Am Chemnitzer Rathaus blinkt jetzt eine Leuchtschrift: bürokratieblaue Letter, kaum lesbar und trotzdem: wie am Times Square. Chemnitz, das New York des Ostens, wir haben es schon immer gesagt. „Chemnitz, Kulturhauptstadt Europas“, sagt wiederum die Leuchtschrift. In 355 Tagen oder in 352 oder in 333 oder 33 oder 3, je nach dem, welcher Tag heute ist. Jedenfalls, it’s the final Countdown, und er hat begonnen, seitdem OB Svenni bei seinem Neujahrsempfang feierlich auf den Symbol-Knopf gedrückt und das letzte Level freigeschaltet hat. Der Countdown läuft bis zum 18. Januar 2025, wenn beim Kuha-Opening die große Makerparade über die Brückenstraße ziehen wird und die Freie Sachsen Trommelgruppe gleich hinterher. Das haben Kohlmann und Co. jedenfalls schon mal beziehungsweise noch mal angekündigt — Chemnitz nimmt es mit der konsequenten Umsetzung des Bid Books eben sehr genau. Aber wahrscheinlich wird das alles gar nicht so schlimm, weil die Stille Mitte bei der Makerparade selbst gemakte Gegenstände in die Luft halten und damit endgültig rechte Strukturen zerschlagen wird. Und wenn dann ein Lichtkegel feierlich den Spruch „Maker aller Länder vereinigt euch“ zur Livemusik eines gecancelten Mannes auf die Parteisäge projizieren wird und wir alle kollektiv Gänsehaut haben, dann haben wir Chemnitz endlich durchgespielt. Das wird gut. Oder?
Oder?
o d e r?
Auf Instagram vermittelte die Stadt neulich eher einen gegenteiligen Eindruck: Wieder OB Svenni, dieses Mal in einem Video. Er erzählt etwas zur Kulturhauptstadt. „Warum sind denn gerade DIE Kulturhauptstadt geworden?“, sagt er, als würde er selbst daran zweifeln, dann aber: „Weil wir es unbedingt wollen“. Dabei sieht er allerdings aus, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen, als hätte ihn jemand dazu gezwungen, das so zu sagen. Wie ein Kind, das in der Kita scharfe Aal-Suppe mit Spinatbrocken essen muss. Ganz anders unser Ministerpräsident Micha, der in seiner Neujahrsansprache entschlossen einen auf Rammstein macht, mit Helm im Stahlwerk, hinter ihm Funken und Feuer und Männer. Von ihm: Worte wie „Stolz, Leidenschaft, Deutschland, Arbeit“, eine Rede wie von Till Lindemann geschrieben. Das ist der Macher- und Mackergeist, den Chemnitz jetzt braucht. Denn eigentlich müssten wir alle längst fanatisch „Fetzt“-Schilder laubsägen, täglich unsere Euja-Hoodies auftragen, die Garage noch mal gründlich putzen, die Zweitwohnung schon mal auf Airbnb einstellen, uns das neue Bekenntnis-Herz auf den Oberschenkel tätowieren lassen. Eigentlich müsste die Stadt flirren vor nervösem Taten- äh Makerdrang. Eigentlich.
Aber die Stimmung ist schlecht in der Provinz, in der Stadt, im ganzen Land. Zumindest wird das jetzt immer so gesagt, wie eine Anti-Affirmation inmitten der TikTok-esoterischen Manifestationsmantren. Die schlechte Stimmung, das ist der neueste Hauptstadttrend, den alle unreflektiert mitmachen: Schnauzbärte, schwarze Steppjacken, als Social-Media-Aktivismus getarnter Antisemitismus. Und jetzt hängen, passend zur Rückkehr der Nullerjahre-Baggypants, auch noch die Mundwinkel ganz weit unten. Warum? Weil alles so schlecht ist hier bei uns in Deutschland. Danke, Ampel!
Klar, Ukraine, Afghanistan, Hamas-Terror, Gaza zerbombt, Jemen, Sudan, Klimawandel und so, aber uns hier, uns trifft das alles am härtesten. Denn wer denkt an unseren Wohlstand? Wer schützt unsere Konten? Wer rettet unsere Kalbsschnitzel?Im Oberopferland Sachsen ist natürlich alles besonders schlecht: die Ampel, die Ausländer, die anderen. Nie ging es uns schlechter. Darauf erstmal den Dritt-SUV aus der Ebersdorfer Eigenheimgarage holen und raus aufs Feld dieseln, noch mal 1000 Euro wegböllern, als Zeichen gegen die da oben. Unzufriedensein aus Prinzip. Von Umsturzplänen faseln und Nazis wählen wollen, weil sich dann die Komplexität der Welt sofort in braune Luft auflöst und alles besser wird. Und ja, vieles ist teurer geworden, und ja, viele Menschen sind von Armut betroffen. Aber laut sind vor allem die anderen. Laut oft sind die, die Angst davor haben, einen Teil ihres Wohlstandes abgeben zu müssen.
In Chemnitz ist die Stimmung wie die Stadt selbst: irgendwie grau, irgendwo dazwischen. Vielleicht geht es bergab mit der Stadt, denn alles schließt, der Mäcces, Vapiano, Jysk, die Hälfte der Läden am Rosenhof ist dicht, und wenn etwas neu eröffnet, dann ist es direkt ein Jugendzentrum der IB. Vielleicht geht es aber auch bergauf mit der Stadt, denn die Kulturhauptstadt kommt und mit ihr die Touristen und überhaupt, der Marktbaum zeigt schon erste Knospen in dieser baumfeindlichen Umgebung, wenn das mal kein Zeichen ist. Trotzdem bleibt die Euphorie gedämpft, weil auch über der Kulturhauptstadt das demokratische Damoklesschwert namens „Superwahljahr“ hängt, das in Sachsen zum „Supergauwahljahr“ werden könnte. Wie wird das mit der europäischen Kulturhauptstadt, wenn sich die Mehrheiten im Stadtrat und im Landtag ändern? Welcher Ministerpräsident schüttelt am 18. Januar 2025 internationale Maker-Hände?
Das Zeitalter des rauchlosen Lulatsch
Immerhin: In Chemnitz ist ein neues Zeitalter angebrochen. Nein, nicht das Zeitalter des Wassermanns, von dem jetzt auf TikTok alle faseln. Chemnitz hat natürlich ein eigenes Zeitalter: In Chemnitz steht Pluto jetzt im Zeitalter des rauchlosen Lulatsch. Dort stand er zuletzt vor der Industrialisierung, also bevor sich die Stadt zum sächsischen Manchester und zu internationaler Größe aufschwang. Zeitalter-Expert:innen sind sich noch uneinig, ob das Zeitalter des rauchlosen Lulatsch nun Aufschwung oder Untergang der Stadt bedeutet. Bei einem sind sich allerdings sicher: Das Zeitalter des rauchlosen Lulatsch wird ein revolutionäres Zeitalter, nicht nur wegen des damit verbundenen Braunkohleausstiegs der eins energie und weil es dem Lulatsch gelungen ist, nach Jahrzehnten des Ketterauchens von einem Tag auf den anderen rauchfrei zu werden, sondern auch wegen seiner provokativ bunten Farben, die im traditionell grau geprägten Chemnitz schon immer als revolutionär galten.
Und tatsächlich: Seitdem das Heizkraftwerk Chemnitz-Nord am 18. Januar – genau ein Jahr vor Kuha-Opening (Zufall oder Chiffre?) — heruntergefahren wurde, laufen die Dinge in der Stadt anders:
Einerseits gibt es eine schleichende Übernahme durch das Erzgebirge. Nicht nur durch die auefarbenen Arme des Purple Path, die auch Teile von Chemnitz immer fester umklammern, sondern auch durch erzgebirgische Gastronomen, die hier plötzlich eine Kneipe nach der anderen übernehmen, unter anderem Emmas Onkel auf dem Kaßberg. Der Kaßberg wird also erzgebirgifiziert. Was kommt als nächstes: Klöppel-Spaces, Hutzn-Brunch, Prepper-Bar, Schwurbel-Trommel-Kurs? Was auch immer es ist, es deutet eher auf den Untergang der Stadt hin.
Andererseits: Direkt am Sonntag nach der Lulatschabschaltung waren 12.000 Menschen gegen Rechtsextremismus auf der Straße, am Mittwoch danach noch mal rund 2000. Die VHS eröffnet eine Jugendkunstschule. Und: Sogar OB Svenni kümmert sich plötzlich um die Bedürfnisse der fünf verbliebenen Jugendlichen in der Stadt. Das wiederum deutet eher auf Aufschwung hin.
Hoffen wir also, dass es der rauchlose Lulatsch gut mit uns meint.