„Heute Vormittag ging ich mal wieder kurz zu dm Drogerie Markt. Sie kennen das. Man braucht nur Zahnpasta und kauft dann noch Duschgel, Lebkuchen, Geschenkpapier, Windeln … zum Schluss ist der Wagen voll und man tritt reumütig den Weg zur Kasse an. Als ich all meine Einkäufe auf das Band gelegt hatte, entdeckte ich aus dem Augenwinkel eine neue Manomama-Tasche! Wer hier schon etwas länger mit liest, weiß ja inzwischen, dass ich jede Manomama-Taschen mit Begeisterung und aus Überzeugung kaufe.“
OK, kurze Pause. Sind den Hipsterschmierfinken von re:marx nun endgültig die Gehirne windelweich gespült und, in einer Berliner-Luft-dichten Kruste aus Duschgel und Lebkuchen versiegelt, in Geschenkpapier verpackt der Zahnpastafee auf das Motelbettkopfkissen gelegt worden? Nein, aber dazu später mehr. Der zitierte Text ist die Einleitung zu einer spektakulären Enthüllung der Bloggerin Pia Drießen, die einen „Shitstorm über dm“ (Meedia, Chip, Huffington Post) regnen ließ. Einen Tag, nach dem der Beitrag „Nicht nur eine Tasche“ auf ihrem Blog erschien, der von einer Biowaschmittelfirma gesponsert wird, hat Drießens beeindruckende Recherche ihren eigenen Hashtag, damit sich die öko-alarmbereite Landlust-Gesellschaft so schnell wie möglich gegenseitig mit einem Tweet vor der fiesen Drogeriekette warnen kann. Einen Tag später ist der #Taschengate bei Spiegel Online und der Süddeutschen angekommen, die dm-Webseite lahmgelegt und vor der neuen dm-Filiale in der Ermafa-Passage legten Menschen am Sonntag spontan Kränze nieder.
Fest steht: Wieder einmal haben die Qualitätsmedien versagt. Was Drießen nämlich aufgedeckt hat ist, dass dm seit „geraumer“ Zeit seine bunten Stofftaschen nicht mehr ausschließlich in Augsburg, sondern auch in Indien herstellen lässt. Drießen hat es „aus den Schuhen gehauen“, als sie es erfuhr. Gut, es war nicht sehr schwer, das herauszufinden, es steht nämlich auf einem postkartengroßen Pappkartonflyer, der in den Taschen liegt und den Kunden erklärt, dass ein Teil der Einnahmen an Kinder in Tirupur/Indien geht, wo sie auch genäht werden. „So sehr ich auch darauf rum denke, ich erkenne da absolut keinen Sinn oder eine Notwendigkeit hinter“, tippt Drießen entrüstet und die Gutmenschen-Netzgemeinde ist empört und die Journalisten, die wie feinfühlige Romanautoren jedes kleine Beben in der Gesellschaft schon kurz nach Emission am moralischen Kern erspüren, kartographieren die Erschütterungen, die unerklärlicher Weise mit jedem Bericht und jedem Hashtag den Shitstorm über dm noch brauner werden lassen. Gewitterwolken voller Scheiße praktisch, die da jetzt über dem dm-Headquarter grollen, wo ein Krisenstab gerade ein paar Ehrenamtliche brieft, die nach Indien delegiert werden, um dort die bald wieder arbeitslosen Kinder zu trösten oder zurück zu Kik zu schicken. (Bei sich selbst setzt Mama Miez übrigens sehr vorbildlich auf volle Transparenz. In einer Zeit, in der das Verhältnis zu den etablierten russenhassenden Medien getrübt ist, stiftet sie mit der Öffnung ihres Privatlebens für die Netzöffentlichkeit neues Vertrauen. Zum Beispiel mit minutiös geschilderten Berichten der offenbar tagelangen Geburten ihrer drei Kinder.)
Wir von re:marx sind jedenfalls angefixt. Scheiß auf diese ganzen Kulturthemen. Archäologiemuseum? Sollen eine Anzeige schalten. Irgendwelche Raves und Indie-Konzerte, Ausstellungen und dieser ganze Hipster-Swag? Zewawischundweg von den reinlichen Pforten des faktenfreien Aufregerbloggens! Ab sofort nehmen wir uns nur noch verbrauchernahe Themen zur Brust! Demnächst werden wir die Lackierung der Weihnachtsmarktbuden auf Umweltverträglichkeit prüfen, den Lackmustest am Schweinehack von Aldi vornehmen und ohne Festzuhalten Straßenbahnfahren. Bevor wir uns aber in die luftigen Höhen der besorgten Müttergemüter und „Ist-das-Bio?“-Boheme schrauben, müssen wir wegen ärgerlicher, vor langer Zeit gegebener Versprechen noch mal ins tiefe Tal der Lyrik steigen.
Lyrik, das war diese Sache mit den Gedichten, eine im Mittelalter zur Anbahnung des Geschlechtsverkehrs entwickelte Kunstform, die nur noch von wenigen Menschen praktiziert wird, auf deren Blogs Biowaschmittelfirmen niemals werben wollen würden (und wahrscheinlich auch sonst niemand). In Chemnitz fand sich vor zwei Jahren eine Selbsthilfegruppe der Lyrikliebhaber und Poeten zusammen, die mit Gesprächen das Entschwinden ihrer Leidenschaft aus dem kulturellen Äther zu verarbeiten suchten. Augenzeugenberichten zufolge arteten einige ihrer Treffen, offenbar vom Alkohol befeuert, in kultische, sektenähnliche Veranstaltungen aus, die die Lyrikliebhaber „Lesungen“ nennen. Auf der Franz-Mehring-Straße skandierten sie mit Mikrofonen und sorgten für die mehrstündige Besetzung der Bürgersteige, im Garten des Aaltra nisteten sie sich unter dem Rhododendronbusch ein und in Leipzig und Zwickau in Dachböden.
Die Aktivitäten dieser Gruppe gipfelten schließlich in dem Druck der Lyrikzeitung „Besser Als Heute Morgen“, in der sowohl radikale Jungpoeten als auch Altmeister des Lyrizismus aus mehreren europäischen Ländern sowie den USA eine Plattform geboten wird. Gegenwärtig wird nach Informationen von re:marx die zweite Ausgabe der Poet-Propaganda gedruckt. Demnach haben neben fast pornographischen Bildmaterial mehrere Preisträger des Sächsischen Literaturpreises Eingang in die Zeitung gefunden, deren Erscheinen in dem Lokal Emmas Onkel gefeiert werden soll, wahrscheinlich auch noch von moderner Musik umrahmt, mit der sich die Lyriker in den abgewetzten Mantel des Zeitgeistes zu hüllen versuchen. In Wahrheit, so sind wir überzeugt, werden sie keinen Cent damit verdienen!
(fck)