Chemnitz war bisher immer eine Stadt, die gerne zurückschaut, die mit wehleidig wimmernder Sachsen-Stimme von früher erzählt, die sich verzweifelt an eine Vergangenheit klammert, in der die Stadt noch groß und glorreich war. Dabei scheint sie ganz zu vergessen, dass es ja auch noch eine Zukunft gibt, in der sie wieder groß und glorreich, naja zumindest groß, sein könnte. Doch seitdem Chemnitz werdende Kulturhauptstadt ist, ist auch das neumodische Konzept „Zukunft“ in der Stadt angekommen, und man denkt nicht mehr nur darüber nach, was früher alles besser war, sondern plötzlich auch darüber, was übermorgen alles beschissen sein könnte. Wir sind auf den Mega-Trend der Zukunftsprognose aufgesprungen und haben weeeiiit nach vorne geblickt, auch wenn die Aussicht nicht ganz bis zum ICE gereicht hat: Was wird in zehn Jahren in den Reiseführern über Chemnitz stehen, wie wird die Kulturhauptstadt die Stadt verändern und kommt nach 2025 die große Depression? Wir haben einen kleinen Travelguide für Chemnitz im Jahr 2031 geschrieben. Diese zehn Dinge wirst du in zehn Jahren in Chemnitz erlebt haben werden müssen:
1) BUNTE STADT CHEMNITZ
Von der Nachwendezeit bis in die frühen Zwanzigerjahre galt Chemnitz als eine Stadt, in der die depressivsten Schattierungen der Farbe Grau von den Betonfassaden direkt in die Seelen der Einwohner:innen tropften. Ein trister Ort im No-Go-Lebensraum „Osten“, wo man die Lebensfreude vergeblich suchte, dafür aber gewaltbereite Nazis sowie zahn- und perspektivlose Meth-Münder fand. Doch Dank des beispiellosen Engagements einer Gruppe namens Buntmacher*Innen gehört dieses Bild längst der Vergangenheit an: Als Chemnitz am allergrausten schien, nahmen sie beherzt die Pinsel in die Hand und brachten Farbe in die Stadt. Alles fing mit der mittlerweile weltberühmten „Lego-Treppe“ an, auf der sich an Wochenenden tausende Influencerinnen für ein perfektes Chemnitz-Foto räkeln. Heute laden in Chemnitz viele regenbogen- und reichsflaggenbunte Highlights zum Verweilen ein: Die bunte aaltra-Treppe, das bunte Polizeipräsidium, das bunte Ebersdorf, den bunten Mensa-Vorplatz, die bunten Einbaumbänke, die bunten Tribünen der Südkurve im Gellertstadion, die bunte Republik Innenstadt, den bunten Turm und natürlich den bunten sprechenden Nischel solltet ihr euch unbedingt anschauen. Auch die bunte Brückenstraße, auf die mutige Chemnitzer:innen im Sommer 2023 „Demokratie“, „Toleranz“ und „Akzeptanz“ gesprüht und damit sämtliche Nazistrukturen zerschlagen und einschlägige NPD-Kader zurück nach Dortmund geschickt haben, gilt heute als beliebter Touristen-Magnet. Also nix wie hin für ein cooles neues Profilfoto mit angesagter politischer Message!
2) DIE EINZIGE STARBUCKSFREIE GROSSSTADT EUROPAS
Bis zu zwei Millionen Touristen kommen jährlich nach Chemnitz – doch einen Starbucks suchen sie hier vergeblich. Stattdessen lockt die sexy Sachsen-Stadt mit kleinen makergeführten Cafés und Kneipen, die sich vor allem um die Innere Klosterstraße herum angesiedelt haben. Im „Culturcafé Cuhabunt“ gibt es Apfelkuchen mit bunten Streuseln und man trifft sich abends ganz gemütlich bei Cultur-Lesungen oder Cultur-Conzerten. „Karlbucks“ lässt nicht nur Milchschaum-Träume wahr werden, sondern hat den mit Abstand besten Flat Grey in ganz Chemnitz. Wer eingeborene Kulturakteure unter die Theke trinken will, kann das in der „Kulturtanke“, im „Trinkkultur“ oder im „Cultur-Crux-Clan“ versuchen — oder gleich sein lassen, denn die Local Chemnitz Natives sind trinkfester als alle Engländer am Ballermann zusammen. Lust auf internationale Akteure? Dann ab ins „Kulturschock“ – in dieser Kneipe wird nur Englisch geredet, weshalb sich viele echte Chemnitzer gar nicht erst hin trauen. Das beste Bier und eine unglaublich gute fettig frittierte Langos-Haxe vom Grill findet ihr in Carls Culturcraftbierbrewery. Falls ihr euch nach einer durchzechten Chemnitz-Nacht mal etwas leer fühlen solltet, empfehlen wir ein ausgiebiges Brunch im „Total Verkarltert“. Wer einen entspannten Ort für Remote-Work oder Projekt-Pitches sucht, an dem man uneingeschränkt wichtig sein kann, wird im „Karl-Working-Space“ glücklich. Alle, die jetzt immer noch unbedingt einen Starbucks brauchen, haben Pech gehabt und müssen wohl zum Kaffee trinken ins benachbarte Leipzig fahren.
3) HISTORISCHER MARKT IN DEN GRENZEN VON 1933
Dass im Zweiten Weltkrieg große Teile der Chemnitzer Innenstadt zerstört wurden, wissen heute nur die wenigsten – die Chemnitzer:innen reden einfach nicht gerne darüber, wie schön und wichtig ihre Stadt in den Vorkriegsjahren war und welche schweren Um- und Aufbrüche Chemnitz seitdem durchmachen musste. Doch dank der beharrlichen Initiative der Architektur-Retter von „Stadtbild Chemnitz“ gelingt es der Stadt seit ein paar Jahren, sich intensiv mit ihrer nicht immer ganz einfachen Vergangenheit auseinander zu setzen. 2026 bewirkte „Stadtbild“ mit einer Unterschriftensammlung den partiellen Abriss des Chemnitzer Marktes und seinen Wiederaufbau als Freiluftmuseum in den Grenzen von 1933. Nur das Rathaus ist im Original erhalten geblieben. Heute kann man hier wieder zwischen Pflastersteinen, künstlichem Gründerzeitpomp, Fake-Fachwerk und Disneyland-Jugendstil flanieren, auf dem historischen Schlüpfermarkt stöbern oder Kutschfahrten nach Leipzig buchen. Im „Stadtbild Chemnitz Museum“ zeigt eine spannende Augmented Reality Simulation, wie es hier in den Neunziger- und Nullerjahren aussah. Auch der „Chemnitz History“ Audio-Guide mit Guido Knopp über die lange Bombennacht 1945 und Chemnitz als Wiege der Industrialisierung sowie die private Pickelhaubensammlung des Stadtbild-Gründers sind empfehlenswert.
4) STREETART-SZENE UND MURAL-MEILE AM BRÜHL
Wer den Spirit des modernen, hippen Chemnitz’ spüren will, sollte unbedingt einen Spaziergang über den Brühl machen: Alles begann mit ein paar bunten Hausfassaden, die einigen damals übrigens noch als „geschmacklose“ Hassfassaden galten. Heute zieren farbenfrohe Murals den gesamten Prachtboulevard und locken Streetart-Fans und angesagte Künstler:innen aus aller Welt in die Stadt. Die Motive reichen von kitschigen Efeuranken, sexistischen Frauen-Portraits in Airbrush über lustige Karl-Marx-Köpfe und rappende Bären bis hin zum GERMENS-Flagshipstore, der mit vielen bunten Hemden bemalt ist, und zeigen die faszinierende junge Vielfalt von Chemnitz. Der Brühl ist übrigens das erste Chemnitzer Stadtviertel, das rückgentrifiziert wurde: Vor zehn Jahren dominierten noch teure Läden, Lärmbeschwerden, exorbitante Kuchenpreise und hohe Mieten das Szene-Bild, mittlerweile reiht sich hier Späti an Späti, es gibt kleine Kunst-Galerien, Secret Bars und Keller-Clubs und Lärm bis nachts um vier, und alle, die schlafen wollen, sind zurück auf den Kaßberg oder raus nach Rabenstein gezogen.
5) ERLEBNISFÜHRUNG AUGUST 2018
Die Ereignisse vom August 2018 haben Chemnitz tief gespalten, aber leider auch berühmt gemacht. Mittlerweile kitten zwar bunte Kreidemalereien und Kulturhauptstadtaufkleber die Risse, doch die Erinnerungen an die düstere Dunkelchemnitz-Zeit sind vielen geblieben. Für alle, die damals nicht dabei sein konnten, bietet die Stadt Chemnitz regelmäßig Erlebnisführungen zum August 2018 an: Vom CFC Stadion und der Südkurve führen euch gut informierte Zeitzeugen über den Sonnenberg auf die Brückenstraße. Nach einem gemeinsamen Picknick und hitzigen Meinungsaustausch vorm Marx-Kopf sowie einem Stopp im „August 2018 Fanshop – tolle Geschenkideen für links und rechts“, geht es über die Brückenstraße weiter zum ehemaligen Parkplatz an der Johanniskirche, der heute ein Supermarkt und kaum wieder zuerkennen ist. Für besonders Sensationslustige bieten manche Führungen einen kurzen Abstecher zur JVA nach Reichenhain an.
6) WILLKOMMEN IM SENIOR VALLEY
Chemnitz gilt als bevölkerungsälteste Stadt Europas; doch statt dem demographischen Verfall mit Verjüngungskuren und künstlichen Urbanisierungsmaßnahmen entgegenzuwirken, hat sich die Stadt dafür entschieden, ihre chronische Altersschwäche zu ihrer großen Stärke zu machen. Chemnitz ist alt, aber sexy – nirgendwo kann man besser alt werden als hier, denn in Chemnitz ist 80 das neue 20. Vor zehn Jahren legte der ehemalige Oberbürgermeister Sven Schulze den ideellen Grundstein für die Transformation vom Florida des Ostens zum Silicon Valley des Alters. Heute wird Chemnitz auch Senior Valley genannt, schließlich liegt es in der Beige Area des Erzgebirges und gilt als Wiege des gerontologischen Fortschritts. Weltbekannte Start-Ops und Tech-Firmen wie App-O-Theke, E-Rollatoren, meckerspace.eu, eBeige, Rheumazone Prime, Enkeltinder oder der digitale Datingdienst Doppelherz sind hier zuhause. Einige der hochmodernen Innovationszentren, z.B. die eBeige-Zentrale, können besichtigt werden oder bieten geführte Touren an.
7) DER SONNIGE STADTSTAAT
Der Sonnenberg, einst heruntergekommenes Arbeiterviertel mit Naziproblem und Kunstkiez-Potenzial, ist heute ein eigener Stadtstaat, der sich zu Chemnitz verhält wie der Vatikan zu Rom: Sonnenberg ist der offizielle Sitz der sächsischen Kreativ-Szene, die hier in prachtlosen Bruchbuden residiert. Im Jahr 2022 entbrannte zwischen Sonnenbergakteuren und Stadtverwaltung ein Streit um Fördergelder und Kulturhauptstadts-Einfluss, der in der Stadt loderte wie eine frisch angezündete Mülltonne. Als sämtliche Friedensresolutionen im sogenannten Kuha-Konflikt scheiterten, initiierte die Kultur-Organisation „Klub Solitaer e.V.“ einen Bürgerentscheid, der 2024 zur endgültigen Abspaltung des Sonnenbergs von Chemnitz führte. Mittlerweile ist die Lage zwar entspannt, trotzdem braucht man für die Einreise ein Visum, das ihr vorab ganz einfach online beantragen könnt. Ein Abstecher lohnt sich auf jeden Fall: Der Sonnenberg hat eine eigene Währung (Chemcoins), eine eigene Lokalhymne („Sonnenberg“ von Matthias Schweighöfer) und ist ein eigenes kleines Paralleluniversum. Während sich in Chemnitz die Kultur einem kommerziell kulturhauptstadtsrentablen Kreativkapitalismus untergeordnet hat, residiert der kreative Freigeist hier ungestört in verfallenen Fassmannpalästen. Ein Bummel über die steilen Hügel von Sonn Francisco, wie der Sonnenberg auch liebevoll genannt wird, verspricht ost-urbanes Abenteuer, wie man es im Leipzig der Zehnerjahre zuletzt erleben konnte. Man weiß nie, wer oder was einem unterwegs begegnet: internationale Kunstprojekte und interessante Kulturakteure, Kachelöfen, Eckkneipen, antike Hakenkreuz-Schmierereien, gesellschaftskritische Spontan-Performances, Augmented Reality Art, KI-Kunst, AI-Anarchisten, alternde Intellektuelle in verrauchten Jazzclubs, Sterni-Sänger, Beatpoetinnen, chronisch beleidigte Komplex-Akteurinnen, Waschbären-Gangs, illegale Hinterhofraves oder der Chaos Computer Club?
8) OST-PLACES TOUR DURCH CHEMMNITZER KULTURRUINEN
Für die Austragung der europäischen Kulturhauptstadt-Spiele 2025 flossen die Steuergelder Milliarden kleiner Männer in den Bau oder die Sanierung Chemnitzer Kulturstätten. 2025 pilgerten Millionen euphorischer Europäer:innen in die Oper Chemnitz, ins Schauspielhaus, ins Cultur-Colosseum, in die Karl-Schmidt-Rottluf-Arena, in die Kunstsammlungen, ins Museum Gunzenhauser, ins smac oder ins Lokomov, um ihre Lieblings-Akteure beim Projekte-Realisieren anzufeuern. Heute ist der Kulturhauptstadt-Glanz von einst verblichen, die Erinnerung an ruhmreiche Tage ist einem rationalen Pragmatismus gewichen. Aus einigen Kulturstätten wurden Parkhäuser (Kunstsammlungen), aus anderen edle Eigentumswohnungen (Schauspielhaus) oder Shoppingmalls (Oper Chemnitz), viele liegen völlig verlassen – und bieten schaurig-schöne Fotomotive, die von Triumph und Verfall der ehemaligen Kulturhauptstadt erzählen. Eine Ost-Places-Tour zu Chemnitzer Kulturruinen, zum Beispiel im Gellertstadion, einem ehemaligen Fußballstadion auf dem Sonnenberg, solltet ihr euch auf keinen Fall entgehen lassen.
9) K(L)EIN-LEIPZIG & ZWÖNITZTOWN
Wie in keiner anderen Stadt trifft in Chemnitz solide Sachsen-Tradition auf europäisch-urbane Moderne, rechtskonservatives Provinznest auf junge, liberale Trendmetropole. Nirgendwo wird das deutlicher als in den beiden aus einer sächsischen Diaspora heraus entstandenen Stadtvierteln K(l)ein-Leipzig und Zwönitztown. Wer der innerlichen Zerrissenheit der sächsischen Seele nachspüren möchte, sollte unbedingt Abstecher in beide Viertel machen.
Als K(l)ein-Leipzig wird die historische „Bier-Brücke“ an der Markthalle bezeichnet, auf der vor allem im Sommer junge Menschen „bridgen“ (das ist das, was früher „cornern“ war), Bier trinken, kleine halblegale Raves und die Vielfalt feiern und so tun, als wäre die Chemnitz der Karl-Heine-Kanal und K(l)ein-Leipzig das Zentrum der freien Welt. Hier ist jeder willkommen.
Ganz anders hingegen Zwönitztown, das im ehemaligen Ebersdorf liegt: Hier dampfen nicht nur die authentischen erzgebirgischen Straßenküchen, in denen die Buttermilchgetzen im heißen Fett brutzeln, hier brodelt auch die Wut der rückwärtsgewandten Welt: In Zwönitztown leben Jammerossis und Nazi-Sachsen auf engsten Raum zusammen. Das Stadtviertel ist bekannt für seine Montagsspaziergänge und Bürgerwehren, für seine gelebte Vielfalt an verfassungsfeindlichen Symbolen, für tiefer gelegte Mundwinkel ohne Aussicht auf Aufhellung. Hier ist definitiv nicht jeder willkommen, und ihr solltet dieses Viertel am besten nur tagsüber und mit einer geführten Tour besichtigen.
10) MIT DEM E-PANZER ÜBER DEN KAßBERG
Nachdem in Chemnitz der Hype um Segway und E-Roller abgeklungen war und das Fahrrad an seinem linksgrün-versifften Image gescheitert ist, hing jahrelang die Frage nach einem zukunftsfähigen Mobilitäts-Modell über den dieselbenebelten Straßen der Stadt. Bis ein junges Start-Up-Unternehmen vom Sonnenberg eine Innovations-Lösung präsentierte, für die sich viele Chemnitzer:innen begeistern konnten: Selbstfahrende E-Panzer. Mit den windschnittigen Modellen von Tank-E lässt sich nicht nur klimaneutral durch die längst verwelkten Wälder des Erzgebirges heizen, man kann auch weiterhin den Macker heraushängen lassen und seine potenziellen Penis-Komplexe mühelos im Straßenverkehr kompensieren. Der autonome E-Panzer verbindet deutsche Dominanz mit hypermodernem Design und zukunftsorientierter Technologie. Die selbstfahrenden E-Panzer von Tank-E könnt ihr euch auch ganz einfach per App für eine Chemnitz-Entdeckungstour ausleihen, am Hauptbahnhof und vorm tietz stehen jeweils zwei Tank-E-Flotten. Wir empfehlen eine Spritztour durch die schmalen Altbau-Gassen des Kaßbergs – der Stadtteil gilt aufgrund seiner vielen Jugendstilschnörkel als ziemlich schwer befahrbares Geländewagengebiet und ihr könnt hier adrenalingeladene Drive-Action mit historischem Sightseeing verbinden.
Der Miet-E-Panzer kostet 5 Euro pro Person in der ersten Stunde, für jede weitere halbe Stunde zahlt ihr 2 Euro drauf.