Weil wir knalligbunt hinkende Vergleiche lieben wie – knalligbunt hinkenden Vergleich hier bitte einfügen – , muss die Stadt Chemnitz ja ständig als das Irgendwas des Ostens herhalten. Egal was, Hauptsache Osten, Hauptsache eine andere Stadt, Hauptsache keine eigene Identität.
Das sächsische Manchester, das Venedig, das Texas, das Bochum, das Tschernobyl, der Osten des Ostens. Oder das Atlètico Madrid des Ostens: Hässliche, destruktive Spielart und trotzdem effektiv und irgendwie sympathisch, wegen des starken Teamgeistes. Dabei ist es doch offensichtlich, dass Chemnitz vor allem eines ist: Nicht das Paris, sondern das Paradies, das Florida des Ostens.
Zwar gibt es hier keinen Golf von Mexiko und Miami sieht irgendwie auch anders aus, aber Rentnerparadies bleibt Rentnerparadies. Im Sunshine State gibt es Counties, da ist jeder zweite Bewohner Pensionär. Das trifft gefühlt und vermutlich auch statistisch ebenso auf Chemnitz zu.
Deshalb, dachten wir uns: Schluss mit dem zielgruppengerechten Click-Bait-Scheiß, weg mit adoleszenten Catcontent, postpubertären Hipsterbuzz und pseudoironischen Paintinstallationen, die eh keiner versteht, ab heute wird bei Zehn/Kurze Fragen nur noch Eierlikör getrunken. Wir waren dort, wo die Senioren einmal im Monat die Sau raus lassen, im pensionierten Doppelherz des Rentnermekkas: Auf dem Chemnitzer Wochenmarkt. Wobei das wiederum einer Spezifizierung bedarf: Wochenmarkt ist immer, Schlüpfermarkt nur einmal im Monat, nämlich am ersten Montag. Zum Wochenmarkt gibt’s Gemüse, Fleisch, Blumen und Käsemaik, zum Schlüpfermarkt gibt’s Kittelschürzen und Käsemaik. Käsemaik – der Käsemaik des Ostens.
Der Wochenmarkt wird durchschnittlich gut besucht, der Schlüpfermarkt hat mehr Besucher als Kosmonaut und Fiesta zusammen: Vergesst „Das Frühlingsfest der Volksmusik“ und alles, was Florian Silbereisner jemals gemacht hat – der Chemnitzer Schlüpfermarkt ist der Spring Break unter den Rentnerveranstaltungen, die Mittelmeerkreuzworträtselfahrt unter den Textilmärkten, das Burning Man für Senioren. Einmal im Monat zieht der Irrsinn in die Stadt. Dann wird aus dem geistigen Texas eine geile Textil-Wüste, in der sich alte Hasen junge Schlüpfer angeln.
Und wir waren mittendrin.
Anfang Mai, die Festivalsaison hat spürbar begonnen. Senioren aus aller Herren Dörfer strömen hinaus in die Sonnenstrahlen, um unter rosafarbenen Kirschblüten höchstunnütze Haushaltswaren zu Tiefstpreisen zu ergattern und in den „unzähligen kleinen Cafès“ (CWE 2016) am Markt zu sitzen und die beigen Jacken zu bräunen. Die Rollatoren rauschen, die Vögel singen in den Bäumen, das Glockenspiel des Rathauses läutet eine Heimatmelodie: Kastelruther Spatzen, „Atlantis der Berge“. Des Ostens.
Es ist ein bisschen wie Woodstock, nur am Gehstock. Und ohne Musik, aber um die geht’s ja bei Festivals eigentlich auch nur noch am Rande des Wahnsinns. Es geht um das soziale Event, und um’s Saufen natürlich, und ähnlich ist es auch beim Schlüpfermarkt, nur mit Kaufen statt Saufen und mit Beta-Blockern statt MDMA.
Jedes Teil nur 50 Cent, versprechen die Schilder.
Kaufe 3 zahle 1.
Zwei paar Schuhe für 5.
Aktuelle Mode, hier.
Man zahlt ausschließlich in Scheinen.
Die Händler werben um die Wette, schreien ihre Angebote in die Menge, demonstrieren Kaffeemaschinen, den neuen Sensationskleister, den sensationellen Super-Scheuerhader. Das Einzige, das hier noch zum Marktglück fehlt, sind die buntgefiederten Panflöten-Playback-Indianer, aber die bereiten sich womöglich schon auf ihren Auftritt als Geheimer Headliner beim Kosmonaut vor. Unter gelben Schirmen und rot-weiß-gestreiften Markisen tümmeln sie Senioren wie Surferboys am Miami-Beach. Und mittendrin steht Käsemaik, und davor eine größere Menschentraube als beim Flunky-Ball.
Die Zustände am Gardinenwühltisch erinnern an eine neu-eröffnete Primarkfiliale, die gerade von viertausend vierzehnjährigen Vloggern überrannt wurde: Massenhaft billiger Stoff aus Bangladesh, auf den sich alle stürzen und dabei bewusst ausblenden, unter welchen Bedingungen er eigentlich zusammengenäht wurde. Und von wem.
Der Rosenhof hat die Mandelblüte seines Lebens längst hinter sich. Jetzt ist er – wie Neu- und Altmarkt auch – zugepflastert mit Ständen. Stände mit Schuhen, Stände mit Schlüpfern, Stände mit Schlager-CDs, Stände mit Schürzen – Gedrängel an den Sonderposten wie sonst nur in der ersten Reihe bei Casper. Hoffentlich wird keiner ohnmächtig, denkt man da, wo sind die Sicherheitsleute und wo steht eigentlich das DRK?
Vor einer der in Chemnitz recht raren Apotheken hat sich tatsächlich eine Schlange gebildet. Es gibt Prozente. Erhalten Sie hier Doppelherzen zum Preis von einem. Nebenan, beim Haushaltswaren-Mann kann man die passenden Pillendosen kaufen.
„Ich war noch niemals in New York“, singt Udo Jürgens sentimental vom Band, „dafür wohne ich gleich neben dem New Yorck Center“, mag sich so mancher beim Schuhe-Anprobieren denken. Am Time Square des Ostens. Aber dessen Angebot ist ein Erdogan-Witz im Vergleich zu dem, was es hier zu kaufen gibt. „Acht Euro, wenn’s Ihnen gefällt“, sagt einer der ambitionierten Händler zu einer Dame, die sich gemeinsam mit ihrem Mann Plastik-Uhren anschaut. Es gefällt ihr.
Der Marktplatz ist das Wartezimmer des Sommers: Wie Hippies um’s Lagerfeuer versammeln sich die Senioren um den Stützstrumpfstand, philosophieren bei Schlagermusik. Über Nachbarn, „die nicht mal mehr grießen“, über Rückenprobleme, die sie am Kegeln verhindern. Über die aktuelle Festivalmode und über die Prozente in der Apotheke.
Vor dem Alter haben alle Angst. Sie fürchten contiloch-tiefe Falten und eine Mode, so grau wie Chemnitzer Beton. Sie lassen sich das Gesicht straffen, praktizieren Nordic Walking und nehmen sich junge Liebhaber. Wir sagen: Hört endlich auf damit! Denn nirgendwo lässt es sich besser und geselliger alt bleiben als in Chemnitz, im Florida des Ostens.