Homeland. Die Kleingeister, die ich rief.
Homeland. Die Kleingeister, die ich rief.

Homeland. Die Kleingeister, die ich rief.

Menschen mögen wir ja nicht so. Aber die Zufluchten, die sie sich geschaffen haben. Die Orte, in denen ihre Häuser, Autos, Gärten, ihre Namen im Telefonbuch und ihre Lebensgeschichten geschrieben stehen stehen. „Heeme“ sagt der Mittelsachse, „Hood“ der Möchtegern-Gangster. „Heimat“ singt der Volksmusikstar – und die wollen Nazis, Jammerossis und andere Rechtskonservative nun dringlichst beschützen, bevor der Halbmond am schwarzrotgoldenen Herbsthimmel aufgeht. Obwohl niemand weiß, was und wo genau Heimat eigentlich ist, weshalb alle ständig Fragen danach stellen und Antworten darauf suchen:
Heimat ist, wo das Sommermärchen fast wahr war.
Heimat ist, wo die Wurst am besten schmeckt.
Heimat ist, wo mein Auto so umweltfreundlich ist wie ein ganzes Braunkohlekraftwerk.
Oder vielleicht so:
Heimat ist, wo der Gartenzwerg im Rosenbeet verblasst.
Heimat ist, wo die Deutschlandfahne im Wind flattert.
Heimat ist, wo das Herz ist.
Heimat ist, wo die anderen nicht sind.

IMG_9090Heimat ist, wo man den Unterkiefer beim Reden aushängt.
Das ist nämlich herrlich bequem: Den Kiefer beim Sprechen ganz weit fallen, sich einfach mal gehen lassen. Klingt dann zwar so, wie ein Kackehaufen im Dreck aussieht, aber dafür lieben sie uns doch schließlich, uns Sachsen. Ähnlich einfach und bequem wie die gemütliche Unterkiefer-Meditation ist das Denken in fremdenfeindlichen Mustern.
Das kleine Taschen-Weltbild zum Selberbauen: Das kann jeder, ganz ohne Anstrengung der grauen Zellen im Kopf. Um den Tellerrand zu erreichen, über den genauso jeder gucken könnte, müsste man den Geist ja erst so umständlich bemühen wie den Unterkiefer beim Hochdeutsch-Sprechen. Das geistige Aushängen des Verstands ist das neue negative Aushängeschild für Sachsen.
In die kollektive Stirn der Bürger, die so gerne das Volk wären, gräbt sich stattdessen eine Sorgenfalte, tief wie der San-Andreas-Graben. Eine Furche der Furcht: Wir schaffen das nicht, wir wehren uns lieber. Bis das große Beben kommt. Auch wenn es vielleicht gar nicht kommt – unsere Sicherheit ist trotzdem bedroht, rein prophylaktisch, unser Wohlfühlen, unser Wohlstand, unser Selbstverständnis, unser Geld. Unsere Heimat.

Aber Heimat ist, wo die anderen jetzt auch sind.

In Chemnitz zum Beispiel. Wo immer mehr der hetzenden Heimatschützer blockieren, monieren, demonstrieren. Anfang September hatten wir deren Wirken in Chemnitz mit Blick auf Freital und Heidenau zwar noch naiv negiert, aber nicht gänzlich ausgeschlossen. Doch weil wir nicht immer nur mit dem Lanzfinger auf andere zeigen wollen, folgt nun Teil zwei unserer kleinen hyperregionalen Heimatkunde: Chemnitz – Homeland.
Wie immer zur Differenzierung: Das Engagement für Flüchtlinge ist in Chemnitz größer als die Angst vor dem Fremden. Glauben wir. Aber auch wir haben Angst: Vor den Wutbürgern, den Nazis und vor den Menschen, die sich als ganz normale Bürger mit ganz normalen Sorgen empfinden und trotzdem kein Problem damit haben, in Dresden oder Erfurt oder [Protest-Nest deiner Wahl hier einfügen] „friedlich“ neben gewaltbereiten Glatzen zu marschieren.

Ebersdorf: „Für Freiheit, Heimat, Zukunft.“

Etwas abschüssig der provinzübergreifenden Bundesstraße B169, die von einem Hinterland ins andere, also vom Vogtland nach Cottbus führt,  liegt zwischen Ebers- und Hilbersdorf der Adalbert-Stifter-Weg und wirft die Frage auf: Wer war eigentlich Adalbert Stifter? (Ein böhmisch-österreichischer Lyriker und Schriftsteller, Biedermeier). Biedermeier ist am Stifter-Weg die vorherrschende Epoche: Einfamilien- und bunte Reihenhäuser, reihenweise Ruhe. Die kleine Straße wird umrahmt von großen Bäumen, die Äste halb kargschwarz kahl, halb herbstrotgoldenen belaubt. Deutschlandfahnen hängen mit gesenktem Haupt im Garten.

IMG_9104Am Ende eine Sackgasse: Eine Kleingartenidylle mit einmaligem Ausblick auf Chemnitz‘ prächtigsten Multikolor-Schornstein. Gegenüber der Gärten ist der Ausblick von einem grünen Gitter verhangen und mit Stacheldraht gespickt: Die Erstaufnahmeeinrichtung, Außenstelle des BAMF, das sich im ganzen Wohngebiet schon auf weißen Informationstafeln angekündigt hat.
IMG_9089Immer wieder rollen hier Busse rein und raus, rollen voll besetzt an, aus Bayern, rollen mit leeren Sitzen weg, nach Bayern. Hier laden sie die Menschen ab, die dann so verloren dastehen wie eine unerwartete und sehr fragile Warenlieferung, die gerade keiner schnell und achtsam genug einräumen kann. Morgens halb zehn in Chemnitz, Ende Oktober:  Männer und Kinder kauern auf dem frostkalten Fußboden und warten auf ihre Aufnahme, das Zeltlager steht immer noch. Andere werden unauffällig in Großraumtaxis abtransportiert, die Polizei kriecht hinterher. Ein Ort zwischen täglicher Routine und Ausnahmezustand.

IMG_9093Trotzdem ist die Gegend sehr ruhig, und trotzdem sind manche Anwohner sehr beunruhigt. Vor zwei Jahren kam es hier zu einer Auseinandersetzung zwischen Nordafrikanern und Tschetschenen, weshalb ein Teil der Asylbewerber aus der überfüllten Erstaufnahmeeinrichtung nach Schneeberg verlegt wurde, was die Schneeberger zu ihren finsteren Lichtelläufen inspirierte. Gefühlt hat da auch der ganze andere braune Sachsensumpf seinen Lauf genommen.

Ebersdorf: 6631 Einwohner, eigene Homepage, die mit Raus-Aufs-Land-Folklore („Herzlich Willkommen im Chemnitzer Stadtteil mit dörflichen Charakter“) lockt und verlassene Bushaltestellen öffentlich an den „Ebersdorfer Pranger“ stellt.
Die fruchtbaren Angstklima-Bedingungen machten den Stadtteil zum natürlichen Lebensraum der Bürgerbewegung Pro Chemnitz, die den Geruch von Angst in der Luft witterte wie ein nervöses Reh und spärlich besuchte Kundgebungen (Von 6000 Einwohnern waren selten mehr als 200 besorgt) sowie eine Bürgerwehr angesetzt hatte, die nun furchtlos vor der Erstaufnahmeeinrichtung patrouilliert.

Auf der Facebook-Seite „Sicherheit in Chemnitz – Wir für Ebersdorf“, die mehr Likes als Re:marx hat, was ein Skandal ist, appellieren sie an die tiefsten innersten Ängste des Deutschen. Sein Heiligstes ist bedroht:

Ende Oktober beschädigten betrunkene Asylbewerber 10 Autos in Hilbersdorf. Es ist ein neuerlicher „Höhepunkt“ der Kriminalitätsserie von Bewohnern der Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber. Wessen Auto wird das nächste sein?“
Dagegen haben sich einige Anwohner mit abschreckenden Zaun-Schildern bewaffnet: Wir rufen hier nicht die Polizei! Videoüberwacht! Hier wache ich! Bissiger Hund!

IMG_9094Pro Chemnitz, die Bürgerinitiative, die einst mit dem „Freibäder statt Gunzehauser“ Slogan  für allgemeine Erheiterung sorgte und derzeit drei Stadtrat-Mitglieder zu viel stellt, ist gegen vieles: Gegen die Erstaufnahmeeinrichtung, gegen das Gunzenhauser, gegen zuviel Geld für das Theater. Gegen Chemnitz als „Hochburg für Linksextremisten“ (ausgehend von Kompott und AJZ) und gegen das innerstädtische Alkoholverbot (Nun gut, irgendeinen gemeinsamen Nenner gibt es wohl immer). Der Vorsitzende der dreiköpfigen Fraktion, Martin Kohlmann, Anwalt, „Fachmann für Meinungsfreiheit“, verteidigt den angeprangerten Galgenträger von Dresden. Dabei braucht es doch etwas Galgenhumor auf Demonstrationen, findet zumindest die Pro Chemnitzer Facebook-Präsenz:

„Unglaublich, wie eine sarkastische Kritik, garniert mit der falschen Schreibweise des Namens von „Hilfsschüler“ Gabriel derart hohe Wellen schlägt. Galgen, Särge, Guillotinen – als Meinungsäußerung auf Demonstrationen aller Art sind nicht gerade selten, jüngst fast gleichzeitig beim Anti-TTIP-Protest in Berlin. Aber bei PEGIDA ist es plötzlich ganz schlimm… Unser Fraktionschef Martin Kohlmann als Fachmann für Meinungsfreiheit vertritt den mutigen Bürger als Anwalt.“

Misstrauisch wie die Anwohner bewegen wir uns entlang des Adalbert-Stifter-Wegs und schüren Argwohn gegen Spaziergänger in Ebersdorf wie Spaziergänger in Dresden gegen Migranten. Hinter jedem friedlichen Fußgänger könnte ein mit Funktionskleidung getarnter Bürgerwehrler stecken: Der Mann mit Nordic-Walking-Stöcken, der unverständlich in unsere Richtung brabbelt, während er straff am Heim vorbeimarschiert. Der in dezentes Schwarz gehüllte Spaziergänger mit dem familienfreundlichen Hund und dem strengen Schritt.  Oder der..ach nee, viel mehr Menschen sind uns gar nicht begegnet. Kurzum: Paradiesische Stille in Ebersdorf. Ein heimeliger Herbsttraum im Vergleich zu dem, was danach kommen sollte:

Angst und Schrecken in Einsiedel.

 

Auch Häuser haben Persönlichkeitsrechte, das wussten wir bisher nicht. Gleich werden wir es aber erfahren, denn jemand hat ein Argus-Auge auf uns geworfen. Dabei haben wir recht unbedarft und ohne zwingende Hintergedanken ein Haus fotografiert, in dem zufällig eine argwöhnische Sicherheitsfirma ansässig ist.
Hinter vergitterten Fenstern, hinter denen sie sich hier vielleicht selbst einsperren müssen, um für die Sicherheit der anderen zu sorgen, lauern im Argwohn verborgen die Argus-Augen. Dann stürmt der dazugehörige Mann auf die Straße: Verzicht auf Haupthaar, apricotfarben-kariertes Hemd, metallbeschlagene  Sicherheitsschuhe.

 

„Was machen Sie hier?
Das geht so nicht.
Da hätten Sie vorher fragen müssen.
Das verstößt gegen das Persönlichkeitsrecht.“
„Aber das ist ein Haus im öffentlichen Raum, wir haben keine Personen fotografiert.“
Nein, das geht nicht.
(unsoweiter)

Ich kann auch meine Freunde rufen.“
(Oh Gott, bulilge Glatzen in Bomberjacken?)
„Welche Freunde?“
„Die in Blau-Weiß.“

Er bekommt freundlich-bestimmte Unterstützung von der vermutlichen Ehefrau, die ebenfalls hinter der Gittergardine klebte.
Wir wollen, dass Sie das löschen.
Über uns wurden Sachen geschrieben.
Weg mit den Bildern, sonst Polizei.“

Das wäre interessant geworden, aber wir haben keine Zeit für Polizei. Oder für eine Verfolgungsjagd wegen einem Foto von einem Haus. Also Kollaborateur spielen, Verständnis und so, mit den Händen lässig in der Parka-Tasche – ein fataler Fehlgriff, ein Stich ins Lügenpresse-Wespennest.

„Haben Sie denn schlechte Erfahrungen gemacht?“
„Sie schneiden das mit, ja!? Ich sehs doch, Sie schneiden das mit!“
(WTF!?)
sagt die Frau, von schwerer Paranoia geplagt, als der Mann gerade ansetzt uns sein Herz auszuschütten.
Oh ja, das kann man so sagen…“
Die schneiden mit, rede nicht mit denen!
Ich geh jetzt. (Sie ab)
Auf Wiedersehen.“ (Er hinterher)

 

Das ist also Einsiedel, 3600 Einwohner, „die Perle des Zwönitztals“. Wo bereits unschuldig in der Jacken-Tasche vergrabene Hände Panik auslösen. Hinter jeder Gardine glimmen hier ängstliche Argusaugen, vermuten wir, und an jeder Ecke hängen die Plakate:

!Nein!
Es ist nicht die Aufgabe der Deutschen, Deutschland aufzugeben.
Wir müssen unsere Kinder schützen.
Wer schützt uns?
Wer wird das verantworten?
Sei dankbar, kein Flüchtling zu sein!

(Ein Spruch passt nicht in diese Reihe. Wer es errät gewinnt eine Deutschlandfahne. Antworten bitte an: party-pop-poesie@remarx.eu)

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Mit Eintritt in die Einsiedler Atmosphäre ist aus dem schönen Herbstmorgen grauer Nebel geworden, die Luft hängt trüb über dem Wald, was kein Zufall sein kann. Das Wetter ist wie die Stimmung im Ort: Dicke Luft. Eine schwarze Wolke der Angst hat sich festgesetzt, die Anspannung steht in der Luft, man kann sie fast riechen, das L steht für Gefahr. Im Vergleich zu Einsiedel wirkt selbst die freundliche Elbestadt Heidenau so harmlos wie ein weltoffenes Urlaubsparadies. Vielleicht feiern sie auch nur Halloween, die leidenschaftlichen Kleingeister, hier in Creepy Hollow.

IMG_9133Es kann jederzeit passieren. In Einsiedel fühlt man sich als wäre „es“ der spontane Ausbruch eines Bürgerkrieges oder ein Erdbeben der Stärke 8,8 im Erzgebirge oder eine andere Katastrophe eurer Wahl. „Es“ meint aber nur die viel gefürchtete Ankunft von etwa 500 Flüchtlingen, die in dem ehemaligen DDR-Pionierlager mit dem klangvollen italienischen Name am Rande des Einsiedler Waldes und ganz in der Nähe der „Waldklause“ (da wo der Wirt schon vorsichtshalber die Fenster vergittert hat) untergebracht werden sollen.

IMG_9129Um das zu verhindern, haben einige der Einsiedler, die seit Oktober Mittwochs immer schweigend marschieren, eine Art Mahnwache („Infostand“) am Fuße des Berges errichtet, der zum Pionierlager führt. Gitter überall, auch um den Verstand herum. Da stehen sie also, am Tag und vermutlich auch in der Nacht, anstatt zu arbeiten, weil „es“ jederzeit passieren könnte – die Busse, die Flüchtlinge, die Bedrohung. Die Veränderung.

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Panorama vom Einsiedler Infostand – der wurde wenig später untersagt und steht nun auf einem Privatgrundstück

Dann werden sie da sein, um den Berg zu blockieren. Wenn Waffenbesitz in Deutschland legal wäre, lägen bestimmt einige unter den federweichen Einsiedler Kopfkissen. So bleibt nur der Beitritt in den Schützenverein.

IMG_9136Das alte Pionierlager, das man unter anderem wegen Brandschutz-Untauglichkeit gerne ausgemustert hätte, liegt 430 Höhenmeter über dem Meeresspiegel, ist aber gut ohne Sauerstoffmaske zu erreichen und ein Paradebeispiel für ästhetisch ansprechende sozialistische Architektur. Die Vorbereitungen laufen, Polizeibeamte, Sanitäter und Sicherheitspersonal sind am Werk, letztere wohl auch, damit es hier keinen Waldbrand gibt. Ein Altherrenverband spaziert im Zweiergrüppchen vor uns, kombiniert zielgruppengerecht Hell- mit Mittelbeige und Brauntöne, betrachtet wohlwollend das Pionierlager der vergangenen Erinnerungen.  Da sagt der kleinere und agilere der beiden zu uns:

„Wer schreibt, der bleibt“, kenn Sie den Spruch?“.
„Nie gehört, was heißt das denn?“
„Na, wer schreibt, der bleibt eben“
Lachen bei den Alten, Verwunderung bei der Jugend.
„Das ist das wichtigste: wer schreibt, der bleibt.“
„Hat man das zu DDR-Zeiten so gesagt?“
„Zu DDR-Zeiten? Haha! Der Spruch ist sogar noch älter als wir beide zusammen!“
Lachen bei allen Generationen.

IMG_9139Es folgt eine kleine Heimatkunde vom Pionierlager: Wie gut es ausgestattet war, wie schön es hier im Sommer gewesen sei, wo man durch den Wald bis zum „Goldenen Hahn“ wandern kann (ein generationsübergreifender Rouladen-Hotspot), dass es Tennisplätze gab und ein Schwimmbecken und überhaupt alles, wie gut es die Jugend hier hatte, und das für umsonst, das gebe es heute nicht mehr.

„Aber ich bin ja nur ein einzelner Bürger.“
Kopfschüttelndes Lachen.
„Letzte Woche war hier eine Demonstration, an der ich vorbeigelaufen bin. Plötzlich rufen die: Achtung! Ein einzelner Bürger! Ein einzelner Bürger!
Da bin ich zur Polizei gegangen und habe gefragt: Bin ich das?“
Fragender Finger an die Brust.
„Da haben sie genickt: Ja!“
Lachen über Lächerlichkeiten.

Wir entfernen uns von dem erhellenden Gespann.
„Schöner können die es hier gar nicht haben“, sagt da der Begleiter vom einzelnen Bürger zum einzelnen Bürger.
„Und diese Ruhe“, sagt der einzelne Bürger.
„Da können sie sich gut erholen von den ganzen Kriegswirren“, sagt der Begleiter vom einzelnen Bürger.
Zum einzelnen Bürger.

 

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Straight outta Heckert. (Markersdorf, Helbersdorf, Kappel)

Balkone, Balkone, Balkone. Balkone sind der Kleingarten des Plattenbaugebiets. Inseln der Luftzufuhr. Wo das Neubaugebiet sein Innerstes nach Außen kehrt, die Wohnzimmereinrichtung sommertauglich zur Schau stellt. Markisen, zugeklappte Sonnenschirme, Blumenrabatte, Vogelkäfige, Hängeplanzen, Seemansgarn, Plastikblumen, Lichterketten, hier die mit Kitsch gefüllte Außenvitrine, dort die Imitation einer Hafenkneipe, samt Getränkekarte.

IMG_9180Im fortgeschrittenen Herbst, in der kühlen Luft und der kalten Fassade der Hochhäuser, versprühen die Relikte des längst geschiedenen Sommers derart viel Tristesse, dass man sich fühlt wie der suizidgefährdete Darsteller eines Joy-Division-Videos.

Walk in Silence,
don’t walk awahahahahay in silence.
See the danger, always danger.
Endless talking. Life rebuilding.
Don’t walk away.

Nein, wir laufen nicht weg, aber durch Markersdorf, vorbei an der Turnhalle, in der im Oktober kurzfristig Flüchtlingsfamilien untergebracht wurden, was zu einer beschämenden Krawall-Nacht führte, und an deren Zaun sich das „Volk“ der Dichter und Denker schon poetisch verewigt hat.

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Die Kirche der Dietrich-Bonhoeffer-Gemeinde (DAS ist eine Kirche?) , ganz in joy-division-plattengrauen Beton gehalten, hatte sich der verstörten Flüchtlinge angenommen, woraufhin Steine in die Fenster flogen und Menschen verletzt wurden.

See the danger, always danger.

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IMG_9182Paar Platten weiter, im Tal zwischen den hohen Blöcken, wo Deutschlandfahnen die Fenster verdunkeln, der Krankenwagen und die Polizei gerade einen Einsatz in der Realschule haben, die Menschen den Unterkiefer beim Sprechen ganz weit aushängen und das Rollatoren-Aufkommen so hoch wie nirgendwo ist, befindet sich der Laden des Rechtsrock-Labels PC-Records.
IMG_9197Direkt gegenüber der pulsierenden Einkaufsmeile, die selbst für ein Joy-Division-Video zu traurig wäre: Die Geschäfte ganz unten in in der Platte, ein kleiner Treppenaufgang, ein Friseur, ein Reisebüro, ein Bäcker, Elektrowaren, keine Kundschaft.

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Gegenüber, mitten auf der Wiese und mit Blick auf einen leeren Kinderspielplatz und bunte Wäsche, die einsam an der Leine gefriert, steht fensterlos und finster ein Geschäft namens „Backstreetnoise“. Das Logo verzichtet auf Runen, sieht ein bisschen nach Subkultur für Arme aus und wirkt wie ein lautes Bälleparadies für Ghetto-Kids.

IMG_9200IMG_9198Das Label wurde 2000 von Henrik Lasch gegründet, zwischenzeitlich geführt von Yves Rahmel. Heute steht ein Mann namens S. Geburtig als Geschäftsführer im Impressum. PC-Records gehört zu den aktivsten Rechtsrock-Labels des Landes und besitzt eine Art Dauerkarte für einen Platz auf dem Index.
IMG_9201Auf der Markersdorfer Straße  – wo im Oktober Steine gegen Flüchtlinge flogen – hatte Rahmel übrigens einen Gasthof gekauft, um ein Schulungszentrum für Nazis und solche, die es noch werden wollen zu eröffnen – ein „nationales Bildungszentrum“. Und dass, obwohl sich Nazi-Sein und Bildung bekanntermaßen oft ausschließen, was ja eine der multikausalen Ursachen für das Nazi-Sein an sich ist. Die Ideologie der NPD jedenfalls scheint auf einigen der Heckert-Balkone prächtige braune Blüten getrieben zu haben.
IMG_9210Im Kappel-Teil vom Heckert steht das Wohnhotel Kappel, das ist ein Hotel zum Wohnen, etwas, das total einzigartig und bedrückend hässlich ist: Ein Stern bei TripAdvisor.  Als wir noch Erstsemester waren, also vor zwanzig Semestern, wurden hier notdürftig die Studenten untergebracht, die keinen Platz in den überfüllten Wohnheimen gefunden hatten, und darüber hat sich damals vermutlich keiner aufgeregt, außer die betroffenen Studenten natürlich, denn das Wohnhotel Kappel ist einer der trostlosesten Orte in ganz Chemnitz.

IMG_9215Jetzt leben hier Asylbewerber in fast schon schmerzhafter Tristesse, jetzt demonstriert hier Pro Chemnitz. Im August hatte sich im OdF jemand an einem siebenjährigen Mädchen vergriffen, „nordafrikanischer Typ“. Im Wohnhotel Kappel wurde daraufhin ein Tunesier festgenommen, der später wieder frei kam, aber die Meldung geisterte schon durch alle lokalen Medien, die teilweise auf Richtline 12.1 des Pressekodex verzichteten, und im Netz ergoss sich rassistische Hetze, die ihres gleichen suchte. Im Wohnhotel Kappel kam es immer wieder zu Messerstechereien, Bränden und anderen Auseinandersetzungen – der Brennpunkt im Brennpunkt. Und damit eine perfekte Wohnstube, in die sich Pro Chemnitz einnistete, um hier ihre spezielle Sicherheitspolitik  zu installieren.

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Sportforum frei!

Auch auf dem Gelände des Sporforums, also dort wo der CFC nicht spielt, sind derzeit und voraussichtlich bis Winter 2016 unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge im Alter von 16 bis 18 Jahren untergebracht – direkt gegenüber des Sportinternats. Eltern in Aufruhr: Teenager und Teenager, kann das gut gehen? Wohl kaum! Niemand weiß, was alles passieren kann, wenn Minderjährige auf noch Minderjährigere treffen – deshalb drohen einige empörte Eltern nun damit, ihre Töchter vom Internat zu nehmen. Neben der Sicherheit der Sportlerinnen ist es vor allem eine große Chemnitzer Sorge, die sie umtreibt, und zwar wie die Stadtverwaltung sicherstellen will, dass die Nachtruhe im Internat eingehalten wird, wenn nebenan bis zu 100 junge Flüchtlinge leben.

Gerüchten zufolge soll es sogar junge Flüchtlinge geben, die nachts auch schlafen. An der Uni kann das nicht der Fall sein, mitten im studentischen Partyleben sind sie hier untergebracht, und da vielleicht sogar am besten, denn hier herrscht noch weitesgehend Leben, Hilfsbereitschaft und Toleranz. An der Turnhalle am Thüringer Weg und im ehemaligen Wohnheim – wo man recht gut mit den Menschen in Kontakt kommen und sich vor allem mal ein Bild von der unwürdigen Situation in den Notunterkünften machen kann. Vor einiger Zeit waren wir mal in der Turnhalle, die wir für Sport nie betreten hätten, und sind mit einem älteren DRK-Mitarbeiter ins Gespräch gekommen. Er erzählte unter anderem, wie sich etliche Busfahrer weigerten, die Menschen von Bayern nach Chemnitz zu fahren, und er selbst Hand ans Steuer legen musste. „Die Sachsen“, sagte er, fast aufgewühlt, „haben einfach kein Mitgefühl.“

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