Die Post der Moderne (Feburar): Chempire State of Mind
Die Post der Moderne (Feburar): Chempire State of Mind

Die Post der Moderne (Feburar): Chempire State of Mind

Chemnitz ist gemeinhin das Windows 98 unter den Städten: Zwanzig Jahre hinterher, aber es läuft wenigstens zuverlässig. Alle fünf Jahre macht die Stadt jedoch ein Upgrade und ist dann kurz wie eine richtige Stadt, bevor sie wieder auf Burgstädt-Niveau abstürzt. Das letzte große Chemnitz-Upgrade gab es, als der Ringbus – damals noch als Technobus – zum ersten Mal seine Halbkreise mit Endhaltestelle durch das Stadtgebiet zog und Chemnitz taktschlagartig Berlin wurde. Fast fünf Jahre, einen Kulturhauptstadttitel, zwei E-Roller-Flotten, mehrere Nazi-Skandale, unzählige neue Chemnitz-Neurosen, viele Cheesecakes und noch immer keinen Starbucks später ist es also nur logisch, dass Chemnitz jetzt New York ist. Wofür soll das C in NYC auch sonst stehen? 

Das hat endlich auch die Stadtmarketing-Abteilung erkannt und beschlossen, die Stadt nicht mehr wie ein überdimensionales Dorf zu behandeln, sondern wie die Trendmetropole, die sie ja eigentlich ist. Nach vermutlich wochenlangen rauschhaften Kreativrunden an trostlosen Konferenztischen ist ein neuer Meilenstein des Stadtmarketings entstanden: I LOVE C. Als Hashtag im Internet und als self-empowernder „Fotopoint“ für Menschen mit Chemnitzer Minderwertigkeitskomplex und alle, die ihn noch bekommen wollen. Es stimmt nämlich überhaupt gar nicht, dass in Chemnitz alle Trends mit fünf Jahren Verspätung ankommen, manchmal sind es auch fünfzig. Was in New York also schon in den Siebzigerjahren cool war, kann für Chemnitz im Jahr 2022 auch nicht so schlecht sein. Immerhin hat die legendäre I ❤️NY-Kampagne damals aus der subversiven Subkultur-Supercity New York eine Souvenirhölle gemacht, deren Touristen-Nap-Fegefeuer auch heute noch weit in andere Welt-Metropolen hineinstrahlt. Jetzt hat es auch Chemnitz erreicht, und bald werden Menschen auf der ganzen Welt aus Chemnitz-Tassen trinken, eine Serie namens „Sachsen in the City“ feiern und Stoffbeutel, T-Shirts oder Tattoos mit „I Love C“ drauf tragen und niemand wird wissen, wofür genau das C eigentlich steht. Das C steht natürlich für Cringe, aber es könnte auch für Crimmitschau stehen oder für Cottbus oder für Christus. Oder für Corona – dieser „Fotopoint“ ist ein Faustschlag ins Gesicht aller pandemieleugnenden Aluwut-Träger:innen. Oder es steht für das C in ICE oder für cool, denn das ist Chemnitz neuerdings, oder für Cultur oder für Credibility, für Cock und für Cunt, das C schließt niemanden aus. In der Drogensprache steht es ziemlich eindeutig für Crystal Meth (manchmal auch für Kokain, aber eher nicht in Chemnitz), und man kann es durchaus als ein formvollendetes Meisterwerk der Realsatire bezeichnen, dass sich ausgerechnet die Europa-Methropole Chemnitz einen amphetaminleuchtenden „I LOVE C“-Aufsteller in die Innenstadt pflanzt, vor dem Menschen nun selbstbewusste Selfies machen sollen. 

Weil Chemnitz neuerdings wie New York und nicht mehr wie das New Yorck Center ist, hat die Stadt das glühende Selbst-Bekenntnis vor eine weitere neue, allerdings nur temporäre Touristenattraktion gestellt: Eine Eisbahn, wie es sie auch vorm Rockefeller Center oder im Central Park gibt, nur dass hier im Hintergrund keine weltstädtischen Wolkenkratzer glitzern, sondern nur provinzielle Trillerpfeifen schrillen, wenn mal wieder der örtliche Bauernaufstand der Querdenker vorbeimarschiert. Die „Chemnitzer Eiszauber“ war zwar gar nicht aus echtem Eis, sondern aus den alten Stasi-Akten von Ingo Steuer gemacht, bot dafür aber ein Wintervergnügen, für das manche extra bis nach Ischgl fahren, um dort die beschaulichen Berge zum Ballermann zu machen. Es gab Glühwein, Eierlikör und eine Discokugel für den endlosen Après-Glace-Gaudi, ökologisch korrekte VIP-Hüttenkugeln für die Schönauer Schickeria, Kaiserschmarrn und Schweizer Käse und trotzdem noch Wiener für 2,50 Euro, die Menschen trugen Tiroler Hut zum CFC-Schal, man traf illustre Prominenz wie das CSg-Maskottchen, der Weißwein glitzerte in der Sonne, kurz: Das Leben war gut auf diesem lieblos umgitterten Fleck Marktpflaster. Nur wenige Meter weiter, wo der Eiszauber längst im Betonalltag verflogen war, konnte man versprengte Freie Sachsen-Fans bei Lobgesängen auf Sahra Wagenknecht belauschen, während der Straßenmusiker nebenan ein inbrünstiges „Hallelujah“ geigte. So ist das eben in Chemnitz.

Die Eisbahn wurde zwar mittlerweile abgebaut und die zart keimende Februar-Hoffnung ist im dystopisch grauen März-Schmerz verpufft, die Chemnitzer New York-Ambitionen sind aber geblieben: Demnächst soll hier ein Snipes-Store eröffnen und ein Laden für Barfuß-Schuhe, ab Juni gibt es eine IC-Anbindung nach Berlin (und weiter nach Warnemünde), betrieben von der Deutschen Bahn – Chemnitz ist auf dem Weg zur absoluten Weltstadt.  Uns geht das alles viel zu schnell. Wir kommen noch nicht damit klar, dass nach nur 16 Jahren ohne Fernbahnanbindung bald wieder ein richtiger Intercity in Chemnitz halten soll und wir verkraften auch nicht, dass Miko Runkel bald sein Amt als Zucht- und Ordnungszorro niederlegt.  Alles, was re:marx ist, haben wir diesem Mann, haben wir diesem intercitylosen Hauptbahnhof, haben wir der sympathischen Uncoolness von Chemnitz zu verdanken. 

Urbane Panik befällt uns: Worüber sollen wir jetzt noch Witze machen? Wer nimmt uns hier noch ernsthaft die Underdog-Rolle ab, wenn Chemnitz plötzlich hip und angesagt ist? Wie wird es erst im Jahr 2025 sein, wenn Chemnitz doch jetzt schon wie New York City ist, und ab wann sollte man ernsthaft über einen Umzug in eine uncoolere Kommune nachdenken? Welche Kulturhauptverliererstadt würde sich dafür am ehesten anbieten? Kommen jetzt die ganzen großstadtgestressten Berliner:innen, die aufs Dorf ziehen wollen, und eröffnen Penis-Waffel-Läden auf der Zietenstraße? Sind wir hier bald alle belanglose Niemande, wie wir es in richtigen Städten schon seit Jahren wären?
Doch dann klicken wir uns durchs Chemnitzer Internet und sehen, dass zum Frauentag nur alte weiße Männer für die Kulturhauptstadt posieren, dass die Freien Sachsen einen bizarren Königreichstreit am Start haben, wir sehen die Fotos von OB Svenni vorm Herz, wir gehen ins Clubkino und kennen alle im Saal Anwesenden persönlich, wir atmen beruhigt auf und wissen: Chemnitz wird noch lange Windows 98 bleiben.  

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