechnet das vermeintlich harmlose Thema Baum die Boomer triggert, hätte man also ahnen können. Denn was ist ein Baum, also im besten Fall? Genau: Ein Baum ist grün. Und Grün sein ist einfach schwierig in Sachsen. In der anti-grünen Säge-Sachsen-Logik macht ein Baum nicht etwa Schatten oder saubere Luft oder Lebensraum für Vögel und Insekten, nein — ein Baum macht vor allem Dreck.
Jetzt steht in unserer ohnehin sehr empfindlichen Innenstadt, die ja schon dreckig und gefährlich genug ist, also auch noch ein Baum. Eine Silberlinde um genauer zu sein, eine aus Südosteuropa eingewanderte Art, die — wir wissen es jetzt schon — im Sommer ihre lästigen Lindenblüten einfach so auf den Boden werfen und dort liegen lassen wird. Die die unzähligen Autos, die täglich auf dem Markt parken, schmutzig machen wird, oder, noch schlimmer, Kratzer durch herabfallende Zweige verursachen und später keine Verantwortung dafür übernehmen wird. Die Silberlinde wirft jetzt schon ihren Schatten voraus, denn niemand hat uns gesagt, wann die Linde eigentlich blüht, nämlich im Juli: Genau, das Weinfest ist in Gefahr. Lindenblüten im Grauburgunder, Lindenblüten als Langostopping, Lindenblüten auf dem Pflaster, auf dem man dann betrunken ausrutscht. Und überhaupt: das Laub. Leute. DAS LAUB!? Wie viele laute Laubbläser wird es in Zukunft brauchen, um den Marktplatz vom Lindenlaub zu befreien und was bedeutet das für unseren Weihnachtsmarkt? Kann es überhaupt noch einen Weihnachtsmarkt geben, wenn drei Lindenblätter auf dem Pflaster liegen und den Marktplatz verschmutzen? Fragen, auf die es noch keine Antwort gibt, aber eines ist klar: All das würde nicht passieren, wenn man eine trockene Thuja gepflanzt oder ein hübsches Schotterbeet angelegt oder einen der Bäume aus dem versteinerten Wald hingestellt hätte.
Die wenigsten wussten es bisher: Bäume wachsen
Dann gibt es noch die andere Fraktion, die sich daueraufgeregt darüber empört, dass der Baum zu klein ist, typisch Chemnitz, und so was will Kulturhauptstadt werden? Auch wir haben uns den Baum ehrlich gesagt ein bisschen größer vorgestellt, haben gedacht dass ein spektakulärer Schwertransport eine rustikale dreihundertjährige Eiche anschleppt oder eine gigantische Trauerweide mit Ästen, die so schlecht gelaunt über dem Marktpflaster hängen wie die Chemnitz-Fressen der Passanten. Jetzt, wo wir das aufschreiben, fällt uns auf, wie naiv das war. Bäume sind erstens teuer, Bäume haben zweitens Wurzeln und können nicht so einfach hin und her gepflanzt werden und drittens, und das wussten bisher die wenigsten: Bäume wachsen.
Vor allem die Silberlinde wächst, sie ist wachstumsstärker als die deutsche Automobilindustrie, macht 40-60 cm im Jahr (für Pflanzen ist das sehr sehr gut) und ist außerdem besonders beliebt bei Hummeln. Was will man eigentlich mehr? Ach ja. Mehr Bäume will man, ein paar Buddys für unsere kleine Silberlinde. Aber der strenge Haushaltsplan von Sparstrumpf-Svenni sagt dazu leider nein. Wir mögen den Marktbaum jedenfalls, auch wenn (oder weil) er wahrscheinlich großes Meme-Potenzial hat. Er tut uns nur ein bisschen leid, weil er da so ganz alleine steht. Außerdem machen wir uns ein bisschen Sorgen: Dass ein Grünhassender ihn nachts brutal absägt oder dass sich Proteste vor dem Baum formieren, dass es aufgeheizte „Wider Stamm“-Rufe gibt oder dass Käse Maik bei seiner umjubelten Rückkehr auf den Chemnitzer Wochenmarkt den Baum aus Versehen einfach umfährt. Vor allem aber machen wir uns Sorgen, dass der Baum allein in endlos trockenen Hitzesommern auf einem schattenfreien Marktplatz leiden muss.
Themawechsel: Und zwar hat Chemnitz ja auch eine Handvoll Jugendliche, die in Zukunft hemmungslos unter dem Baum herumlungern könnten. Wenn sie nicht zu sehr damit beschäftigt wären, aus Chemnitz wegziehen zu wollen. Was fällt ihnen ein, jetzt wo Chemnitz ein Lichterfest und ein Leuchtherz hat?
Jedenfalls hat die Stadt neulich eine Jugendumfrage gestartet, sage noch mal jemand die Stadt tue nichts für ihre Jugend, und 6000 Fragebögen an Jugendliche im Alter zwischen 16 und 19 Jahren geschickt. Etwa 1800 Fragebögen kamen ausgefüllt zurück — und das Ergebnis ist bitter: Fast 80 Prozent aller Jugendlichen wollen vielleicht oder sicher weg aus Chemnitz.
Alle, die mal einen Nagel eingeschlagen haben, sind plötzlich Maker
Unter anderem wurde gefragt, was wichtig ist, damit junge Menschen in der Stadt bleiben, und die Antwort wird niemanden überraschen, außer Sven Schulze. Neben beruflichen Perspektiven sind das nämlich vor allem: Kultur, Veranstaltungen, Events und Festivals. Also Hutfestival, Weindorf, Rod Stewart Revival, Maker-Folklore, Kastelruther Spatzen und Brauereimeile – was die Trendsetter-City Chemnitz eben so kulturell für junge Menschen zu bieten hat. Auch noch wichtig waren unter anderem: Freizeitmöglichkeiten (Schlüpfermarkt, Parkeisenbahn und Eisenbahnmuseum Hilbersdorf), Shopping (Kik, Tedi und Pepco) oder Nah- und Fernverkehr (Citybahn nach Aue). Gar nicht wichtig hingegen war: Beteiligung. Das ist lustig, weil: Die europäische Kulturhauptstadt, die Chemnitz ja vor sich selbst retten soll, vor allem auf provinzielle Partizipationskonzepte setzt und allen, die mal irgendwann einen Nagel eingeschlagen haben, plötzlich den Maker-Stempel aufdrückt. Das ist okay, kann aber nicht alles sein. Denn es will gar nicht jeder immer Maker sein, sondern ganz oft auch einfach nur User. Auch wir haben gar keinen Bock auf Lötkolben, 3D-Druck und Klöppelstuhl, wir wollen einfach nur Kultur konsumieren. Popkultur oder geile provokative Kunst, es kann gerne politisch sein oder auch nicht, es sollte nur keine Angst vor Haltung haben und nicht ständig ängstlich vor potenziellen Facebook-Boomer-Kommentaren einknicken.OB Svenni, der Mann, der das einzige Angebot für junge Menschen dieser Art quasi gecancelt hat und die Jugend nun aus der Stadt spart, zeigt sich jetzt natürlich total verwundert von den Umfrage-Ergebnissen: Er sei überrascht, dass Heimatverbundenheit für die Jugendlichen nicht so wichtig ist wie Kultur, Festivals, Shopping, Freizeit und…was wars noch? Ach ja, Perspektive. Das sagte er ernsthaft der Freien Presse. Aber: Er sehe die Ergebnisse als Handlungsanweisung. Immerhin. Vermutlich wird er aber eher an der beruflichen Perspektive (Wirtschaft) schrauben, als auch nur irgendwie an der Kultur.
Zum Schluss noch eine Meldung aus der viel gefürchteten Sprachdiktatur. Man darf ja heutzutage gar nichts mehr sagen, „CDU-Politiker:innen“ zum Beispiel. Das soll jetzt verboten werden – von CDU-Politiker:innen. Die CDU will der Stadtverwaltung das Gendern verbieten, weil geschlechtergerechte Sprache ja bekanntermaßen das größte Problem unserer Zeit ist. Und weil Chemnitz als Stadt derart fortschrittlich ist, dass hier permanent rücksichtslos gegendert wird, als gäbe es keinen Duden mehr. Zum Beispiel manchmal in Insta-Posts der Stadtverwaltung. Zu viel für die CDU, die jetzt einen auf Zwickau machen und die schlimme Sprachdiktatur, unter der wir hier alle leiden, verbieten will. Richtig so! Der Fortschritt der Gesellschaft lässt sich nur noch mit Verboten bremsen. Das hat auch OB Svenni erkannt, und bleibt, obwohl er selbst kein Freund des Genderns ist, erstaunlich stabil: Er hat der CDU das Genderverbot einfach verboten.
Ich würd mir mehr Gedanken machen wenn junge Leute in der Mehrzahl sagen „nee wir wollen nicht weg, wir bleiben hier“. Es ist normal in dem Alter Fernweh zu haben, aufm Sprung zu sein, wo hin zu wollen. Ganz egal wo Du lebst.