Der August 2018 wird in dieser Woche schon drei Jahre alt, und zwischen all dem Kulturhauptstadtjubel und Cultursommerreigen meint man manchmal kurz zu vergessen, dass es ihn überhaupt gab. Doch nur weil er jetzt schon etwas in die Jahre gekommen und Chemnitz plötzlich wieder cool ist, heißt das nicht, dass seine Wirkung verblasst ist.
Die Bilder von ihm tauchen auch heute noch regelmäßig in den Medien auf, sie lauern potenziell überall dort, wo der Name „Chemnitz“ fällt und wo es um rechtsextremistische Netzwerke geht, um den Verfassungsschutz, die AfD, den verlorenen Osten, den Failed State Sachsen und so weiter. Die Bilder aus Chemnitz stehen mittlerweile fast schon symbolisch für die Gefährdung der Demokratie von rechts, für den Rechtsruck der Mitte, für salonfähig gewordene Fremdenfeindlichkeit (Rassismus eingeschlossen). Zuletzt tauchte der August 2018 im Juni 2021 wieder prominent in den Medien auf, als sich herausstellte, dass der Attentäter von Würzburg in Chemnitz gelebt hatte und bei den Ausschreitungen rassistisch angegriffen worden war.
Immer, wenn wir diese abgrundtief hässlichen Bilder sehen, kommt das angstflaue, graue Gefühl von damals wieder hoch: Hass und Gewalt, auf die Straße getragen als seien es angesagte Accessoires.
Das war: die mit Abstand finsterste Zeit, die wir bisher in Chemnitz erlebt haben. Die Helikopter, die scheinbar permanent über der Stadt kreisten wie gierige Geier über Aas, die brutale Choreografie der Wasserwerfer und Räumpanzer auf den Straßen, die Polizei, die entweder zu wenig oder zu viel oder an der falschen Stelle agierte. Die Bilder, die man sich ungläubig im Fernsehen oder Internet ansah, obwohl man sie Stunden vorher in echt erlebt hatte, die Ernsthaftigkeit und Härte, vielleicht auch Abscheu, mit der die Nachrichtensprecher:innen Chemnitz aussprachen. Die Wut, Verzweiflung, Traurigkeit und Angst, die man fühlte, der Scham, aber auch der Tatendrang, die Stadt jetzt unbedingt retten zu müssen. Die Absurdität, dass Chemnitz, bisher ein vergessener grauer Fleck auf allen Landkarten, plötzlich den New-York-Times-Titel zierte – und man selbst mit Guardian und CNN korrespondierte.
Ausgangspunkt war das Tötungsdelikt an Daniel H., ein Verbrechen, dessen Tathergang bis heute nicht richtig aufgeklärt wurde, die Beweislage ist dürftig, einer der mutmaßlichen Täter ist nach wie vor flüchtig. Das Urteil wurde 2019 trotzdem gefällt. Ein absolut beschissenes Verbrechen, das allerdings etwas in den Hintergrund rückte. Stattdessen wurden die ausländischen Namen der mutmaßlichen Täter in den Vordergrund gerückt und Fake-News über den Tathergang verbreitet. Die Neonazi-Szene, insbesondere die Ultra-Gruppierung Kaotic Chemnitz, mobilisierte schneller, als sie „Heil Hitler“ sagen konnte. Und so hetzte noch am gleichen Tag ein enthemmter Mob durch die Stadt, während wir völlig ahnungslos auf der ibug flanierten und uns im „Chemnitz wird langsam richtig cool“-Gefühl sonnten. Die Nazis, in dem Fall Pro Chemnitz, mobilisierten auch für den darauffolgenden Montag, und während man noch hoffte, dass es vielleicht gar nicht so schlimm werden würde, wurde es viel schlimmer – es wurde richtig schlimm: Etwa sechstausend Rechte und Neonazis standen vorm Nischel. In der ersten Reihe zeigte das hochaggressive Who is Who der Szene seine weißesten Ärsche und strammsten Hitlergrüße, in der zweiten Reihe tummelten sich besorgte Bürger:innen in beigen Jacken, die nicht „in die rechte Ecke gestellt“ werden wollten, aber eben genau dort standen. Auf der anderen Seite hatten sich im Stadthallenpark etwa 2000 Menschen zur Gegendemo versammelt. Dazwischen stand nur ein zartes Polizeikettchen, das viel zu wenig und viel zu überfordert war. Dieser Abend war beklemmend und gruslig, und es ist ein absolutes Wunder, dass es nicht zur Komplett-Katastrophe kam.
Was dann geschah: In den nächsten Wochen hing die permanente Möglichkeit einer Eskalation wie eine düstere Glocke über der Stadt: Immer wieder gab es Demos, immer und überall war die Bundespolizei auf den Straßen. Restaurants wurden angegriffen, Pro Chemnitz war dauerpräsent, Revolution Chemnitz erprobte den ersten Sturm auf die Schlossteich-Insel, die Medien kreisten ähnlich beharrlich über Chemnitz wie die Polizeihubschrauber, die Stimmung war ein bisschen so, als hätten die Dreißigerjahre in Chemnitz ein Nazi-Tinderdate mit den frühen Neunzigern. Doch es passierten auch gute Dinge: „Wir sind mehr“ natürlich und seine fast schon therapeutische Wirkung für die Stadt. Aber auch der starke Zusammenhalt vieler Chemnitzer:innen untereinander, die Netzwerke, die heiß glühten, das pragmatische, aber von Herzen kommende Miteinander in der Not, das man plötzlich an vielen Ecken der Stadt spürte, die vielen kleinen und großen Initiativen, die sich gründeten. Das war nicht nur symbolpolitische Imageschaden-Politur, es war an vielen Stellen auch wirklich ernst gemeint.
Warum sich alle aufgeregt haben: Der August 2018 hätte in jeder anderen ostdeutschen Stadt passieren können und gleichzeitig auch nicht. Es war jedenfalls kein Zufall, dass er in Chemnitz passiert ist, denn er hat beängstigend klar deutlich gemacht, wie weitreichend die Netzwerke der Chemnitzer Nazi-Szene sind und wie weit die Rauchzeichen reichen, die man regelmäßig in der Südkurve zündet. Das Problem war bekannt, wurde aber geduldet, vielleicht auch ignoriert oder ganz einfach verdrängt. Es war, als würde man in einer Wohnung leben, in der der Schimmel zwar schon seit Jahren an den Wänden klebt, sich dann aber trotzdem wundern, dass man plötzlich keine Luft mehr bekommt. Der August 2018 hat die Macht der verbalen Brandstifter:innen gezeigt, die regelmäßig in den sozialen Netzwerken zündeln, und den Hass, der sich seit Jahren dort festgesetzt hatte, mit voller Wucht auf die Straßen gespült. Und dann gab es noch die bundespolitische Ebene: Kretsche, der wankte wie ein Fähnchen im Wind und keine Hetzjagden gesehen haben wollte, Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen, die Mensch gewordene Redensweise von „auf dem rechten Auge blind“, und natürlich die „Mutter aller Ministerprobleme“, Horst Seehofer. Rückblickend wissen wir gar nicht mehr, wie wir diese Wochen nervlich eigentlich überstanden haben, jedenfalls waren ziemlich viel Beruhigungstee, Lavendel, Baldrian und bestimmt auch Schnaps involviert.
Das ist: Das Who ist Who der Szene hat Chemnitz als neuen Lebensraum im Osten entdeckt, und zieht unter anderem aus Dortmund gezielt in die Stadt, um sich hier ins von Kohlmann und dem NSU gemachte Nazi-Nest zu setzen. Beate Zschäpe hat sich 2019 erfolgreich in die Chemnitzer JVA verlegen lassen, „heim ins Reich“, wo die Netzwerke ganz nahe sind. Das Thema August 2018 ist also lange noch nicht durch, und niemand kann hier ernsthaft die Möglichkeit einer Neuauflage ausschließen, nur weil es jetzt 2025 als rettenden Image-Anker gibt.
Überhaupt Chemnitz2025: Wären wir sehr böse Bloggerinnen, würden wir behaupten, der August 2018 war ein Inside-Job der Kulturhauptstadt. Jedenfalls haben wir den Nazis nicht nur unseren schlechten Ruf, sondern auch unseren jüngsten Fame zu verdanken. Das ist zwar bitter, aber letztendlich ist das ganze Leben eine einzige Dialektik, ein ewiger Widerspruch. Immerhin ist die Erkenntnis geblieben, dass Chemnitz schon kann, wenn es nur will. Die Kulturhauptstadtbewerbung war genau deswegen letztendlich auch erfolgreich: Weil Chemnitz hier endlich mal nicht beschönt und weggeschaut, sondern das Problem benannt und einige gute Projekte drumherum gebaut hat. Vielleicht ist die Gegenreaktion auch dem Chemnitzer Minderwertigkeitskomplex zu verdanken: Dresden hat es in hundert Jahren Pegida nur selten für nötig gehalten, ernsthaft Zeichen gegen Rechts zu setzen und sich stets selbstverliebt auf seine biederen Barockschnörkel als unwiderstehliche Tourismusmagnete verlassen. Geblieben ist auch die Hoffnung, dass der wunde Punkt ein Wendepunkt war, das vage Gefühl, dass es seitdem aufwärts geht, dieses Mal wirklich. Geblieben sind viele Initiativen und Projekte aus der Zivilbevölkerung. Geblieben ist aber leider aber auch das Gefühl, dass so etwas jederzeit wieder passieren kann, weil sich jahrelang kultivierte, extrem verkrustete rechte Strukturen nicht einfach so mit einem Kulturhauptstadt-Titel und bunten Treppen auflösen lassen.
Die Fotos: hat uns Peter Rossner zur Verfügung gestellt. Hier findet ihr mehr Arbeiten von ihm