Chemnitz ist eine Stadt mit wenigen Vor-, aber keinen Fernzügen und der Nahverkehr ist auch nur so mittelmäßig. Es gibt Anbindungen in die umliegenden Neubauerholungs-Gebiete, kindergerechte Küchwaldrundfahrten und bald auch die Bahnlinie N114, die direkt vom Hahnenbäck in den größten Hörsaal der Orangerie führt. Mehr braucht man als Chemnitzer im Prinzip auch gar nicht: Hier will niemand rein und scheinbar auch keiner wieder raus. Die Stadt ist so hermetisch abgeriegelt wie eine wasserstoffblonde Bomben-Diktatur in Ostasien oder Nordamerika. Zwar gibt es einen halbmodernisierten Hauptbahnhof mit Allianz-Arena-Beleuchtungstechnik, Ditsch und Burger King, eigentlich aber würde der Bahnhof Mitte für die ortsansässigen Nahverkehrsbedürfnisse vollkommen ausreichen. Manchmal fahren trotzdem Züge nach Dresden, Leipzig, Hof und Zwickau. Und nach Elsterwerda, das ist quasi gleich bei Berlin, ein lausiger Lausitz-Suburb in der gigantischen Metropolregion Brandenburg. Alles Orte jedenfalls, von denen aus man den Lulatsch angeblich noch sehen kann — viel weiter traut sich ja eh niemand von Chemnitz weg. Die Deutsche Bahn hingegen hat den schwierigen Absprung aus der Stadt geschafft, und sich komplett von den Chemnitzer Gleisen zurückgezogen. Diese werden jetzt von der MRB, der Mitteldeutschen Regionalbahn, mit chronisch kaputten oder einst ausrangierten Zügen bedient. Für alle Retroreisenden, die endlich mal wieder Zugfahren wollen als wär’s 1937 und die Welt noch in Ordnung, ist das sicherlich perfekt. Für alle, die sich eine fixe Fernbahnbeziehung wünschen ist es hingegen ein totaler Zugausfall – im Vergleich zur MRB bietet die Deutsche Bahn puren Serviceporno.
Am beliebtesten bei passionierten Bahnreisenden ist natürlich die Strecke Chemnitz-Leipzig — wenn sie denn gerade bedient wird. Hier gibt es alles, was das rostige Eisenbahnerherz begehrt: Nostalgisches Reichsbahnfeeling, Abteile wie damals bei Effi Briest, Fenster, falls man auf dem Weg rauswinken-, -springen, oder -kotzen will, regelmäßige Schienen-Ersatzverkehre, Zugausfälle und technische Störungen. Eine Fahrt dauert 59 Minuten und kostet im Normalpreis nur 18,80 Euro — gut angelegte/s Geld und Zeit, schließlich fährt man nicht irgendwohin, sondern ins angesagte Hypezig, da kann man schonmal in die Zugankunft investieren. Blöd nur, dass die Zugankunft so ungewiss ist wie der Kulturhauptstadt-Titel und das Leben an sich, und man nie weiß, ob man nur eine oder doch fünf Stunden braucht oder am Ende anschlusslos am Geisterbahnhof von Geithain landet. Kurzum: Eine Zugfahrt von Chemnitz nach Leipzig ist spannender als jeder Käsemaik-Überraschungseimer, nervenaufreibender als ein Base-Jump vom Lulatsch und aufregender als der alljährliche CFC-Abstiegskampf. Deshalb, dachten wir uns bei einem re:marx-Treffen im Sommer, bei dem wir uns allerhand Sachen dachten, von denen wir später nicht mehr wussten, was wir uns eigentlich dabei gedacht hatten (zum Beispiel dass es lustig ist „Wir essen Lebensmittel“ auf Stoffbeutel drucken zu lassen), sollten wir ein spannendes Gesellschaftskritik-Spiel draus machen. Damit, dachten wir uns später auch, können wir uns auf die Mikroprojekte bewerben, die die Stadt Chemnitz im Rahmen der Kulturhauptstadt-Kampagne ausgeschrieben hat. Thema soll schließlich die „Verbindung zwischen Kunst, Kultur und Lebensraum“ sein, also die Zugverbindung zwischen der Kulturstadt Leipzig und dem großzügigen Lebensraumspender Chemnitz.
Natürlich ist das, was jetzt kommt, erstmal nur ein grober Entwurf – die 2500 Euro Fördergelder würden wir dann in eine ansprechende Umsetzung, bessere Konzeption und natürlich in die Produktion investieren. Wir finden, das Spiel hat Potenzial – schließlich fördert eine schlechte Zugverbindung nach Leipzig den Verbleib in Chemnitz und verhindert den Wegzug. Wer also jetzt schon so aufgeregt ist wie vor dem Umsteigen in den ICE nach Berlin, kann sich folgende Spielutensilien schon mal ausdrucken und drauflos spielen.
Das Spiel: Ist für 3 bis 10 Spieler konzipiert. Ihr benötigt zusätzlich noch einen Würfel und Spielfiguren. Es geht darum, möglichst langsam oder gar nicht nach Leipzig zukommen. Wer am längsten braucht, gewinnt, wer als erstes am Leipziger Hauptbahnhof eintrifft, hat verloren. Ziel des Spieles ist es, in Chemnitz zu bleiben.
So geht’s: Am Anfang des Spiels zieht jeder Mitspieler eine Charakterkarte. Es gibt insgesamt zehn verschiedene Charaktere.
Dabei ist der Autofahrer der schwarze Abgaspeter, schließlich steht ihm eine menschenleere Autobahn zur Verfügung. Derjenige Spieler, der diese Karte zieht, hat sofort verloren und darf zugucken.
Der sportlich-ambitionierte Fixie-Fahrer bleibt im Spiel, nutzt jedoch eine andere Strecke (pink) und andere Ereigniskarten. Er misst sich dabei dennoch mit den Bahnreisenden. Auch für ihn gilt: Je länger er nach Leipzig braucht, desto besser.
Bei den Charakteren „Ingrid Mössinger“, „IfZ-Mechaniker“, „Fernbezieher“, „RB-Fan“, „WGT“, „Berliner“, „Sommerschlussverkäufer“ und „Kulturerlebende“ handelt es sich um Bahnreisende. Sie nutzen die türkisfarbene Spielstrecke. Alle haben unterschiedliche Beweggründe dafür, mit der Bahn nach Leipzig zufahren. Wer möchte, kann zu Spielbeginn basierend auf den Eigenschaften und Interessen der Charaktere eine Sachsenticket-Fahrgemeinschaft gründen und als Team zusammenspielen, zum Beispiel Ingrid Mössinger und die Kulturerlebende oder der Berliner mit dem dem IfZ-Mechaniker. Das verschafft euch allerdings keinerlei Vorteile gegenüber den anderen Spielern, ihr dürft euch lediglich ein Abteilen.
Die Mitspieler würfeln der Reihe nach im Bahnhofsuhrzeigersinn und rücken ihre Spielfigur entsprechend viele Felder vor. Anschließend ziehen sie zusätzlich eine Ereigniskarte, die sie entweder vorwärts bringt (schlecht) oder im Spiel zurückwirft (gut). Es gibt positive wie negative Ereigniskarten, die wild miteinander vermischt sind. Viele Karten kommen mehrfach vor, andere nur einmal.
Die Bahnkarten:
Auch der Fixie-Fahrer, der isoliert auf seiner Strecke strampelt, muss sich seinen Radweg freiwürfeln und anschließend Ereigniskarten ziehen.
Die Fahrradkarten:
Bei dem Spiel geht es weder um Geschick noch um Logik. Es geht um’s Glück im Zugunglück.
Kleiner Tipp für die Schnellzug-Karte: Narsdorf..
yo. das kaff ist so bedeutungslos, dass wir den namen jedes mal wieder vergessen. wir wissen auch, dass ssv eine komische abkürzung für „schienenersatzverkehr“ ist.