Chemnitz ist eine Stadt, die ständig miese Methwitze ertragen muss, obwohl sie eigentlich ein Alkoholproblem hat und ihr berühmter schlechter Schnapsatem wie eine Dunstglocke über der Region hängt. Hier wird so viel getrunken, gesoffen, geext und so oft verklärt darüber geredet, dass es hochgradig verwunderlich ist, dass noch kein Pfeffi im Abwasser nachgewiesen wurde. Es ist das ultimative Chemnitz-Narrativ: Der totale Ruin durch Rausch, der Abend, der ganz normal an der Zenti beginnt und komplett absurd im Christel’s Pub endet. Oder so. Denn die besten Geschichten erzählt immer noch das Nachtleben. Leider, könnte man auch sagen. Aber wir wollen hier nicht moralisch reflektieren, sondern verantwortungslos spiegeln. Und weil das Thema Absturz generell einfach so gut zu Chemnitz passt, gibt’s jetzt unsere neue Chemnitzer Typ-Beratung.
Der Wallermann-Wahnsinn: kann viele Enden haben, aber er hat nur einen Anfang: zwischen 13 und 17 Uhr im Rewe. Es gilt, Dosen-Jack Danielse und Energy-Mix-Getränke zu zocken, bevor man sich ins Abenteuer Innenstadt stürzt. Malle ist nur einmal im Jahr, Walle ist mehrmals in der Woche. Nachdem man sich im Rewe großzügig mit widerlichen Wässerchen eingedeckt hat, folgt Exzess-Stufe 1 des Wallermann-Wahnsinns: Vorglühen im Stadthallenpark. Am paradiesischen Naherholungsbrunnen kann man romantisch den Chemnitzuntergang beobachten, Passanten anpöbeln oder Runkel ärgern, indem man heimlich hinter den Hecken kifft. Exzessstufe 2: Suffselfies mit den Überwachungskameras, danach ausgiebig dönern, um eine verspätete Nahrungsgrundlage zu schaffen. Im Alanya 1 gibt’s Spielsucht mit scharfer Soße und der soziale Abstieg steht eisgekühlt im Schnapsregal. Man kann aber auch klassisch mit dem Segway rüber in den Drive-In fahren, die haben die fettigste aller Soßen und andere Sachen. Für Exzess-Stufe 3 hat man dann alle Optionen: Falls es vor 22 Uhr ist, kann man im Rewe nachladen. Man kann aber auch eine bürgerliche Bar aufsuchen, und dort einfach unangenehm auffallen. Man kann vorm Mäcces eine Prügelei an- und sich Ärger mit den Zenti-Sekus einfangen. Oder den harten Bexxxxit wählen, und sich vollständig aus der gesitteten Gesellschaft ausklingen: Ab zur Ladies Night ins BeXstage. Wie auch immer ihr euch entscheidet: Miko Runkel bleibt der König von Wallorca.
Wem steht’s? Allen, die sich Malle nicht leisten können, weil sie lieber auf eine Mittelmeerkreuzfahrt sparen.
Was man trinkt: Glasflaschen sind verboten, deshalb: alles was es in Dosen gibt, Sterni aus dem Eimer, Energy-Getränke, Wodka-O im Tetrapack gemischt, frisch abgefülltes Brunnenwasser, falls einem schlecht wird.
Das schöne Schausaufen:
Zum schönen Schausaufen gehört zumindest der Schein eines gewissen Kunstverständnisses, denn es findet ausschließlich während Ausstellungseröffnungen oder Premieren statt. Bei trockenen Vorträgen über die Graue Phase eines Glauchaer Glasmalers hilft oft nur noch trockenerer Rotwein, und den gibt’s bei vielen Vernissages als Freigetränk. Doch Obacht, die Voraussetzungen können je nach Einrichtung stark variieren: Während in der Galerie Borssenanger der Wein aus Papp-Kanistern fließt, wie man sie sonst nur auf südfranzösischen Weinguten in den deutschen Passat lädt, geizen seriöse Häuser wie Gunzenhauser oder smac mit Frinks und setzen auf Sekt-Selbstzahler. Das schöne Schausaufen funktioniert so: Vorm Exponat kurz fachmenschlich nicken, dann unverblümt ans Buffet stürzen, bei großem Andrang eventuell mit einer provokanten Bemerkung über den Zusammenhang von Kunst und Können ablenken, nachfüllen nicht vergessen. Zum Absturz wird es allerdings erst, wenn man aus dem Museum oder Theater fliegt, weil man mit Edding auf den Neo Rauch gekritzelt oder den Schauspielern den Sekt weg getrunken hat.
Wem steht’s? Jedem, der sich zum Chemnitzer Hochkulturproletariat zählt und den bürgerlich Beherrschten, die nur ein bis zwei mal im Jahr die Kontrolle verlieren.
Was man trinkt: Wein, weiß oder rot, Hauptsache so trocken wie die Farbe auf dem alten Öl-Gemälde, Sekt und Orangensaft.
Das Kaßberg-Midlife-Besäufnis: beginnt harmlos mit fünf frisch gezapften „PU“ und einem kuscheligen Konzert im aaltra, mit Wurstsalat und Weinschorle in der Weinstube oder bei Burger und Bier im Monk, und wird mit jedem Schluck trauriger. Es ist der verzweifelte Versuch, dem spießbürgerlichen Kaßbergleben zu entfliehen, den Biobiedermeier mit Bier wegzuspülen, die gute alte Zeit noch mal zu schmecken: Als man noch mehr Schnäpse vertragen und nächtelang durchsaufen konnte. Als der Kaßberg noch als cool galt. Als man noch daran geglaubt hat, dass man es raus schafft aus der Stadt. Als Exzess noch nicht der Selbstoptimierung zum Opfer gefallen und eine anerkannte, gesellschaftliche Leistung war. Als die Kinder noch süß und die Haare noch nicht grau waren. Als Chemnitz noch Karl-Marx-Stadt hieß. Irgendwann hängt man sentimental seufzend über dem halbleeren Glas an der aaltra-Bar und aaltra-Jörg legt Radiohead auf, natürlich „How to disappear completley“, und man weiß, sie ist für immer verschwunden, die gute alte Zeit. Dann bestellt man noch ein letztes Bier und geht gegen zwei mittelmäßig betrunken nach Hause.
Wem steht’s? Allen Ü35, die akzeptiert haben, dass sie wohl endgültig in der Stadt hängen geblieben sind. Allen, die auf dem letzten Kosmonaut erst den geheimen Headliner und dann die Welt nicht mehr verstanden haben.
Was man trinkt: Eher keinen Schnaps, sondern ein bodenständiges Bier oder bedeutungsschweren Rotwein.
Das fortgeschrittene Kaßberg-Midlife-Besäufnis: Gegen zwei geht man doch noch nicht mittelmäßig betrunken nach Hause, sondern sucht eine Kneipe, die noch geöffnet hat. Was auf dem Kaßberg unmöglich ist, und nur eines heißen kann: Kutsche. Dort verpasst man der verloren geglaubten Zeit (klar hat man Proust gelesen, man wohnt schließlich nicht umsonst auf dem Kaßberg) dann die Retourkutsche, haha, bestellt drei doppelte Kurze und ein Altherrengedeck und versucht, aus stickigen Rauchschwaden die Zukunft zu lesen. Von wegen früher war alles besser, heute ist auch geil – obwohl man sich danach vermutlich zwei Wochen lang davon erholen müssen wird.
Wem steht’s? Niemanden, aber im schummrigen Kneipenlicht sieht man glücklicherweise die vielen Gebrauchsspuren nicht.
Was man trinkt: Egal, Hauptsache Schnaps. Dazu pappige Salzstangen, lauwarme Erinnerungen und gemeinsames Schweigen.
Der subversive Sonnenberg-Suff:
Beginnt im Lokomov mit einem Fatigauer und geht fließend in einen doppelten Wodka im Tesla über. Danach pendelt man zwei Stunden lang zwischen Tesla und Lokomov, manche legen die Strecke auch mit dem Auto zurück. Im Tesla steht man an der Bar, im Lokomov erholt man sich davon. Meistens steht man aber einfach nur stundenlang davor und raucht, vor allem passiv. Irgendwann ist es im Lokomov zu leer und im Tesla zu stickig, und man versackt anderthalb bis fünf Stunden im Zietentreff, das ist wie ein schwarzes Loch, in das zwar viel reinfällt, aber nichts wieder rauskommt, außer Kiez-Mythen und Alkoholfahnen. Falls man es doch schafft, ist im Tesla schon die Luft raus und man ruft mit letzter Not ein Taxi, auf das man nur zwei Stunden lang wartet. Wenn es dann immer noch nicht gekommen ist, steigt man in den Ringbus, schläft spätestens an der Reinhardtstraße ein und wird dann am Campus vom wütenden Busfahrer rausgeschmissen. Wenn man es dann irgendwann nach Hause schafft, ist das Wochenende auch schon wieder erfolgreich vorbei.
Wem steht’s? Leuten, die man sonst an den Künstlertischen der Freien Szene trifft, und die aufgrund von akutem Fördergeldermangel auch beim Ausgehen immer improvisieren müssen.
Was man trinkt: Wehmut auf Wodka-Basis und Credibility mit Gin, dazu gibt’s Gewürzgurken und Sole-Ei.
Die Innenstadt-Großveranstaltung:
Absturz muss nicht immer der Filmriss im Fuchsbau sein, Absturz kann auch die Lebensmittelvergiftung nach der Lángos-Überdosis oder einem gepanschten Punsch bedeuten. Oder der Kreislauf-Zusammenbruch, nachdem man in einer hölzernen Mittelalter-Badewanne zu heiß gebadet und zu viel gebechert hat. Oder wenn man mit blinkenden Weihnachtsmannmützen in der Après-Ski-Hütte sitzt. Absturz ist, wenn man bei der Kaiser Mania auf dem Hartmannplatz zu “Schach Matt!” schunkelt oder samstags in der Südkurve brüllend auf den Schiri schimpft. Dafür gibt es Veranstaltungen wie den Weihnachtsmarkt und das Weinfest, das Stadtfest (#neverforget) und CFC-Spiele (#RIP), kommerzielle Großgruppenbesäufnisse, die der Bevölkerung als “Tradition”, “Fußball” oder “endlich mal was los” verkauft werden. Die man entweder “ironisch” oder im arbeitskollegialen Gruppenzwang besucht, aber nie wirklich freiwillig. Bei denen sich das ganze Dilemma der menschlichen Gruppendynamik zeigt, kreischt, gegrölt oder geprügelt wird.
Wem steht’s? Partytouristen aus der Chemnitzer Metropol-Region, Weihnachtsmarkt-Groundhoppern aus Castrop-Rauxel und Subkulturellen, äh Kulturakteuren, die immer was von “raus aus der Blase” erzählen, die man dann doch wieder nur beim >schönen Schausaufen oder vorm Lokomov trifft.
Was man trinkt: Braustolz, Einsiedler, Marxstädter, Mundwasser, Fassbrause, egal – Hauptsache, es ist endlich mal was los in der Stadt.
Die WG-Party im Studentenwohnheim:
Das traurigste aller Chemnitzer Party-Formate: Irgendeine WG-Party im Wohnheim. Mittwochabend, Wicküler in der Badewanne, Lambrusco aus Mensa-Tassen (warum nicht mal aus Mens-Tassen?), Pfeffi aus der Flasche, Neunzigerjahre-Hits, Gut&Günstig-Chips. Früher hat man das Vorglühen genannt, schmoren in der Studenten-Hölle, auf muffigen Sofas, zwischen Ikea KALLAX-Regalen und lauwarmen Unterhaltungen. In der Hoffnung, endlich jemand interessanten zu treffen, und dann sitzt da doch wieder nur der langweilige Lutz aus Lichtentanne, dessen Lieblingsclub das FIT/ONE am Wall ist und der jedes Wochenende lieber zu den Kumpels ins Dorf fährt. Nach zwei Stunden landet man dann beim Bier-Diplom im Windkanal und kotzt das Treppenhausvoll oder steht gelangweilt auf einer peinlichen PEB-Party rum. Wer Glück hat, singt zu späterer Stunde inbrünstig den “Earth Song” beim Karaoke im FlowerPower äääh Fuchsbau.
Wem steht’s? Allen Geistes- und Humanwissenschaftlern, Informatikern, Maschinenbauern, Naturwissenschaftlern (d/w/m) und Wiwis im ersten bis fünften Semester.
Was man trinkt: Den Lambrusco, den die Pizzabotin als Dankeschön obendrauf gepackt hat, Pfeffi und Kirsch, wannenkühles Wicküler, Hugo für die „Mädels“.
Der Absturz interruptus Jeder kennt ihn: Der Absturz, der einfach nicht passiert. Man würde gern, kann aber nicht. Vielleicht ist man schwanger, müde, krank, vielleicht hat vorher zu fettig gegessen, bestimmt ist die Party schlecht. Vielleicht ist man auch einfach nur alt und langweilig geworden. Dabei will man nur mal wieder “richtig feiern”, quält sich Samstagabend gegen elf noch mal raus ins Echo oder ins Atom, ist dort der/die Erste und steht dann erstmal peinlich berührt mitten im Club. Wenn der Club nach zwei Stunden immer noch leer oder die Musik immer noch schlecht ist, und man nur zaghaft mit wippt und vorsichtig am Bier nippt, läuft man enttäuscht und Joy Division hörend im Chemnitzer Nieselregen (oder sind es die eigenen Tränen?) nach Hause und beschließt, generell nie wieder unter Menschen zu gehen.
Wem steht’s? Kann eigentlich jeder tragen, aber die Mascara sollte wasserfest sein.
Was man trinkt: Wenig bis nichts, vielleicht ein Tannzäpfle, einen Gin Tonic, eine Club Mate für den „Kick“.
Das Zehn/Kurze-Interview mit re:marx
Das alkoholverherrlichende Interviewformat ist die Königsdisziplin der Chemnitz-Abstürze und durchweg fies, ja fast schon zynisch: Zehn+ Schnäpse trinken, die unangenehmen Fragen der Möchtegern-Lanzs von re:marx beantworten, und dabei auch noch für die Kamera gut aussehen ist nur was für die ganz Harten, also für Vollblutchemnitzer. Das Interview findet meistens an einem durchschnittlichen Dienstag statt und endet entweder mit einem Veilchen, Gloldspray kotzend im Tesla-Backstage, mit einer Orgie in der Zukunft oder damit, dass man aus Bernsdorf abgeholt werden muss. Klingt verlockend? Dann DM an uns.
Wem steht’s? Allen, die alle hier gelisteten Chemnitz-Abstürze schon mindestens einmal mit Würde gemeistert haben.
Was man trinkt: Zweifelhaften Fame aus Shot-Gläsern.