Wenn Chemnitz eines nicht ist, dann eine Studentenstadt. Fast 12.000 Studenten hat die Stadt, die keine Studentenstadt ist, und in der Innenstadt und den Clubs und überall dort, wo man die Studenten brauchen könnte, sucht man sie so verzweifelt wie Empathie in der sächsischen Bevölkerung. Vielleicht ist es kein Zufall, dass der Campus in Chemnitz direkt neben dem Friedhof liegt. Was haben wir hier nicht alles schon begraben: Hoffnungen, Herzen, leere Flaschen, Zukunftsperspektiven.
Die Chemnitzer Uni, die natürlich eine Technische ist, hat mehr Geisteswissenschaftler als Maschinenbauer und ist übrigens die internationalste aller sächsichen Hochschulen. Auch die Alliterations-Maschine Re:marx ist ein Hochglanzprodukt dieser fantastischen Fachkräfte-Fabrik, die am laufenden Bachelor-Band durchoptimierte (damals-noch) Diplom-Ingenieure und marktkompatible Masterofdesaster ausspuckt. Und Leute wie uns: Philfaker. Vom akademischen Anfang an zum Taxifahren oder Bloggen verdammte Spinner, die ziellos in eine in Nebel gehüllte Zukunft navigieren.
Einst hofften sie, ihre orgiastischen Grübeleien in etwas Revolutionäres wie eine vielzitierte Theorie über die Korrelation von Philfakertum und Alkoholkonsum kanalisieren zu können, heute sitzen sie mehr oder weniger ernüchtert bei Babysmile und sortieren Fotos aus. In ihrem Studium haben sie nichts bewegt, außer ein paar leere Bierflaschen zum Pfandautomat, und nichts gelernt, außer den Namen des Typen/Mädchens, der/das sie in der 51 gespottet hat. Dreimal waren sie auf einer Demo gegen Nazis, weil man das mal gemacht haben muss, doch um über die Grenzen ihrer Credit-Points hinauszudenken, fehlte ihnen angeblich die Zeit. Dieses Schicksal teilen sie, teilen wir, mit einer ganzen (neuen) Generation von Studenten, die sich vor allem gut an das verwirtschaftlichte System anpassen und viel saufen können. Das geht zwar an vielen Unis gut, aber in Chemnitz besonders. Deshalb wird es Zeit für ein abgephilfakt, für das wir in unseren Erinnerungen und postpubertären Tagebuchaufzeichnungen gekramt haben, die etwa so deep sind wie der Schlossteich im Winter oder ein halbes Wasserglas voll Pfeffi.
Das Studium: Was hat man sich nur dabei gedacht, als man von Luckenwalde, Treuen, Wismar, Reichenbach oder Chemnitz nach Chemnitz zog, um hier so etwas zukunftsträchtiges wie Germanistik, Politik, Anglistik oder Medienkommunikation zu studieren? Getrieben von Wissenshunger und anderem Durst, freute man sich auf interessante Menschen und große Gedanken. Man erhielt eine Magic-TUCard, mit der man gleichzeitig kostenlos Bus fahren, Kaffee kaufen, Bücher ausleihen und seinen Arsch kopieren konnte. Doch schon in der O-Phase krochen die ersten Zweifel gemeinsam mit dem Herbstnebel in die überstrapazierten Ersti-Hirnwindungen. Bereits nach einem Semester war die Motivation, von der man sich beflügelt wie ein Roter Stier hatte ins Uni-Leben tragen lassen, an den schweren Stahltüren der Realität abgeprallt, an sinnlosen Studieninhalten, an massenhaft Menschen in Outdoor-Jacken. Der Unterschied zu vorher war, dass man jetzt, nach einem Semester Semiotik, sagen konnte, dass es diese Realität, von der immer alle reden, ja gar nicht wirklich gibt. Man fühlte sich schon als Speerspitze einer geistigen Elite, bis der Winter kam. Dann kamen die Prüfungen. Dann die Vorlesung in Recht, Donnerstags, siebenuhrdreißig, Sommersemester. Dann kamen Blockseminare, Samstags, im Weinholdbau. Dann sprangen Kommilitonen als Pikachu verkleidet in den Seminarraum. Und irgendwann wusste man nicht mehr, was genau man hier eigentlich machte.
Die Dozenten aschten während der Sprechstunde in den Blumentopf, die Professoren ließen Vorlesungen ausfallen, um online Poker zu zocken, die Dozenten waren nicht einmal in den Seminaren da, um sich die Referate ihrer Studenten anzuhören. Die Dozenten trugen magentafarbene Hemden und legten bei Gothic-Parties im Südbahnhof auf. Sie schimpften auf den Verwaltungsapparat und standen gerne an der Bar. Sie hatten piepsige Kinderstimmen oder kompensierten Überforderung mit überzeichneter Strenge und Strafarbeiten. Auf den Festplatten der Dozenten fanden wir Akt-Fotos. Manchmal können Professoren auch unbehelligt Rassisten sein, und keinen interessiert das.
Denn die Kommilitonen waren im Schnitt langweiliger als ein durchschnittlich ödes Dorf im Erzgebirge und mindestens so egozentriert wie der Rest der Generationen X bis Y. An Themen, die sich außerhalb des eigenen Referats abspielten, waren die meisten schlichtweg nicht interessiert. Alles, was sie wollten war ein sicheres Einkommen, später dann. Es gab Grüppchenbildung im Seminarraum. Die Coolen trafen sich zu Mädelsabenden und irgendwas mit Sekt, die Uncoolen gingen zum Spieleabend und strickten im Hörsaal. Es gab Studiengang-Partys im PEB mit Motto, Kostümen, süßen Cocktails und schlechter Musik. Die wenigsten engagierten sich nebenbei, zumindest nicht, wenn es keine Credit-Points dafür gab. Niemand für Politik, zwei Leute in der Fachschaftsgruppe, zwei bei UNiCC, einer bei der TUChfühlung. Warum wir das hier schreiben? Weil wir glauben, dass es auch heute noch stimmt und sich der Querschnitt wunderbar auf andere Studiengänge anwenden lässt, außer vielleicht auf Politik und Europastudien.
Die Wahrscheinlichkeit, einen Chemnitzer Studenten außerhalb des Wohnheimes zu treffen, liegt unserer selbstgefälschten Statistik zufolge bei dreikommafünf Prozent.Die Wahrscheinlichkeit einen Chemnitzer Studenten mittags in der Mensa zu treffen hingegen bei 103,5 Prozent. Statistik war eines unserer liebsten Fächer.
Die Mensa: Mensen – das hat nichts mit dem blutigen Ausscheiden unbefruchteter Eizellen zu tun, Mensen ist das, was man mittags auf dem Campus macht. An der Nudeltheke stehen und den Analog-Käse über die Tomatensoße häufen, bevor man den selbstgeformten Pasta-Mount-Everest auf einem Tablett akrobatisch durch die Reihen balanciert und dabei bekannte Gesichter visiert. Doch Mensen ist mehr als das: Mensa ist Lifestyle, Lebensinhalt, Religion. Master of Arts, das steht auf unserem Zeugnis, doch eigentlich muss es Master of Mensa heißen. Am Anfang des Studiums erfordert Mensen gutes Timing: das Zeitfenster der Mittagspause ist zu schmal für eine Wahl zwischen 11:30 Uhr (Frühstück), 12 Uhr (Dozenten-Esszeit), 13 Uhr (Horror) und 13:59 Uhr (beste Zeit). Je scheinfreier man wird, desto mehr Scheinfreizeit verbringt man im transparenten Tempel des Glutamat-Geschmacks. Überhaupt das Essen: Stand beispielsweise Hirtenrolle auf dem Speiseplan, löste das fast schon eine Hysterie aus, die auch das tagelange Knoblauchaufstoßen danach nicht trügen konnte. Standen weder der Klassiker „Hähnchen-Schnitte Diana“ noch „Schnitzel Cipolla“, Eierkuchen oder der „feurige Chilitopf“ zur Wahl, konnte das zu Depressionen und wütenden Einträgen ins Gästebuch führen.
Der einzige Glaskasten in Chemnitz, der nicht Claus Kellnberger gehört, ist ein Kosmos für sich, eine eigene Galaxie voller Geklapper, Gepiepse und Gemurmel, voller Freaks und Streber, Hipster und Heimscheißer, die auf den Essensbändern Kunstwerke aus leeren Kaffeetassen stapeln und nicht wissen, ob und wie sie auf das herzhafte bis übellaunige „Mahlzeit“ der Mensafrauen reagieren sollen. Im Winter ist auch die Mensa ein trostloser Ort. Doch sobald die ersten Sonnenstrahlen auf den beigen Beton fallen, präsentiert sich der gemeine Mensagänger draußen auf dem Vorplatz. Im Sommer, also von März bis Oktober, sitzt man draußen, und gafft von den Betonrängen der elitären Fleischbeschau-Arena. Viele fühlen sich hier wie heiße Würstchen auf dem Grillteller. Für einen sonnigen Mensanachmittag zwischen Eismann und Clubmate-Engpässen im Edeka lässt man auch schon mal die ein oder andere Lehrveranstaltung ausfallen. Ganze Nachmittage, Tage, Wochen, Jahre prokrastiniert man im Schutz der rotgepolsterten Rondelle der Cafète, in der Re:marx übrigens seinen akademischen Namen bekam.
Unsere schönste Erinnerung reicht zurück zu der Zeit, als die Kaffeeautomaten dort kaputt oder manipuliert wie Dieselmotoren bei VW waren, und man den Pott Kaffee in die pink-grün karierten Pappbecher gespritzt bekam, ohne dafür die Mensa-Karte auflegen zu müssen. So ein Hippie-Sommer war das.
Heute: Ist alles anders, denn es gibt mit der Haltestelle „Technopark“ endlich mal einen coolen Club in Campusnähe und außerdem einen neu-sanierten Mensa-Vorplatz, der kaum wiederzuerkennen ist. Gegenüber halten jetzt schnittige Straßenbahnen, wo es früher nur überfüllte Busse gab, wenigstens der Döner-Imbiss ist geblieben. StudiVZ ist tot, alle hängen nur noch auf Insta, das ist der neue Mensa-Vorplatz. Studenten tragen keine Outdoorjacken mehr, sondern sehen fast aus wie in richtigen Großstädten, manche schaffen es sogar über die Grenzen des Campus hinaus in angesagte Szenekneipen wie das Vapiano oder Dean&David. Als wir zum Studium nach Chemnitz kamen, gab es noch überhaupt keine Kneipenmeile, jetzt gibt es immerhin Gryos von Spiros. Was genau und wo Chemnitz ist, muss man im Auslandssemester in Barcelona jetzt auch nicht mehr erklären, das weiß jetzt wirklich jeder.
Eine Orangerie ist ein historischer, repräsentativer Garten mit Zitruspflanzen, und die gediehen am besten in prächtigen barocken Gewächshäusern. In Chemnitz ist die Orangerie ein orange-verputzter Betonklotz, mit N114 und N115, und die tragen mittlerweile kommerzielle Namen (Niles-Simmons-Hörsaal?) wie sonst nur Fußballstadien (Re:marx-Arena!). Hier gedeihen die Vordenker von morgen. Theoretisch zumindest, faktisch schlafen sie hier in Vorlesungen ein und gehen mit wehenden Alkoholfahnen unter.
Desweiteren findet man folgende Außenstellen der TU: Das Hauptgebäude, kurz: StraNa. Die Wilhelm-Raabe-Straße, kurz: Seminare dort lieber vermeiden. Die menschenberuhigte Zone „Erfenschlag“, kurz: sich mal so richtig einsam fühlen. Sowie neuerdings auch eine Etage über dem Hotel Biendo, kurz: man versucht alte Versäumnisse wieder gut zu machen. Denn die räumliche Trennung von Campus und Innenstadt macht den Unterschied zu Studentenstädten wie Leipzig oder Jena. Jetzt, nach 1000 Jahren TU, versucht man es endlich durch die Sanierung der Aktienspinnerei und den Bau einer Straßenbahnlinie.
Um ein Gefühl für das Campus-Leben in Chemnitz zu bekommen, empfehlen wir einen Besuch am Wochenende, gegen Mittag, oder in den Semesterferien, gegen Nachmittag. Verglichen mit der still herrschenden Leere hier bekommt man auf dem Brühl fast schon Platzangst. Es gibt nichts. Niemand zu sehen. Alles dicht, außer das Cafè Südeck und das Tor zum Friedhof. Keiner fällt aus einem Wohnheimfenster, weil die Hälfte der Wohnheimeinwohner heim ins Erzgebirgsreich gereist ist. Und das ist jetzt also das Studentenleben, von dem alle schwärmen wie der Proll vom Ballermann?
Vielleicht, denn im Prinzip geht hier einiges: Man kann bei Radio UNiCC Sendungen machen, die niemand hört. Man kann in der Bibo sitzen und sich über lästige Laut-Atmer aufregen. Man kann Texte schreiben für die Tuchfühlung, aber gibt es die überhaupt noch? Man kann Blogger werden für die „Campus-Tuschler“ und erklären, was eine „Prüfungszeit“ ist. Man kann im Club der Kulturen bauchtanzen und im PEB abstürzen, aber tiefer geht’s nicht. Man kann nach dem Bierdiplom im Windkanal das Wohnheimtreppenhaus vollkotzen.
Man kann nicht mehr Teil der Burschenschaft Teutonia sein. Man kann im StuRa riesige Gelder verschwenden und Sommerfeste schlecht organisieren. Auf dem Pegasus-Parkdeck den Mond aufgehen sehen. Man kann sich eine lange Nacht der aufgeschobenen Hausarbeiten in der Mensa um die Ohren schlagen. Sich wie Tiere auf die Werbe-Tüten stürzen. Auf einer Mensa-Party Erleuchtung finden. Im Sommer seinen Traumkörper beim Beachvolleyball zum Mittagessen präsentieren und abends vor der Mensa einweggrillen. Bei den Linux-Tagen einen heißen Nerd spotten. Man kann zur Immafeier gehen, kostenlose Kulis abstauben und das Freibier in Kotzeform zurück in die Becher spucken (war zumindest früher so). Man kann ein grünes Sweatshirt mit TU-Logo kaufen, aber keine Karten mehr für die Sabotage-Parties. Man kann sich während der O-Phase auf dem Campus verlaufen. Karaoke singen mit dem FSR Phil. Länderspiele gucken in einer Bar namens „Ausgleich“ (formally known as Tac). In komischen Kostümen Sportfest feiern und bei der Siegerehrung laut „Ficken!“ ins Mikrofon grölen. Man kann mit fünf Leuten einen MK-Flashmob in der Innenstadt und andere peinliche Sachen machen. Die Prüfungsanmeldung vergessen, die Rückmeldung versäumen, zehn Semester überziehen. Man kann sich in der Stadt, die man vielleicht noch gar nicht so gut kennt, für Demokratie engagieren. Manchmal kann man auch den StuRa oder so Ämter oder irgendsowas wählen, aber das ist natürlich uninteressant.
Völlig übertrieben…………….Chemnitz ist eine kleine Provinz-Studentenstadt, die ihren eigenen Charme hat, warum soll man sich mit Jena und Leipzig vergleichen…………
Hier haben sich wohl mal einige frustrierte Studienabbrecher so richtig ausgekotzt?