Seit jeher sehnt man sich in Chemnitz nach einem echten Kiez: Stadtleben zwischen schick und schmuddelig, Dönerbude und Edelitaliener, Späti und Secondhandshop, Raucherkneipe und Bio-Laden, Spielplatz und Spielhölle.
Alle Versuche, dem Brühl, der sich nahezu schreiend laut dafür anbietet, einen Neustadt-Stempel aufzudrücken sind einigermaßen kläglich gescheitert. Lieber lässt man dort jetzt Häuser teuer sanieren. In Bernsdorf, wo überwiegend Studenten leben, gibt es zwar einen Hype-Bäcker, aber abgesehen vom Imagine-Pub auch keine einzige ordentliche Kneipe. Am Sonnenberg wiederum sind die Kiez-Bedingungen gut, hier beginnt ‚was zu gedeihen. Was man in der Stadt aber bisher irgendwie nicht verstanden hat: Ein Kiez entsteht und lebt vor allem durch eine gewisse Eigendynamik des Viertels, sein Charme lässt sich schwer durch pseudo-hippe Geschäftsmodelle der Wohnungsgenossenschaften transportieren. Im Kiez gibt es nicht nur schickes Studentenwohnen, sondern auch schmuddelige Eckkneipen und andere dubiose Etablissement. Stadtleben zwischen Glanz und Zwielicht.
Wenn man also irgendwo in Chemnitz Waffenspätis, Geldwäschereien und Drogenküchen zwischen Imbissbuden und Tattoo-Studios vermuten würde, dann wohl auf der Limbacherstraße. Sie ist zwar nicht sonderlich schick, dafür aber besonders schmuddelig. Immerhin findet man hier die Zukunft, allerhand ranzige Imbisse, Tattoo- und Nagelstudios, einen Armyshop und den Verein der Angolaner in Chemnitz, eine Salbenmanufaktur, eine Salzgrotte, viel Straßendreck und noch viel mehr Supermärkte. Eigentlich der perfekte Nährboden für den ersten echten Chemnitz-Kiez. Im Rahmen unserer hiermit startenden Porträt-Serie über die abenteuerlichsten Straßen der Stadt haben wir an einem lauen Aprilnachmittag einen fotografischen Streifzug angetreten und dabei eine ganz erstaunliche Entdeckung gemacht: Unsere Reise zum heimlichen Headquarter von Käsemaik.
Wo die Leipziger- auf die Reichsstraße trifft, zwischen Konkordiapark und Kompott, Ermafa-Passage und Litfaßsäule stehen an einem frühlingshaften Donnerstagmittag zwei Zeugen Jehovas. Sie wirken hoffnungslos verloren und doch wie ein stiller menschlicher Leuchtturm im lauten Verkehrschaos. Hier, am Fuße des Kassbergs, beginnt unsere Reise entlang der gefährlichsten Straße Deutschlands: Über sechs Kilometer erstreckt sie sich vom Kassberg-Tal über Altendorf und Rotluff bis nach Rabenstein.
Für viele Chemnitzer ist die Limbacherstraße nicht mehr als ein schäbiger Fußabtreter des Kassbergs, in dem sich Kippenreste und Hundekacke festgesetzt haben. Oben auf dem Berg, so scheint es, thront die Bohème. Unten im Tal kriecht ihr der Pöbel zu Kreuze.
Am Anfang steht die Zukunft.
Die „Limba“ besticht durch eine enorme Dichte ranziger Imbissbuden. Beim kleinen gelben Asia-Imbiss mit angrenzender Autovermietung am Rande des Lidl-Parkplatzes gibt es auch Döner, Freisitz und Frittierfett. Jedenfalls treffen sich hier viele Stars der Stadt.
Unter den beschaulichen Balkonen im gegenüberliegenden Lückenbau findet man unter anderem: Einen neuen Inder namens „Curry Haus“, einen verlassenen Italiener, der „O Sole Mio“ hieß, ein Tattoo-Studio, Bestattungen und einen Laden für Militär-Modelle
Für Sie und Ihn: Miniaturrakete, Modell vom Weltkriegsbomber.
Alles was das ultra-hippe Hool-Herz begehrt. Vor einigen Jahren galt der „Rascal-Fashionstore“ übrigens als Deutschlands umsatzstärkster Vertrieb von „Thor Steinar“ -Leibchen/ bzw. rechter Mode.
Zwei Herzen schlagen in diesem Hinterhof, eines links, das andere rechts. Zum „Chemden-Market“ gehören „The Rascal“ – der Laden führt vor allem Marken, die Nazis und Skins gerne mögen – aber auch „The Clash“ – mit einem modischen Sortiment für Punks. Im Hof steht ein weißes Plaste-Möbel-Ensemble, das mit zwei kahlen Typen verziert ist wie die Tür eines zwielichtigen Clubs.
Zurechts. In diesem Hinterhof in der Limbacherstraße 30/32 verbirgt sich schließlich ein Shoppingparadies für gewaltgeile Minderheiten, Punks, Gruftis, Nazis und Wendeverlierer. Hier kann man auch die schicken Ostzonen-Shirts kaufen und folgende schlagkräftige Botschaften auf der Brust tragen: „Reden war gestern , jetzt wirds ostdeutsch.“ | „Saufen, Prügeln, Sex: Im Osten heißt das Party! “ | „Im Osten ist es Tradition da knallt es vor Silvester schon.“ | „Freie Republik Ostdeutschland Widerstand statt Verrat – Eisern, Furchtlos Gewaltbereit“ | „Ostdeutschland ganz rechts in Deutschland“
Zielgruppengerechte Werbung eines Getränkehandels.
Dolce Vita auf der Limba: Spielhölle neben Super- und Getränkemarkt. Und im Gebüsch nebenan trifft sich die Szene und säuft.
Sieht grottig aus, soll aber gesund sein. Die räudigen Raucherlungen und abgeranzten Atemwege mal ordentlich mit Salz frei spülen. Auch als Liebeshöhle nutzbar.
Die goldene Ranunkel für das beste Wortspiel 2015 geht an: Limpopo, den Gebrauchtladen für Kinderbedarf.
Nicht im Bild: Der Prototyp des Limba-Passanten. Jung, männlich, bestickte Jeans und bedrucktes Hoodie, das Cap tief ins Gesicht gezogen, die Augen im Schatten, die Haut ist aufgekratzt. Er fährt ein BMX- oder Cruiserbike und wird meistens von einer amerikanischen Bulldogge begleitet.
Auf unserer Reise entdecken wir, was wir hier niemals erwartet hätten: Das heimliche Headquarter der Chemnitzer Käselegende Käsemaik – versteckt hinter einem unscheinbaren gelben Käsewürfel, der angeblich einen Laden namens „Käsetheke“ ausweisen soll.
Erstmal zu Penny. Oder zu Lidl? Edeka? Rewe? Norma? Oder doch in den neuen Hunde-Netto. Oder in den anderen Lidl?
Oder zum Pfennigpfeiffer.
Oder zur Tricolor-Frisur.
S-Führung und Farbgebung beim Logo des Friseur-Geschäfts „Kopfsache“ scheinen vorbildlich.
Hat die Haare schön: Ein Kunde des Salons. Vielleicht aber auch nur ein nettofarbener Drogen-Teddy.
Laufkundschaft.
Dekoration im Schaufenster eines Kosmetikgeschäfts: Beautymasken für die Asia-Mafia.
Auf ewig haarfreie Haut durch Scandinavian Sugaring oder vertrauenserweckend beworbenes Fettweg-Pogramm möchte man da lieber verzichten.
Zwischen Dönerbude, Orthopädischem Schufachgeschäft und Bestatttungsinstitut kann man nämlich auch handgemachte Hautcremes kaufen. http://www.salbenmanufaktur.eu/
An der Tür des Eckhauses prangt ein Zettel mit dem Hinweis darauf, dass hier die Stadtindianer leben. Dabei wurden die doch immer auf dem Sonnenberg vermutet.
Jedenfalls haben sie niedliche Puppen im Garten.
Tattos aus der „Irrenanstalt“
Absolute Supermarkt-Seltenheit in Ostdeutschland: Netto-Nord aka „Hunde-Netto“, bekannt für dänische Delikatessen im Sortiment.
Limba-Streetstyle. Oben: Jogging-Anzüge mit Getto-Flair. Unten: Kassberg-Hipsterstyle – Auffällige Kopfhörer in Kombination mit Mann und Kinderwagen
Andere Lebensformen scheinen im Schmutz der Straße eher selten. Zwischen Müll, Dreck und Kippenstummeln haben wir sie trotzdem gefunden.
Wer auf die Limbacherstraße ziehen möchte, sollte sich lieber beeilen, bevor auch hier die Gentrifizierung einsetzt. Vielleicht jal in diese hübsche Singlewohnung. Vielleicht haben wir den Aushang neben dem Matratzenlager aber auch nur missverstanden.
Abendstimmung, Rewe-Romantik.