Chemnitz, Bernsdorf, Samstag Nacht, 28.02.2015, 02.03 Uhr: Völlig aufgekratzt aufgrund des vergangenen Abends liegt der Merchboy in seiner 1,40 Meter Furzmolle und versucht vergeblich, das voller Impressionen vollgesaugte Köpfchen zum Entspannen anzuregen. Doch es will einfach nicht klappen – zu präsent schwirrt L. in den tiefen Bahnen der Gehirnrinde, zu schwer wiegt der Selbstzweifel, ob das komplette Verkaufstalent zum Einsatz kam. Einen WWF Royal Rumble von 1996 später gelingt letztendlich der lang ersehnte Fall in den Tiefschlaf – und das erstaunlicherweise exklusive traumatischer Verarbeitung jeglicher Erlebnisse.
10.30 Uhr: Während die wahren Rockstars am nächsten Morgen in einem nach Puma riechenden Nightliner aufwachen, ohne überhaupt ansatzweise eine Ahnung zu haben, in welcher Stadt sie dieses Mal sabbernde Groupies begatten dürfen, erwacht der Merchboy einsam und #AlleinAllein in seinen eigenen vier Altbauwänden. Eine Low-Carb-Mahlzeit und etliche YouTube-Videos später wächst behutsam die Vorfreude auf Tag 2 der umfassenden 2-Tages-Tour. Dieses Mal sollte alles anders werden: Keine bekannten Gesichter und ein bisher völlig unbekannter Kurort standen auf dem Programm – inklusive der Möglichkeit, gänzlich neue Verkaufsstrategien zu testen, ohne dabei seinen kompletten Ruf zu ruinieren.
16.50 Uhr: Die Abholung erfolgt durch den Bassisten von …Thanks And Get Ready! höchstpersönlich. Hier wird Service noch in riesigen Lettern geschrieben. Die Begrüßung gestaltet sich ähnlich unemotional wie bereits am Vortag: Im Gegensatz zum Bassisten empfindet es der Merchboy als dem Rock’n’Roll-Lifestyle zuträglich, die erste Dosengranate bereits im Laufe der Anfahrt gnadenlos zu vernichten, und erhält dafür lediglich ungläubiges Kopfschütteln. Wenigstens beruhigt die Gewissheit, dass Lemmy stolz auf ihn wäre.
17.25 Uhr: Die Reise soll vom Proberaum aus starten, der sich auf dem verwesenden Brühl befindet, wo auch diese eine sehr populäre Chemnitzer Kapelle ihre schmissigen Lieder verfasst. Die Motivation lässt allgemein bis auf eine Ausnahme viele Wünsche offen. Lediglich die „neue Platte“ (aka der Schlagzeuger) versprüht wie immer pure Lebensfreude. Die Fahrt soll zu viert in einem VW Bus T-undirgendeinezahl stattfinden, der aussieht, als wäre er dem A-Team höchstpersönlich entwendet worden. Stolze 52 PS unter der Motorhaube, die sich später noch bemerkbar machen werden sollen. Ein von der Autodecke baumelnder Baseballschläger sorgt zunächst für Irritation, verteilt im unmittelbar darauffolgenden Augenblick jedoch Liebe und Geborgenheit. Vielleicht aber auch einfach nur letzteres. Oder gar nichts von beiden.
17.30 Uhr – 19.30 Uhr: Die Fahrt zeigt mal wieder, wie schön das Erzgebirge sein kann: Auf einmal taucht aus dem nichts Schnee ohne Ende auf. Klimazonenwechsel at its best! Der ausschweifende Blick würde Rainer Maria Rilke das Wasser aus dem Munde triefen lassen. Lediglich der aus der Zerstörung der ersten Granate resultierende Druck auf ein bestimmtes inneres Organ lenkt etwas vom Genuss ab. Das ist aber auch immer so eine Sache mit dem Pinkeldrang während der Fahrt als Beifahrer: Der Scham, den Wagenlenker während der Ausübung seiner zweifelsfrei tadellosen Tätigkeit zu unterbrechen, bringt einen dazu, die eigentlichen körperlichen Grenzen weit hinter sich zu lassen. Irgendwann kurz vor der Explosion folgt letztendlich doch die Frage nach einer kurzen PP. Bei der gemeinschaftlichen Erleichterung fällt der Blick auf die untergehende Sonne. #nohomo
Kurz vor dem Ziel, dem Kurort von und zu Seiffen, zeigt sich das Gebirgsmassiv von seiner gemeinen Seite: Der Anstieg wechselt von 0 zu gefühlten 135 Prozent, was sowohl die Kupplung, als auch die Fahrkünste des Schlagzeugers an die Grenzen der Leistungsfähigkeit bringt. Sofort macht sich ein nasaler Antigenuss breit – wie auch die Panik, elendig am sich auf der linken Seite befindlichen Abhang zu verrecken. Nach einem wiederholten Versuch, per Rückwärtsgang genug Anlauf für die Besteigung des augenscheinlichen Mount Everest zu erhaschen, gelingt glücklicherweise doch noch der Sprung auf die Straße, die zum gewünschten Veranstaltungsort führen soll.
19.30 Uhr: Ankunft. K.Ä.L.T.E. Die rund zweistündige Fahrt führte nicht einfach nur in einen kleinen Ort neben der sächsischen Metropole, sondern anscheinend ins russische Nowosibirsk. Nach der üblichen Händeschüttelbegrüßung mit den ortsansässigen Jugendclubmitarbeitern wird der Rückzugsort für die Gäste präsentiert. Der erste nahezu eigene Backstage! Es ist immer wieder schön, auch im hohen Alter von 28 Lenzen in irgendeiner Form das erste Mal zu erleben. Während der Kindheit und Jugend ist dies ja Bestandteil des Alltags: Die ersten Pickel, die erste Rasur, die erste Menstruation, die erste Autofahrt, das erste Petting (Wort des Jahres 2015). Nach und nach nimmt die Anzahl der ersten Male immer mehr ab, was zu einer selbstverständlichen Akzeptanz des Alltags führt und den Zauber des Lebens etwas egalisiert. Infolgedessen beschert der besagte Backstage für einen kurzen Moment jugendliche Lebensfreude. Die Vorstellung, später am Abend die sich dort befindliche Flimmerkiste inklusive Playstation 3 und allen erdenklichen SingStar-Varianten (ja – auch „R&B“) aus dem zweiten Stock zu bugsieren, sorgt für zusätzliches Leuchten in den Augen.
Ein endgültiges Pulsieren unterhalb der Lendengegend findet statt, als der Blick auf das Getränkeangebot des insgesamt jugendklubig wirkenden Jugendklub führt: Nicht nur die discounterähnlichen Preise, sondern auch die Tatsache, dass sich das Lieblingsgesöff des Merchboys im Angebot befindet, lassen diesen Abend bereits vor dem ersten Gitarrenriff als gelungen bezeichnen.
Der Veranstaltungsraum selbst ist mit „klein“ noch als weitaus untertrieben umschrieben. Vielleicht hilft bei der mentalen Vorstellung die Information weiter, dass der Schlagzeuger aus Platzgründen auf einem Billardtisch spielen muss. Auf! Einem! Billardtisch! So folgt ebenso schnell die Erkenntnis, dass auch der magische Merchandisestand des Merchboys nicht so üppig ausfallen kann, wie dies am Vortag noch der Fall war, sondern lediglich ein minimaler Platz an der Bar eingeräumt wird.
21.22 Uhr: Auffallend viele socalled Teenager lassen sich innerhalb des Publikums ausfindig machen – zum Teil eindeutig der Randgruppe „Dorfpunks“ zuzuordnen, was ordentlich präparierte Iros und eine hohe Anzahl an Nietengürtel einschließt.
21.27 Uhr: Zurück im Backstage artet während der Eliminierung des Caterings in Form einer deftigen Pizzabestellung eine Babydiskussion unter zwei Punkrockdaddies aus. Der Bassist von …Thanks And Get Ready! und der Sänger von Murder She Said, dem Quasi-Headliner an dem Abend, tauschen ihre Erfahrungen aus, die sie mit ihren relativ frisch geschlüpften Nachkommen tagtäglich machen. Also entweder lügen diese ganzen Rockstarbiografien von vorne bis hinten in Bezug auf das, was sie alles so im Backstage erlebt haben, oder der Merchboy ist Teil einer neuen Generation an aufstrebenden Stars, die das Leben hinter den Kulissen von Grund auf revolutionieren.
22.02 Uhr: …TAGR! beginnen wiederholt relativ pünktlich. Der obligatorische Halbkreis innerhalb des Zuschauerbereichs zeigt auch auf dem Dorf seine Verbreitung – verschwindet jedoch relativ schnell wieder durch gekonnte Ansagen der Kapelle. Diese spielen auch ihren zweiten Gig zu dritt, als wenn sie nie weniger gewesen wären. Der Schlagzeuger lebt aufgrund seiner Position auf dem besagten Billardtisch stets mit der Angst, bei seiner ausufernden Spielweise seine Platte an der Decke blutig zu reiben, was ihm, Jott sei’s jedankt, glücklicherweise erspart bleibt.
22.31 Uhr: Der Applaus erweist sich nach den Songs als eher mangelhaft. Sofort machen sich beim Merchboy philosophische Gedanken über das Dorfleben breit: Natürlich lässt sich ein gerade-mal-oder-wenn-überhaupt-Altersdurchschnitt-von-18 erkennen, denn wer alt genug ist, sieht zu, dass er schnellstmöglich in die nächste Metropole weiterzieht. Zu repetitiv die Veranstaltungen, Menschen und Orte. Alles und jeder wurde irgendwann einmal durchgenudelt, weswegen viele sich nach einer Flucht sehnen. Doch es gibt auch Ausnahmen. Eine davon bekommt um
22.45 Uhr: sein Geburtstagsständchen und nennt sich „Schnitte“. Menschen, die so einen Spitznamen innehaben, haben nicht extra eine Anfahrt von einer nahe gelegenen größeren Stadt auf sich genommen, um die Bands zu sehen, sondern leben seit ihrer Geburt in dem jeweiligen Ort und bilden die Speerspitze der ansässigen Population, sozusagen als Ikonen und Kultfiguren. Sie werden verehrt, ihnen wird gehuldigt, und genau aus diesem Grund sieht es das vermeintliche Fußvolk auch als Pflicht an, dass die Band dem Seiffener Urgestein an seinem Ehrentag ein Ständchen trällert – selbst wenn dies erst nach mehrmaliger Aufforderung geschieht. …TAGR! wiederum als volksnahe Sternchen zum Anfassen geben irgendwann nach und ehren Schnitte, der sich sichtlich innerlich darüber freut.
22.51 Uhr: Nach dieser Huldigungsunterbrechung folgt der Überraschungshit des Abends. „Claim My Right“ erweist sich als textsicheres Pflaster für die Seiffener Jugend, was den Merchboy überrascht. Nahezu jeder Zweite gröhlt zumindest den Refrain mit: „I claim my right | to give a fuck!“ Auch hier weicht die anfängliche Überraschung der Erkenntnis, dass das genau so sein muss.
23.03 Uhr: Die ungeliebte Partytaubheit des Merchboys macht sich wieder deutlichst bemerkbar. Selbst nach etwa 12-maliger Wiederholung bleibt unverständlich, was der Drummer von Murder She Said haben will: Ärger? Erker? … Ach – Radler! Nach einer schriftlichen Verständigung wird dieses Missverständnis glücklicherweise aus dem Weg geräumt. Sofort fällt dem Merchboy wieder ein, dass der zuständige Arzt bei der Musterung vor 11 Jahren meinte, die Ohren seien ganz schön dicht, was ausnahmsweise mal nicht metaphorisch gemeint ist. Der Körper scheint diese Fehlfunktion nicht selbst beseitigen zu können. So ein Unglück aber auch!
23.08 Uhr: Der Merchandisebestand vom Vortag erweist sich als sehr hartnäckig. Wenigstens zeigen sich die Seiffener auch bei anderen älteren Songs von ihrer textsicheren Seite.
23.10 Uhr: Kurz vor Schluss folgt der abermals lang ersehnte Dank an den Merchboy, der im Gegensatz zum Vorabend erheblich geglückter platziert wird. Unmittelbar im Anschluss folgen Witze über den Bassisten, dessen Instrument in der Rangliste der Angesehensten bekanntlich sehr weit unten angesiedelt ist und aus diesem Grund auch zu Recht den meisten Hohn einstecken muss. Erst jetzt wechselt der Merchboy die ersten Worte mit dem Barpersonal, wenn man mal von den freundlichen Nachfragen bezüglich des Lieblingsgetränks absieht. Aber auch hier macht sich schnell Ernüchterung über die unterschiedlichen Längen der Wellen breit.
© Punkrockdaddy (Murder She Said)
23.33 Uhr: Angstschweiß taucht beim Merchboy auf, bevor der Kopf überhaupt verarbeiten kann, was in dem Moment geschieht: An der Bar erscheint aus dem Nichts ein Wesen, das für 0,1 Sekunden im Dunkeln an L. erinnert. Eine Halluzination, ein Traum, ein verspätetes Weihnachtsgeschenk? So schnell wie das Wasser aus dem Körper gepumpt wurde, verschwindet es auch wieder, denn auf den zweiten Blick offenbart sich: Die Kleidung sitzt alles andere als perfekt, das Lächeln erinnert doch eher an Gela Merkel, und der Pony wirkt nur mit 4,7 auf dem Tacho gerade. Glück und Pech befinden sich manchmal beängstigend nah beieinander.
23.50 Uhr – ~01.00 Uhr: Murder She Said beginnen, es wandern tatsächlich doch noch Anziehsachen über den Ladentisch, die Zwischenpausen werden genutzt, um mentale Bewunderung dem Bassisten der Band auszusprechen. Dieser unterzog sich am Mittag des gleichselben Tages einer Schulter-Operation, die er sich, wie sollte es anders sein, beim Männersport numero uno zugezogen hat. Testosteronlevel over 9000! Der Rotzrock der Band (im beschreibenden, nicht wertenden Sinne) sorgt für Heiterkeit beim Merchboy und gespaltene Gemüter innerhalb des Publikums.
~01.30 Uhr – ~02.30 Uhr: Was wurden vor Beginn der Tour nicht alles für legendäre Geschichten übermittelt, die sich während vorherigen Gigs in Seiffen zugetragen haben sollen. Die Rede war von stundenlangen Aftershowparties, von ausufernden Tänzen der sonst so bewegungsarmen Bandmitglieder, und von unvergesslichen in-den-Armen-liegenden Momenten, in denen man sich ständig „du bist mein einziger und bester Freund“ in die Ohren sabberte. Der Merchboy konnte so nur eine immens große Erwartungshaltung bezüglich des weiteren Abendverlaufs aufbauen. Wie der geneigte Stammleser jedoch sicherlich bereits an dieser Stelle vollkommen korrekt mutmaßt, folgt hier die entscheidende Wende, denn von all dem passiert tatsächlich nullkommanichts. Der Abbau und das Einladen laufen in Rekordgeschwindigkeit und so schnell ab, dass der Merchboy noch nicht einmal das russische Volkslied „Katjuscha“ voller Inbrunst in Ruhe zu Ende trällern kann und die Rückfahrt in die schneefreie Klimazone beginnt. Mit dem Entsetzen darüber folgt unmittelbar die Gewissheit, dass nun die Aufarbeitung aller gesammelten Impressionen der ersten Tour des Merchboys zwangsläufig und rasanter als erwartet vollzogen werden muss.
Chemnitz, Bernsdorf, Sonntag, 01.03.2015: Die Nacht ging schneller vorüber als jene zuvor. Bei einer Portion Himbeervanillejoghurtquark resümiert der Merchboy seine Erlebnisse der letzten beiden Tage: Auch wenn nicht alle Erwartungen am Rock’n’Roll-Lifestyle erfüllt werden konnten, so blickt er aufgrund der schönen Erinnerungen positiv zurück und würde den Job jederzeit wieder übernehmen. Born to be a Merchboy sozusagen. Nach und nach machen sich im Laufe des Tages schließlich Gedanken an und über verlorene Schlüssel, geglückte und vermasselte Smalltalkgespräche, heimlich verschenkte Poster, Backstageerlebnisse und Dosenbier breit, die nur schwer von der Seite weichen. Es ist schließlich Sonntag! Doch darüber soll an anderer Stelle philosophiert werden.