Die Post der Moderne: Wie der Kommunismus nach Chemnitz kam
Die Post der Moderne: Wie der Kommunismus nach Chemnitz kam

Die Post der Moderne: Wie der Kommunismus nach Chemnitz kam

Der Kommunismus ist jetzt auch in Chemnitz angekommen. Er kam am Abend der Bundestagswahl mit der MRB, vermutlich aus Süd-Leipzig, und man konnte mit der F5-Taste im Anschlag live dabei zu sehen, wie er sein gnadenloses Linksrutsch-Rot über Chemnitz ergoss. Oder anders gesagt: Die SPD hat bei den Bundestagswahlen in Chemnitz gewonnen, sowohl bei den Erst- als auch bei den Zweistimmen (23- 25%) und man läuft seitdem völlig ungläubig durch die Stadt und weiß: Hier wählt jeder Vierte SPD! Das ist eine gute Nachricht, weil der deutschlandweite SPD-Hype endlich mal ein Trend ist, der nicht fünf Jahre später in Chemnitz ankommt. Nun ist der Kommunismus im Chemnitzer Fall jedoch recht konservativ und wirtschaftsfreundlich sowieso, denn Detlef Müller, der übrigens das einzige SPD-Direktmandat in ganz Sachsen holte, ist eher im rechten Flügel der SPD zu verorten. Wir sind uns also nicht ganz sicher, ob er in Chemnitz trotz oder wegen seiner Weigerung, zukünftig nicht mehr „Z.-Soße“ zu sagen, gewonnen hat. Aber man muss in Sachsen derzeit ja nehmen, was man so an Kommunismus bekommt. Direkt hinter Müller landete Klonovsky, der in München lebende und im Erzgebirge geborene Redenschreiber von Alexander Gauland, der quasi öffentlich mit seiner Inkompetenz („Vertrauen Sie mir, ich bin kein Politiker“) prahlte und damit auch noch punkten konnte. Für ein Mandat hat es am Ende zwar trotzdem nicht gereicht, weil die AfD in Sachsen am eigenem Erfolg gescheitert ist und so viele Direktmandate geholt hat, dass kein einziger Landeslistenplatz mehr übrig blieb, aber wenn man sich durch die Urnenwahlergebnisse der einzelnen Stadtteile klickt, sieht das in vielen Teilen ziemlich finster aus. Zwar haben 40 % der wahlberechtigten Chemnitzer:innen per Briefwahl und da vor allem demokratiefreundliche Parteien gewählt, aber dass die AfD bei den Urnenwahlergebnissen in vielen Stadtteilen auf über 30 Prozent kommt, ist bitter genug.
Die Chemnitzer Wahlergebnisse beschreiben überhaupt ganz gut, wie die Stadt funktioniert: Die Bevölkerung ist durchschnittlich im besten Ningel-Boomer-Alter, die südlichen Stadtränder sind hoffnungslos ans Erzgebirge und die nördlichen hoffnungslos an Burgstädt verloren und man würde Gemeinden wie Einsiedel, Klaffenbach oder Röhrsdorf gerne den baldigen Chexit nahe legen, der Sonnenberg pflegt seinen Ruf als Nazikiez, das NewYorckgebiet (SPD 32%) ist entweder eine völlig unterschätzte stabile alte Arbeitersiedlung oder verhält sich zu Chemnitz tatsächlich so wie New Yorck City zum Rest der USA, und der Kaßberg hat natürlich mal wieder die Stadt gerettet (schlechtestes AfD-Ergebnis im ganzen Stadtgebiet). Es ist auch gar nicht alles schlecht, zumindest nicht in Chemnitz: Die AfD hat im Vergleich zur Wahl 2017 an Stimmen verloren, SPD und Grüne haben sich in Chemnitz fast verdoppelt und vier Grüne Abgeordnete sitzen jetzt für Sachsen im Bundestag, darunter auch der Chemnitzer Stadtrat Bernhard Hermann.
Chemnitz leuchtet jetzt jedenfalls als eine Art rotes Paradies im sächsischen AfD-Türkis, und am Ende hat man wieder gemacht, was man immer macht, wenn in Sachsen gewählt wird: Die ersten Wahlergebnisse anschauen, pulsbeschleunigte Empörungstweets ins Twitter hämmern, dringend Schnaps brauchen, sich bisschen beruhigen, stur weitermachen, weil wegziehen macht’s ja auch nicht besser. Die realitätsferne sächsische CDU hat sich sofort einen Sündenbock gesucht – und den Ostbeauftragten Marco Wanderwitz gefunden, dabei hat der meistens einfach nur Recht, benennt die Probleme deutlich und scheint der einzige stabile sächsische CDU-Politiker zu sein. Für Sozialwissenschaftler wie Raj Kollmorgen liegt es wiederum am sensiblen „Sachsenstolz“, der unserer Meinung nach allerdings ein höchst fragiles Konstrukt, weil er in Wirklichkeit ein jahrhundertealter Sachsenkomplex ist. Schuld ist am Ende nämlich gar nicht Wanderwitz oder die DDR oder die Wende oder Angela Merkel oder was auch immer, schuld ist eindeutig die „Schlacht bei Königgrätz“, bei der den Sachsen von Preußen die letzte Würde geraubt wurde – was sie seitdem scheinbar mit falschem Heimatstolz kompensieren. Die Mutter aller Minderwertigkeitskomplexe also, wobei der Chemnitzer Minderwertigkeitskomplex da etwas halbkreisförmig aus der Reihe tanzt, denn Chemnitz kompensiert gar nicht erst, schon gar nicht mit Stadtstolz, Chemnitz ningelt einfach nur pur – wählt dafür aber eben auch SPD.

In Chemnitz hat man derzeit ohnehin wieder so viel zu ningeln, dass sich die Nischelhupper bestimmt bald in Ningelhupper umbenennen werden: Die ganze Innenstadt ist nämlich eine einzige Baustelle – und damit komplett vom Rest der Außenwelt abgeschnitten, denn Parkplätze sind in Chemnitz jetzt so knapp wie Treibstoff in Großbritannien. Viele Chemnitzer:innen sind momentan also völlig verzweifelt in ihren jeweiligen Stadtteilen eingeschlossen: All allone in Adelsberg, für immer gefangen in den kriminellen Klauen des Sonnenbergs, festsitzen im goldenen Käfig Kaßberg, einsam alt werden in Altchemnitz und die Innenstadt bleibt mal wieder menschenleer und ausgestorben, es ist schlimm! Aber ohne Auto kommt man ja bekanntermaßen überhaupt nirgendwo hin und ohne Parkplatz macht das Stadtleben auch gar keinen Sinn. Und während in anderen Städten neumodische Verkehrskonzepte wie Fuß, Fahrrad oder sogar ÖPNV trenden, bringt die Chemnitzer Freie Presse gefühlt täglich mindestens einen Artikel über das innerstädtische Parkplatz-Dilemma, so als gäbe es nur diese einzige Möglichkeit, in die Chemnitzer Innenstadt zu kommen. 

Dafür strahlt ein neuer Stern am sonst doch so spärlich besternten Chemnitzer Influencerhimmel: Sein Name ist Sven Schulze und er ist Oberbürgermeister von Chemnitz. Oder vielmehr Ober-Chemfluencer vom Chemnitzer Internet, denn dort agiert er umtriebiger als jeder Travel-Grammer und man würde sich nicht wundern, wenn er bald einen eigenen Youtube-Account mit Schlüpfermarkt-Hauls und Weindorf-Follow-Me-Arounds oder eine eigene Netflix-Serie namens „Svenni in Chemnitz“ hätte. Auf seinem Facebook-Kanal „Sven Schulze – Chemnitz“ vereint er Chemnitz-Roaming, Food-Blogging und Cultur-Content mit chemnitztypischen Lost Places Touren: Sven Schulze im Polizeiauto. Sven Schulze, knallorange bewestet im Müllcontainer des ASR. Sven Schulze in roten Badeshorts als Bademeister im Freibad Wittgensdorf. Sven Schulze beim Bratwurstgrillen in der Kleingartenanlage, beim Bierfass-Anstich auf dem Grünaer Volksfest, mit Lulatsch-Hut beim Ringelpietz mit Anfassen, mit re:marx Heat in der Galerie Borssenanger. Sven Schulze im Urlaub in Nordfrankreich. Sven Schulzes Eisbecher mit Sahnehaube in der Außengastro, was macht Sven Schulze eigentlich beruflich? Egal, dieser Mann hat nicht nur ganz genau verstanden, was das essentielle Wesen der Chemnitzer Seele ausmacht, er bringt auch frischen Wind in die aktuell etwas erlahmte Chemnitzer Netz- und Politwelt. Unbedingte Folge-Empfehlung! 

 

 

Zum Schluss noch ein paar Good News: Chemnitz is healing. Also, der Schlüpfermarkt findet wieder statt und man kann jeden ersten Montag im Monat in der Chemnitzer City endlich wieder stylische Amstaffhosen, „große Mieder“, wohlig warme Pantoffeln, Wachstuchtischdecken und exklusive CDs von den singenden Saxofonen kaufen und sich dabei vom Chemnitzer „Schlüpferprinz“ beraten lassen.  Alles was das Chemnitzer Doppelherz eben so begehrt.

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