Die Bazillenröhre galt lange als wichtigste Transitstrecke zwischen Sonnenberg und dem zivilisierten Rest der Stadt. Jetzt wurde das Original nicht nur saniert, es gibt seit August 2020 auch eine zweite Bazillenröhre und damit mehr Möglichkeiten, hygienisch sauber auf den Sonnenberg zu kommen, als man eigentlich braucht.
Für Menschen aus gutbürgerlichen Chemnitzer Stadtteilen war es bisher immer eine Herausforderung, zu Fuß auf den Sonnenberg zu gelangen, ohne sich dabei die feinen Kaßbergfüße schmutzig zu machen oder von verschwörerisch geraunten Reisewarnungen einschüchtern zu lassen. Es gibt für diese unwirtliche Chemnitz-Gegend einfach keine absolute Reisesicherheit: Die Zietenstraße ist viel zu steil für einen Aufstieg ohne Sauerstoffmaske und es kann passieren, dass man unterwegs gefälligen Sonnenberg-Akteuren begegnet und von ihrer Wichtigkeit geblendet wird und sich geschlagen geben und wieder umkehren muss. An der Straße hoch Richtung Sachsen-Allee holt man sich mit aller Wahrscheinlichkeit eine Diesellunge, an der Kreuzung von Dresdner Straße und Technischem Rathaus wird man eventuell von einem gewöhnlichem SUV oder einem Sonnenberg-SUV, also einem Fatbike, überfahren, und selbst wenn man in den vermeintlich sicheren Ringbus steigt, kann es sein, dass man sich ins Lutherviertel verfährt oder am Technopark strandet und dort an einer Überdosis Einsamkeit resigniert. Und dann gab es noch die Bazillenröhre, also die alte Bazillenröhre, durch die man viral gehen und sich dabei mit sämtlichen bekannten Chemnitz-Krankheiten anstecken konnte: Mit gefühlten Kriminalitätsraten, mit Minderwertigkeitskomplexen, akuten Leeregefühlen, mit sonnenbergspezifischen „Heil-Hitler“-Rufen. Die Bazillenröhre war schon eine Corona-Party, da existierte die Pandemie noch gar nicht, die Coronaleugnerin unter den Chemnitz-Unterführungen: Sie hat schon immer konsequent auf Hygienemaßnahmen geschissen. Doch die Bazillenröhre, wie wir sie kennen, gibt es so nicht mehr, und damit ist auch Chemnitz offiziell vorbei.
Statt nur einer gönnt sich die Stadt jetzt also gleich zwei Bazillenröhren, die auch noch unmittelbar nebeneinander liegen: Die eine ist für eine Bazillenröhre verhältnismäßig steril, die andere wurde frisch sterilisiert, beziehungsweise gentrifiziert. Doch welche Bazillenröhre ist nun sauberer und sicherer? Wo tummelt sich das Chemnitzleben, wo läuft man am wenigsten allein? Das haben wir für euch getestet und dabei beide Transitstrecken an nur einem Tag zurückgelegt. Ein Erfahrungsbericht.
Original-Bazillenröhre (neu)
Ein altes Chemnitzer Sprichwort sagt: „Das Licht am anderen Ende des Tunnels ist immer der schlechte Ruf des entgegenkommenden Sonnenbergs“. Es stammt aus einer Zeit, als die Bazillenröhre noch ein endloser finsterer Tunnel war, den man nachts lieber nicht allein durchquerte. Eine Fußgängerunterführung wie eine 217 Meter lange Line Meth, der Tunnel eurer Chemnitz-Albträume, die wichtigste Handelsroute zwischen Sonnenberg und Zivilisation. Doch die Bazillenröhre hatte etwas, wovor sich viele Chemnitzer:innen fürchten wie Boomer vor Lastenrädern: Graffiti. Die Graffiti sorgten dafür, dass einem in der Bazillenröhre immer der coole Hauch der Urbanität entgegen wehte und man sich wenigstens ein bisschen wie in einer Südlondoner Subway-Unterführung fühlen konnte.
Diese Mischung aus Schäbigkeit und Coolness machte die Bazillenröhre sachsenweit weltberühmt: Sie war gleichzeitig Pilgerort (Kraftklubfans, mutige Chemnitz-Tourist:innen) und No-Go-Area (alle anderen). Sie war wochenlang lila illuminiert und man konnte in Aue-Farben gehüllt Richtung Gellertstadion marschieren. Sie war wie in einer richtigen Stadt. Sie war dunkel, dreckig und einsam. Sie war nicht wie in einer richtigen Stadt. Sie war wie Chemnitz.
Jetzt ist die Bazillenröhre nur noch einsam. Aus der verkeimten Virenschleuder ist eine hochsterile Hygieneschleuse geworden, wie man sie sonst nur im BioNTech-Werk findet. Man geht sauber rein und kommt noch sauberer wieder raus: die längste Ausnüchterungszelle der Welt.
Dafür spielt das schicke Kraftklub-Wandtattoo, das sie neuerdings trägt, den Chemnitzer Minderwertigkeitskomplex einmal komplett durch. Da ist sich die Stadt also treu geblieben, schließlich wäre auch sie gern weniger wie sie selbst, ein bisschen mehr so wie Leipzig (aber ohne Graffiti).
Beim Betreten der neuen Bazillenröhre ist man jedenfalls erstmal kurz schockiert, weil sie jetzt so hell und freundlich ist – zu hell und freundlich für unseren Geschmack. Man geht mit einer Chemnitz-Fresse rein und kommt mit einem gentrifizierten Grinsen im Gesicht wieder raus. Als würde man die schlechte Chemnitz-Laune mit aufgesetzten Happy-Vibes reinwaschen wollen – die Bazillenröhre ist jetzt das „Dreamers“ der Chemnitz-Unterführungen. Beim Durchqueren haben wir nichts gefühlt, nichts außer Einsamkeit. Keine Angst, keine Gefahr, keinen modrigen kalten Luftzug, keine spontan ansteigende gefühlte Kriminalitätsrate, keine schlechten Vibes vom Sonnenberg, keiner ist da, niemand schießt in die Luft.
Doch selbst in dieser lebensfeindlichen Umgebung keimt ein erster Hoffnungsschimmer: Bazillenröhre is healing, denn es gibt schon wieder erste Tags oder „Schmierereien“, wie die tag24-Kommentarspalte dazu sagen würde. „Bazillenröhre-Love – sad“ zum Beispiel, das passt sehr gut, und pinke Herzchen, das hätte es früher nicht gegeben, das kennt man nur aus bürgerlichen Barista-Bezirken angesagter Trendmetropolen. In ein bis zwei Monaten werden hier vermutlich wieder die handelsüblichen Sonnenberg-Swastiken, schwurbelnde „Scholz muss weg“-Sprüche, erste zaghafte 161-Versuche und Buntmacher*innen- Aktionismus auftauchen. Die Stadt hat für diesen Fall schon mal prophylaktisch Reinigungsmaßnahmen angekündigt – falls sich hier jemals wieder Großstadtkeime festsetzen, werden sie sorgfältig weggespült wie unliebsamer Zahnstein beim Zahnarzt. Eine Frage ist uns aber zwischen den Zähnen hängen geblieben: Führt die Bazillenröhre überhaupt noch auf den Sonnenberg und zurück oder ist sie jetzt eine Sackgasse für alle Chemnitzer Ambitionen, endlich cool zu werden?
Bahnhofs-Bazillenröhre
Ganz anders hingegen die Bahnhofs-Bazille, die anfänglich vermutlich nur als eine Art Ersatzbazillenröhre gedacht war, sich mit der Zeit jedoch zu einem echten Unterführungs-Überraschungserfolg mauserte. Mittlerweile scheint sie die OG-Bazillenröhre als beliebteste Chemnitz-Unterführung abgelöst zu haben: Laut einer völlig aus der Luft gegriffenen Schätzung des re:marx Institutes für innerstädtische Tristesse gehen inzwischen 88 Prozent des Passantentransitverkehrs zwischen Sonnenberg und Zentrum hier durch.
Vielleicht liegt der Erfolg der Hauptbahnhofs-Unterführung daran, dass bei ihrer Eröffnung im August 2020 die original Bazillenröhre in Aue-Farben angemalt und für viele Chemnitzer:innen unbetretbar war, weshalb sie Ausweichrouten nehmen mussten. Oder daran, dass der Weg kürzer, schneller und belebter ist – wenn man beim Chemnitzer Hauptbahnhof überhaupt von belebt sprechen kann. Jedenfalls kamen uns beim Test mehr als fünf Menschen entgegen, und das an einem gewöhnlichen Samstagnachmittag Anfang Januar in Chemnitz.
Offiziell heißt der Bahnhofsdurchgang übrigens „Zugang Ost“: Das ist das, was viele Gesellschaftsanalytiker derzeit wieder suchen, aber nicht finden, weil es keinen richtigen Zugang zum Osten gibt. Der Osten will für sich sein.
Nun ist die Bahnhofs-Bazille definitiv kosmopolitischer veranlagt als die echte Bazillenröhre: Dank ihrer unmittelbaren Integration in den Hauptbahnhof spürt man hier mit jedem Schritt den Spirit exotischer ferner Städte wie Freital oder Flöha. Immer wieder lockt die Versuchung, in den Zug zu steigen und nach Zwickau zu fahren, um der erdrückenden Enge von Chemnitz zu entfliehen, überall hängen Abfahrtspläne und versprechen das große Glück in Glauchau. Außerdem wird Streetart hier explizit gefördert: Man hat extra Graffiti-Wände anbringen lassen, die offiziell besprüht werden dürfen und wahrscheinlich den alten Wänden der Original-Bazille gedenken sollen. Sie sind aber bisher leer geblieben, weil sie manche für geschmacklose Neunzigerjahre-Revival-Designkunst halten oder weil es so einfach keinen Spaß macht.
Die Bahnhofsbazille gilt als “ Tor zum Einkaufsbahnhof“: Das Obergeschoss verspricht „Einkaufsvielfalt von morgens bis abends an 365 Tagen im Jahr“ und meint damit den MäcGeiz.
„Hier hast du direkt Anschluss an viele Angebote“, lügt die kuha-bunte Werbung für den Einkaufsbahnhof, daneben ein Foto vom Marx-Kopf, der verdrossen auf eine leere Stadt blickt. Am Ende der Durchführung, wenn man den Verlockungen von Konsum und Fernreisen erfolgreich widerstanden hat, wird man endlich mit Aufstiegschancen belohnt – man klettert eine steile Chemnitz-Leiter hoch auf die Dresdner Straße. Und gelangt zu einer brandneuen Bushaltestelle, die immer leer ist, aber egal: Hauptsache der Sonnenberg hat jetzt seine eigene Zentralhaltestelle. Man selbst hat endlich den Aufstieg geschafft und schwebt nun in ungewohnten Subkultur-Sphären bzw. neuen Nazikiez-Höhen, man ist angekommen auf dem absoluten Gipfel der Chemnitzheit. Von hier aus gibt es nur noch eine Richtung: sonnenbergab. Für den Abstieg in die Unterwelt der Innenstadt kann man dann den Fahrstuhl nehmen, das geht schneller.
Fazit:
Wir lehnen uns mal weit aus dem Fenster und behaupten: Die Bazillenröhre dürfte als Haupt-Transitroute ausgedient haben, auch wenn sie die Bahnhofs-Durchführung in Sachen Barrierefreiheit und Fahrradfreundlichkeit um Längen schlägt. Dennoch wird ihr eine prächtige Zukunft als beliebte Jogging- und Nordic-Walking-Strecke blühen und der Kaffeewagen von der Leipziger Sachsenbrücke sollte sich hier jetzt schon mit einer Zweigstelle niederlassen: Spätestens in zwei Jahren werden hier massig Großstadt-Millennials cornern und Barista-Ansprüche stellen.
„Offiziell heißt der Bahnhofsdurchgang übrigens „Zugang Ost“: Das ist das, was viele Gesellschaftsanalytiker derzeit wieder suchen, aber nicht finden, weil es keinen richtigen Zugang zum Osten gibt. Der Osten will für sich sein.“ Kann man es treffender fassen?
Das ihr vor lachen überhaupt noch schreiben könnt. Beim Lesen ist es auf alle Fälle schwer 🙂