Die Post der Moderne: Was im Juli und August in Chemnitz geschah
Die Post der Moderne: Was im Juli und August in Chemnitz geschah

Die Post der Moderne: Was im Juli und August in Chemnitz geschah

Wir machen kurz Sommerpause, haben wir gedacht.
Passiert doch eh nicht viel in Chemnitz, haben wir gedacht.
Können wir uns mal bisschen ausruhen, haben wir gedacht.

Wir haben unsere Rechnung ohne den CFC gemacht. 

Was ein total peinlicher Chemnitz-Anfängerfehler war, denn wenn man sich in der Stadt auf eine Sache verlassen kann, dann darauf, dass der CFC liefert — und der CFC liefert jetzt auch international. Also Schlagzeilen natürlich, denn was das angeht, spielen unsere Himmelblauen neuerdings in der journalistischen Champions League statt in der kreisklassigen Amtsblattliga.
Beim CFC ist jeder irgendwie sauer auf jeden und auf den Insolvenzverwalter sowieso: Die alles entscheidende Mitgliederversammlung scheitert an Befindlichkeiten, der Insolvenzverwalter, vor dem selbst Peter Zwegat Angst hätte, kündigt erst allen Angestellten und will dann auch noch die Vereinsvorstände inhaftieren lassen. Der CFC hat die Insolvenz einmal durchgespielt, und jetzt ein ganz neues Meta-Level des Pleiteseins erreicht: Die Insolvenz in der Insolvenz. Das wiederum ist  derart mindblowing, dass wirklich niemand mehr durchsieht, am wenigsten der Verein, weshalb er sich vorsichtshalber einfach mal selbst in die Handlungsunfähigkeit gewählt hat. Kann man sich alles gar nicht ausdenken? Kann man doch! Es wäre nicht verwunderlich, wenn die Geschichte demnächst von RTL zu einer Katastrophen-Trash-Mockumentary verfilmt werden würde, so eine Art „Hai-Alarm auf Mallorca“, nur halt mit Chemnitz als Malle des Ostens und dem Insolvenzverwalter als fiesen Finanz-Hai.
Der CFC ist derart am Arsch, dass bestimmt bald Red Bull retterlich eingeritten kommt – und das ist alles, nur traurig ist es nicht mehr. Schließlich ist der Verein nicht nur finanziell und sportlich, er ist auch menschlich insolvent. Das über Jahre hinweg kultivierte Nazi-Problem schallt nach wie vor ziemlich laut aus der Südkurve in die Welt. Erst wurde Kapitän Frahn rausgeworfen, weil er beim Auswärtsspiel mit einschlägigen Hools rumkumpelte, dann gab es einen Trauermarsch und pathetische Solidaritätsbekundungen seitens der Fans, weil erfahrungsgemäß keiner besser „trauert“ als manch CFC-Anhänger, dann wurden beim Auswärtsspiel in München die eigenen Spieler und Vorstände rassistisch und antisemitisch beschimpft, weil es leider immer noch widerlicher geht. Dann war wiederum Frahn sauer, weil sein sauberes Image mit „rassistischen Beleidigungen in Verbindung gebracht wurde“, als wäre das das Schlimmste daran. Doch wo es andernorts schon vor Jahren Stadionverbote gehagelt hätte, werden Übergriffe beim CFC von Vereinssprechern mit „alles halb so wild, die hatten nur ein Bier zu viel“ abgewunken. Achso, dann ist ja gut. Es waren vermutlich auch gar keine Nazis, Faschos, HooNaRas, die da letztes Jahr vorm Nischel abgehitlert, Menschen gejagt oder Restaurants angegriffen haben, sondern einfach nur angetüdelte Biertrinker, die ein bisschen zu leidenschaftlich für einen Braustolz-Verbleib und gegen das neue Marx-Städter demonstriert haben, ganz normale Bierbürger eben. Vielleicht hat Chemnitz ja auch gar kein Nazi-, sondern einfach nur ein Alkoholproblem — man ist ja schließlich auch nicht umsonst die Stadt mit dem deutschlandweit höchsten Bierkonsum, 

Themawechsel, also fast: Chemnitz braucht endlich ein eigenes MTV-Cribs: Populäre Chemnitzer, die ihre protzigen Sofalandschaften präsentieren, Busfahrer, die an der Zenti stehen und ihren funkelnden Fuhrpark vorstellen, Kaßberg-Intellektuelle, die ihre Arme großspurig vor der bonzigen Bücherwand ausbreiten und natürlich ganz viele gänsehautverdächtige „This is where the magic happens“-Momente — das Schlafzimmer ist schließlich der Lebensmittelpunkt der hartschlafenden Chemnitzer Bevölkerung. Das hat sich wohl auch die dpa gedacht, und eine heimelige Homestory über eine echte Chemnitzer Koryphäe gemacht. Gemeint ist natürlich Beate Zschäpe, über deren Leben in der JVA die dpa schreibt wie sonst nur die SUPERIllu in ihren einfühlsamen Portraits über beliebte Ostdeutsche: Von Fans für Fans. 

„Die Zimmer sind karg eingerichtet und zweckmäßig möbliert: Bett, Stuhl, Schreibtisch, Nachtschrank, Kleiderschrank, Wandregal, Spiegel, Pinnwand und Wäschebehälter. […] Der Tagesablauf für die Untersuchungshäftlinge ist strikt geregelt. Nach dem Wecken werden um 7.45 Uhr die Zellen zu ersten Mal aufgeschlossen, bis 8.15 Uhr gibt es Frühstück – samt Postabgabe und Medikamentenausgabe. Anschließend können die Frauen für eine Stunde an die frische Luft.“

Ach das klingt ja nett, schön, dass es unserer Beate gut geht, das wird die vielen Fangirls- und Boys da draußen bestimmt freuen. Ist sie denn gar sehr einsam? 

„Die sogenannte heimatnahe Unterbringung in einer JVA soll vor allem den sozialen Kontakten durch leichteren Besuch von Familie, Freunden und Bekannten dienen, bestätigte Gefängnisleiterin König-Bender.“

Na dann sind wir ja beruhigt. 

Themawechsel, jetzt aber fast wirklich: Das klingt schon wieder alles, als gäbe es in und über Chemnitz nur Nazi-Geschichten zu erzählen, aber dem ist keineswegs so. Auch wenn am 25. August ein mickriges Häufchen von „Pro Chemnitz und Freunde“ viel zu medienwirksam durch die Stadt marschiert ist. Auch wenn wir ein ganzes Wochenende damit verbracht haben, „Ein Jahr danach“-Beiträge über die Stadt zu bingen, von denen wir hier den bento-Beitrag besonders hervorheben möchten, weil er Chemnitz-Klischees drischt als wäre er versehentlich in eine brutale Phrasenschlägerei geraten. Auch wenn die MDR-Doku und die ganze Debatte drumherum an der Grenze des Erträglichen gekratzt haben. Auch wenn sich der neue Stadtrat konstituiert hat und wir jetzt alle ein bisschen mehr aus- und dagegenhalten müssen. Doch eigentlich war der Chemnitzer Alltag im Sommer eine einzige Party, ein ewiges „Sitzen und Saufen“, ein graubunter Dauer-Rausch. Die Stadt, völlig berauscht an sich selbst, ein bisschen so, als hätte sie die komplizierte Midlifecrisis endlich überwunden und zu sich selbst gefunden.
Kosmos und Kosmonaut, Hutfest und Fête de la musique, Parksommer und Filmnächte, Begehungen und Bürgerfest, Bingo und BringDaTruckaz, KaiserMania und Am Kopp, Weindorf und Brauereifest, Musikmeile und Fahrradkino, Kartoffelfest und die Wahl zur Wurstkönigin — da war nicht nur für jeden was dabei, da war auch jeder dabei, denn die Stadt war. Immer! Voll! Sogar mittwochs.
Und trotzdem gibt es immer noch Menschen, die wimmern und jammern und meckern und motzen über den katastrophalen Zustand der Stadt, über die schlimmen Straßen, die man nachts angeblich nicht mehr ohne Chico und Schlagstock betreten kann, über das ganze Nichts, das hier ständig los ist, über das Stadtfest, das es nicht mehr gibt, #DankeCWE! Vermutlich leidet die Stadt an einer Art kollektiv-kognitiven Dissoziationsstörung, bei der man „hier geht’s nur noch bergab“ denkt, obwohl man gerade den Kaßberg erklimmt — und das ganz ohne Sauerstoffmaske. Bei der man inmitten von Menschenmassen auf dem Weindorf sitzt und „hier is gar nüscht los“ in ein Reportermikro brüllt, als wäre man gerade ganz allein in der Stadt, losgelöst von allem, was um einen herum passiert. Und irgendwie verstehen wir das alles nicht mehr, liebe Chemnitz-Fressen, denn im Großen und Ganzen (mit Abstrichen und Ausnahmen) ist das Leben in dieser Stadt doch ziemlich gut. Deshalb werden wir jetzt auch mal passiv-aggressiv und fragen frustriert: Was genau ist eigentlich euer scheiß Problem?

Was sonst noch geschah:
Die CVAG (ist euch eigentlich schon mal aufgefallen, wieviel in Chemnitz mit „Fuck“ abgekürzt oder ausgesprochen wird? Die CFUCK und der FuCKarl-Marx-Stadt und und und, das wars eigentlich auch schon) hat unsere Gebete erhört bzw. unsere Texte gelesen und den Ringbus zur „Hop-On-Hop-Off“-Line für Touristen deklariert. Damit ihr nicht die Orientierung verliert, falls ihr mal betrunken mit dem Ringbus vom Balboa ins Tesla fahren wollt, könnt ihr im CVAG-Center ab sofort für den Preis einer Einzelfahrt (fast) eine schicke Faltkarte mit allen Strecken-Highlights, Sehenswürdigkeiten und Fahrzeiten erwerben. Falls ihr euch gerade eher fragt, was genau eine Faltkarte ist: Das wie eine Verkehrsbetrieb-App, nur in analog, und deshalb auch viel cooler. 

Zum Schluss unsere Lieblingsschlagzeile, unkommentiert in den virtuellen Raum gestellt: Dramatischer Rückgang: Warum verlassen immer mehr Tauben Chemnitz?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.